Philip Roth, Jedermann (von Gabriele Stein)

Aus Literarische Altersbilder


Der Autor

Philip Roth wurde 1933 in Newark, New Jersey, als zweiter Sohn einer jüdischen Familie geboren. Er studierte englische Philologie, erwarb in Chicago den Master of Arts und lehrte nach seinem Militärdienst englische Literatur. Seit Ende der 50er Jahre ist Roth schriftstellerisch tätig und publiziert mit großem Erfolg Erzählungen, Essays und Romane. Er erwarb internationalen Ruhm und erlangte Spitzenplätze in den Bestsellerlisten (vor allem mit seinem Roman "Der menschliche Makel"). Sein Thema ist die amerikanische Gesellschaft. Roth zeigt sich immer wieder als scharfsinniger Beobachter menschlicher Schwächen. In nüchternem, sachlichem Stil verarbeitet er oft eigene Lebenserfahrungen. Als sein verehrter väterlicher Freund, der Schriftsteller Saul Bellow, stirbt, beginnt er "Jedermann" [1] zu schreiben (FAZ v. 14. 06. 2006).


Werke (Auswahl)

  • 1962 Goodbye, Columbus
  • 1974 Mein Leben als Mann
  • 1980 Der Ghostwriter
  • 1993 Täuschung
  • 2002 Der menschliche Makel
  • 2003 Das sterbende Tier
  • 2006 Jedermann

Inhalt

Dies ist das Buch eines modernen Jedermann, eines Jedermann unserer Zeit, eines Jedermann des 21. Jahrhunderts, für den es am Ende seines Lebens keine Hoffnung auf ein Jenseits gibt, anders als bei dem christlich geprägten Jedermann des Hugo von Hofmannsthal, der noch auf Erlösung hoffen konnte. Der Jedermann des Philip Roth hat nichts zu erwarten, nichts als eine kalte Gruft, „dieses Loch, zwei Meter tief“ (S.171).

Mit der Gruft beginnt das Buch. Auf den ersten Seiten wird das Begräbnis des Mannes geschildert, dessen Leben wir dann in Rückblenden erfahren und der mit dem letzten Satz des Buches sein Leben aushaucht (ein Kunstgriff des Autors). Der tote Jedermann bleibt nach dem Ende seiner Trauerfeier allein auf dem Friedhof und blickt noch einmal auf sein Leben zurück. Man hat das Gefühl, dass er aus dem Grab heraus spricht, während er sein Leben erzählt. Er hat sich immer nur als Durchschnittsmenschen gesehen (S. 36), vernünftig, liebenswürdig, freundlich, fleißig, fast ein Spießer. Er war erfolgreich in seinem Beruf als Werbefachmann, hat drei Ehen hinter sich, drei Kinder gezeugt und mehrere Geliebte gehabt. Er hat das Leben geliebt, insbesondere seinen kraftvollen Körper, dessen Vollkommenheit er für selbstverständlich hielt.

Aber mit den Jahren betrügt ihn sein Körper mit Krankheiten. Mit 67 Jahren und drei Bypässen muss er sich eingestehen, dass er alt ist. Das Alter jagt ihm Angst ein: „grauenhafte Angst machte sich breit“ (S. 101). “Plötzlich trieb er im Nichts, ... haltlos trieb er umher“ (S. 101). Er blickt auf sein Leben im Alter klar und ohne Beschönigung. Er sieht sich als erfolglosen Vater und doppelzüngigen Ehemann. Er ist der Familie entfremdet; von den Söhnen, die er im Kindesalter verlassen hat, wird er gehasst. Seine zweite Frau, die er liebte und mit der er hätte glücklich werden können, betrügt er so lange, bis sie ihn verlässt und er ein junges Model heiratet. Zu spät erkennt er, dass ihn nur ihr junger Körper interessiert. Er hat Beständigkeit gesucht, sie aber immer wieder verloren. Er hat Chancen gehabt, sie aber leichtsinnig verspielt.

Im Alter, allein und ohne seinen Beruf, der ihm Halt und Anerkennung gab, zieht er sich auf eine Seniorenresidenz in New Jersey zurück. Er liebt das Meer und das Schwimmen und hat nun endlich Zeit für lange Spaziergänge. Und er hat jetzt Muße zum Malen, wozu er während seiner Berufstätigkeit nicht kam. Aber er muss nach und nach erkennen, dass das Malen ihn letztlich doch nicht ausfüllt, obwohl er sehr erfolgreich einen Malunterricht anbietet. Seine ersten Werke sind ebenso erfolgreich in einer benachbarten Galerie verkauft worden. „Hatte er sich auf die Malerei gestürzt, um sich von der Erkenntnis zu befreien, dass man geboren wird, um zu leben, und statt dessen stirbt?“ (S. 101), was Elias Canetti schon vor Jahren mit seinem berühmten Ausspruch als den „Skandal in der Menschheitsgeschichte“ bezeichnete. Gedanken über Vergänglichkeit und Sterben, über seinen Tod, holen ihn ein.

Philip Roth beschreibt in seinem Roman einen Mann, dem sein Körper alles bedeutet. Wenn dieser Mann seine Biografie hätte schreiben sollen, würde sie heißen „Leben und Tod eines männlichen Körpers“ (S. 54). Man könnte seine Biografie auch anhand seiner Krankheiten erstellen: Als 9-Jähriger muss er für vier Tage wegen einer Leistenoperation ins Krankenhaus. Mit Anfang 30 überlebt er knapp einen Blinddarmdurchbruch und ab 60 häufen sich bei ihm jährlich Operationen. Mit 65 wird ihm ein Nierenstent implantiert; ein Jahr später muss er sich einer schwierigen Gefäßoperation unterziehen. Von da an muss er Jahr für Jahr ins Krankenhaus und bekommt immer neue Bypässe. Bei der letzten Operation stirbt er.


Psychisch-soziale Veränderungen im Alter

Der Autor beschreibt die (medizinische) Biografie seines namenlosen Protagonisten sehr sachlich, fast lakonisch, im Stil einer Krankenakte mit genau recherchierten medizinischen Begriffen und Details. Dieser einst kraftvolle Mann, der als Junge nichts lieber tat, als sich im Meer den Wellen entgegen zu stemmen, der als Erwachsener leichtfüßig seine Joggingrunden drehte, der stolz seinen Erfolg bei Frauen als viriler Mann genoss, ja nicht aufhörte, seinen eigenen Körper anzubeten, - dieser Mann muss sich jetzt seinem alternden Körper stellen, dem körperlichen Verfall. Und er muss mit der immer stärker werdenden Einsamkeit fertig werden. Früher war er froh über ein paar ruhige Stunden, aber „Frieden und Stille“ scheinen sich jetzt „in eine selbst erzeugte Form von Einzelhaft verwandelt zu haben“ (S. 79). Während seines ganzen Lebens hat er Kontakte nie gepflegt. Seine Beziehungen waren fast durchweg oberflächlich, seine familiären Bindungen durch drei Scheidungen zerrüttet. Heute sorgt sich einzig seine Tochter Nancy um ihn, hat aber wegen ihrer beruflichen Tätigkeit und zweier kleiner Kinder nur wenig Zeit. Da ist dann noch sein älterer Bruder, den er früher bewundert hat, und der immer präsent war, wenn er ihn brauchte. Inzwischen hasst er ihn. Das gute Verhältnis zu ihm hat er durch seinen Neid auf die robuste Gesundheit seines Bruders, der immer fit und gesund war und dem alles im Leben gelang, sowie durch die Eifersucht auf dessen stabile Lebensverhältnisse zerstört.

Jetzt im Alter, fern seiner bisherigen häuslichen Umgebung - seinen Wohnsitz in New York hat er nach den Anschlägen vom 11. September aus Angst vor Terror aufgegeben - fühlt er sich in der Anonymität der Seniorenresidenz, ganz auf sich gestellt, total einsam. Um ihn herum leben vor allem Paare, die den Kontakt nicht suchen. Als er - auch aus dem Bedürfnis nach Kontakt - einen Malkurs anbietet, stellt er fest, dass sich die Gespräche dort nur um Krankheit und Tod drehen. Das Leben in der Altersresidenz nur mit alten Menschen wird ihm zur Qual. Er kann auch die kulturellen und gesellschaftlichen Angebote in der Seniorenresidenz nicht mehr ertragen, sie langweilen ihn. Er erkennt, dass dieses Seniorendorf kein Ort des Lebens ist. Tatsächlich drehen sich die Menschen dort nur um sich selbst. Er zieht sich immer mehr zurück. In seiner Einsamkeit sieht er sich radikal mit dem Tod konfrontiert. Die Flucht vor dem Tod wird ihm zur zentralen Aufgabe.


Der Tod als Hauptdarsteller

Philip Roth hat in vielen seiner Romane immer auch vom Altern und vom Tod erzählt. In diesem Buch aber wird der Tod zum Hauptdarsteller. Von der ersten Seite an ist klar, wo all das, was noch kommt, enden wird, nämlich auf dem Friedhof. Schon früh kommt sein Protagonist mit dem Tod in Berührung. Er erlebt während eines Krankenhausaufenthalts wie ein Kind im Nachbarbett stirbt. Und als Jugendlicher muss er mit ansehen, wie die Küstenwache die aufgedunsene Leiche eines ertrunkenen Matrosen wegschafft. Seine gleichaltrigen Kollegen sterben einer nach dem anderen, zum Teil nach langem Siechtum. Besonders hart trifft ihn der Tod seiner geliebten Eltern. Der Aufschlag der Erde auf den Holzsarg seines Vaters hallt noch lange in ihm nach (S. 63). Er hatte immer das Gefühl, dass die Erde direkt auf seinen Vater falle und ihm Mund, Augen und Ohren verstopfe (S. 63). Der Tod ist für ihn eine absolute „Ungerechtigkeit“, ein Nonsens. Da er weder an einen Gott noch an das Jenseits glaubt, ist für ihn mit dem Tod alles zu Ende.

Als Kind hat er - aufgewachsen in einer gläubigen jüdischen Familie - wie seine Eltern an den messianischen Gott geglaubt. Aber mit 13 Jahren hat er aufgehört, das Judentum ernst zu nehmen, und seither keine Synagoge mehr betreten. Religion ist für ihn eine Lüge, die er schon früh im Leben durchschaut hat (S. 54). Für ihn gibt es nur den „Körper, geboren um zu leben und zu sterben nach Bedingungen, geschaffen von Körpern, die vor uns gelebt hatten und gestorben waren“ (S. 54).

Beim Besuch des Grabes seiner Eltern hält er Zwiesprache mit deren Knochen. „Die beiden waren nur noch Knochen, Knochen in einer Kiste, aber ihre Knochen waren seine Knochen und er ging so dicht wie möglich an diese Knochen heran, als könne ihn die physische Nähe mit ihnen verbinden und seine aus dem Verlust der Zukunft entstandene Isolation lindern und ihn wieder mit allem vereinen, was verloren war“ (S.161). Diese Knochen sind für ihn „das einzige, was zählte“ (S.161). Er redet mit diesen Knochen und hört ihnen zu. „Was die Knochen zu ihm sprachen, erfüllte ihn mit Zuversicht und einem Gefühl der Unverwüstlichkeit“ (S. 171). Diese Knochen sind für ihn der einzige Trost.

Beim Gang über den Friedhof trifft er den Totengräber, der ein Grab schaufelt. Er beginnt mit dem Mann ein Gespräch über dessen Arbeit. Die beiden ungleichen Männer erörtern sachlich, wie lang, wie breit und wie tief ein Grab für einen ausgewachsenen Mann wie ihn sein muss. Der Totengräber (als Metapher für den Tod) wird vom Autor dargestellt als moderner Dienstleister: kompetent, zuverlässig, freundlich, sein Gewerbe mit Sorgfalt ausführend. Zum Abschied gibt ihm unser Jedermann innerlich ruhig und gelassen zwei Fünfziger, - wissend, dass dieser freundliche Mann eines nicht mehr fernen Tages auch für ihn ein Loch graben wird zwei Meter lang und so flach, „dass man ein Bett darin aufschlagen könnte“ (S. 171).

Philip Roth stellt Körperlichkeit und Diesseitigkeit in den Mittelpunkt seines Romans. Für seinen Protagonisten ist klar, dass „dieses Leben das einzige war, dass er haben würde“ (S. 171). Allerdings gibt der Autor auch Anlass diese Eindeutigkeit zu hinterfragen. Schon zum Titel können wir davon ausgehen, dass Philip Roth auf den christlichen Jedermann des Hugo von Hofmannsthal anspielt. Auch die Erzählsituation, dass das Leben des Protagonisten in Rückblenden erst nach seinem Tod erzählt wird, verweist eher auf eine Transzendenz. Es ist keine Eindeutigkeit bei Philip Roth auszumachen. Er ist nicht immer der Materialist; es gibt Grenzüberschreitungen zum Immateriellen. Am Ende des Buchs geht der Protagonist „befreit vom Sein ins Nichts“, aber er „fühlte sich alles andere als besiegt, ganz und gar nicht dem Untergang geweiht“ (S. 172). Aus diesen Gegensätzlichkeiten in den Schreibweisen bezieht das Buch seine literarische Spannung.


Einordnung in die Alterstopoi

Dass dieser Jedermann sein Alter als „Massaker“ empfindet (S.148), hat mehrere Ursachen. Für ihn ist diese letzte Lebenszeit bedroht durch das Ende, das immer näher rückt und das für ihn im Nichts endet. Ohne Hoffnung auf ein Jenseits, nur dem Diesseitigen verhaftet, empfindet er den körperlichen Verfall als Zumutung. Er, für den sein Körper so wichtig ist, muss dessen nachlassende Vitalität als persönliche Schmach empfinden. Hinzu kommt seine immer größer werdende Isolation und damit eine immer stärker um sich greifende Einsamkeit. Philip Roth beschreibt das Altern als eine Aneinanderreihung von Verlustängsten und Abschiednahmen: Verlust der körperlichen Kraft und Gesundheit, Verlust der Lebensenergie und Sexualität, Verlust der Autonomie und des Selbstbewussteins, Verlust an Zukunft.

Diese Altersklage durchzieht den ganzen Roman: Der Kampf gegen die Vergänglichkeit des eigenen Körpers, die Furcht vor dem Sterben, dem Ausgelöschtsein. Die Auseinandersetzung mit dem Tod hat er nicht erst im Alter kennen gelernt. Seit er als Kind erlebt hat, wie ein kleiner Junge stirbt, und die aufgedunsene Leiche eines Matrosen gesehen hat, ist ihm der Tod allgegenwärtig. Sogar bei einem Abendspaziergang am Meer unter klarem Sternenhimmel, seine geliebte Frau an der Seite, holen ihn Gedanken an den Tod ein.

Zu Beginn seines Alters versucht der Protagonist noch Widerstand zu leisten und dem Leben einige gute Seiten abzugewinnen. Dies kann man als Alterslob verstehen. Er hat die finanziellen Mittel und ist anfangs auch noch körperlich fit, alles Voraussetzungen, um einen zufriedenen Ruhestand zu genießen. Er kann endlich seinem Hobby nachgehen, der Malerei, und ausgedehnte Strandläufe am Meer unternehmen. Er nimmt auch noch einige Angebote der Seniorenresidenz wahr.

Mit zunehmendem Alter verschiebt sich aber dieses Lebenskonstrukt auf der Skala vom Alterslob zunehmend und am Schluss völlig zur Altersklage. Es beginnt mit einer sich steigernden Unzufriedenheit. Er wird immer passiver, verliert seine innere Balance und resigniert schließlich. Dabei äußert sich die Altersklage weniger und nur anfangs in einer Revolte gegen das Alter, - wenn auch nicht so stark, wie wir sie bei Jean Améry erleben [2]. Bei Philip Roth äußert sich die Altersklage hingegen zunehmend als Resignation. Der bis dahin aktive Mann ist nicht mehr willens seine Situation zu ändern, etwa die Seniorenresidenz zu verlassen und zu seiner Tochter zu ziehen. Er sucht auch nicht den Kontakt zu seinem Bruder, obwohl er weiß, dass er in dessen Gästehaus einziehen könnte. Er entwickelt keine Aktivitäten mehr. Und dann holen ihn seine Krankheiten ein.

Es ist nicht so, dass er sich bejammert; es sind vielmehr nüchterne, sachliche Feststellungen, die er benennt: der Verlust der Lebensfreude, der Verlust seiner männlichen Kraft, seine Isolation, das Vergessenwerden und immer wieder sein körperlicher Verfall. Alles ist angekränkelt von Verlust. Er empfindet das Alter wie die alte, kranke Malerin, die über ihre Abhängigkeit, ihre Hilflosigkeit und ihre Isolation klagt, und vor allem über „das Anderssein“. All den alten Kursteilnehmern seines Malunterrichts, ihn eingeschlossen, „war peinlich, was aus ihnen geworden war“ (S. 90).

Die Malerin erzählt ihm von den letzten Monaten ihres verstorbenen Mannes, der einst Verleger und Herausgeber einer Zeitung war, und den sie nach einer Hirntumoroperation im Rollstuhl schieben musste. Ihr Mann konnte nicht verstehen, dass dieses körperliche und geistige Wrack im Rollstuhl seinen Namen trug. Zum Schluss war er ein Nichts, „nichts als eine unbewegliche Null, die zornig auf die Gnade der absoluten Auslöschung wartete“ (S. 87). Die Verzerrung des eigenen Wesens im Alter, „das alles ist entsetzlich und man schämt sich deswegen. ... Das Anderssein, dass man so anders ist, das ist furchtbar. ... Man bekommt Angst vor sich selbst! ...Man fühlt sich erniedrigt und gedemütigt“ (S. 90).

Selbsterkenntnis und Reue übermannen ihn. Er erkennt, was er alles falsch gemacht hat: Drei Kinder einer intakten Kindheit beraubt und ihnen die beständige, liebevolle Fürsorge eines Vaters genommen; die Härte gegenüber seinem Bruder, der ihm gegenüber niemals hart gewesen war. Schuldgefühle überkommen ihn „wegen all dieser unausrottbaren, dummen, unentrinnbaren Fehler“ (S. 150). Er weiß, er hat sie sich selbst zuzuschreiben, und bereut sie voller Zerknirschung zutiefst.

Dieser Altersklage stellt der Autor den Bruder des Protagonisten als Gegenfigur gegenüber, als Verkörperung des Topos Alterslob. Dieser Bruder unternimmt - obwohl vier Jahre älter - nach wie vor ausgedehnte berufliche Reisen in alle Welt und genießt sein Alter im Kreise seiner Familie mit seiner über Jahrzehnte in harmonischer Ehe verheirateten Frau und den Söhnen, - ein Alter der ganz anderen Art. Unser Protagonist erkennt, wie wichtig ein Partner im Alter ist. Aber er weiß auch, dass er seine Einsamkeit durch seine freiheitliche, ungebundene Lebensweise selbst verschuldet hat. Auch die Eltern des Protagonisten lebten in hohem Alter zufrieden und in festem Glauben an ein Jenseits. Er sieht an ihnen, dass ein Alter in Zufriedenheit möglich ist. Die Erinnerung an seine Kindheit am Grab seiner Eltern kann ebenfalls dem Alterslob zugeordnet werden. Er hatte „das Verlangen, dass sie alle noch lebten. Und dass er das alles noch einmal haben könnte“ (S. 162). Die Rückbesinnung an die glücklichen Tage im Juweliergeschäft des Vaters, in „Jedermanns Schmuckladen“ (S. 59), stimmt ihn versöhnlich. Er denkt daran, wie sein Vater ihm die Unvergänglichkeit der Diamanten gepriesen hat. Denn jenseits von Schönheit, Status und Wert ist ein Diamant unvergänglich; ein Teil der Erde. Und jetzt am Ende seines Lebens - seine Vergänglichkeit vor Augen - erinnert er sich daran. Tröstlich ist ihm der Gedanke, dass der Kosmos unvergänglich ist und auch er selbst unvergänglich im Kreislauf des Kosmos verbleibt.

Altersspott kommt in diesem Roman nur spärlich und subtil vor. Die Begegnungen mit einer jungen attraktiven Joggerin gehören sicher dazu. Er merkt gerade noch rechtzeitig, dass er im Begriff war, sich lächerlich zu machen. Ebenso die Beziehung zu seiner dritten Ehefrau, dem Model. Er schenkt ihr, die es nicht wert ist, ein viel zu teueres Collier und weiß letzten Endes, dass er sich benimmt wie ein alter Gockel.

Das Motiv “Alter“ schwankt in der Literatur seit der Antike auf einer Skala von Verklärung bis zur Klage über den körperlichen und geistigen Verfall. Aber erst die neuere Literatur setzt sich konkret mit den subjektiven Erfahrungen des Alters auseinander. Philip Roth beschreibt das Altern seines Protagonisten erschreckend genau: Was alles nachlässt, wie es sich anfühlt, das ganze Elend, das sich Alter nennt.

Der Roman "Jedermann" von Philip Roth ist 2006 zu einem Zeitpunkt erschienen, in dem in der aktuellen Diskussion das Alter vorrangig als erfolgreiches Altern dargestellt wird. Die jungen aktiven Alten stehen im Mittelpunkt der Betrachtung. Die negativen Folgen des Alterungsprozesses - Krankheit, Siechtum, Sterben, Tod - werden eher ausgeklammert. Philip Roth hingegen beschreibt das Altern klar und ungeschminkt. Er hat diesen Roman als 73-Jähriger geschrieben und damit - gewollt oder ungewollt - in der heutigen Altersdiskussion einen bedeutsamen Akzent gesetzt.


Form

Literarisch gleicht dieser Roman eher einer Novelle: Die schmale Erzählung besteht aus hoch konzentrierten Szenen. Philip Roth rekapituliert das Leben seines Jedermann nicht chronologisch, sondern gleitend, zwischen den Zeiten changierend, in einer rückblickenden Erinnerung. Strukturiert wird der Roman durch die einzelnen Operationen. Daran schließen sich assoziativ die Rückblenden. Die Erzählpositionen wechseln ständig: Zumeist ist es ein Er-Erzähler, aber auch hin und wieder ein auktorialer Erzähler. Auf den letzten Seiten geht er zum personalen Erzähler über, der sehr nahe am Ich ist. Der Erzählstil ist anschaulich und vielschichtig. Die Sprache ist nüchtern, lakonisch, knapp, nie pathetisch, stellenweise wie die einer Krankenakte. Die Struktur verläuft kreisförmig. Zum einen in der Form: Das Buch beginnt und endet mit dem Tod des Protagonisten; zum andern hat auch der Inhalt die Kreisstruktur, da sich der Protagonist im nicht endenden Kreislauf der Natur aufgehoben fühlt.


Anmerkungen

  1. Philip Roth: Jedermann, München 2006 - auf diese Ausgabe beziehen sich alle folgenden Seitenangaben im Text (Originalausgabe unter dem Titel Everyman, New York 2006)
  2. Jean Améry: Über das Altern, 7. Aufl., Stuttgart 2001, S. 84 ff