Christa Wolf, Leibhaftig (von Johanna Schorm)

Aus Literarische Altersbilder


Biographie

Christa Wolf wurde am 18.3.1929 in Landsberg an der Warthe (Polen) als Tochter eines Kaufmanns geboren. Nach Faschismus, Krieg und Flucht kam sie 1945 mit ihren Eltern nach Mecklenburg. 1949 machte sie Abitur und wurde Mitglied der SED, die sie erst 1989 wieder verließ. Ihr Germanistikstudium absolvierte sie in Jena und Leipzig, u. a. bei Hans Mayer. 1951 heiratete sie Gerhard Wolf. Das Ehepaar hat zwei Töchter, geb. 1952 und 1956. Nach ihrem Diplom 1953 arbeitete Christa Wolf als Cheflektorin des Verlages „Neues Leben“ in Berlin und als Redakteurin der Zeitschrift „Neue deutsche Literatur“. Von 1955 bis 1976 war sie Mitglied des Vorstandes des Schriftstellerverbandes der DDR, von 1963-1967 war sie Kandidatin des Zentralkomitees der SED. Seit 1962 lebt sie als freie Schriftstellerin in Berlin.

Mit dem Roman „Der geteilte Himmel“ von 1963, der auch verfilmt wurde, gelang Christa Wolf der erste große Erfolg im Osten wie im Westen. Aber schon ihr nächster Roman „Nachdenken über Christa T.“ von 1968, indem es um die Darstellung des Konflikts zwischen Individuum und Gesellschaft geht, führte zu harten Auseinandersetzungen mit der Zensurbehörde. Das Werk wurde erst nach mehreren Umarbeitungen in der DDR veröffentlicht. Schon in diesem Roman erscheinen die Krankheit und der frühe Tod der Protagonistin durch Leukämie als Folge der von der Gesellschaft geforderten Anpassungszwänge, denen das nach Authentizität strebende Individuum sich nicht gewachsen fühlt. In der Bundesrepublik wurde der Roman hoch gelobt. Christa Wolf ist seitdem im Westen eine anerkannte Schriftstellerin.

In der DDR war Christa Wolf aber schon vor diesem Werk in Ungnade gefallen. Sie hatte auf dem 11. Plenum der SED 1965, das eigens zur Disziplinierung junger Schriftsteller, Filmemacher und bildender Künstler einberufen worden war, eine kritische Rede gehalten, in der sie sich für die Freiheit der Kunst einsetzte. Dies bewirkte, dass sie seit diesem Zeitpunkt, trotz ihrer hohen Parteifunktionen, mit Misstrauen bedacht und politisch isoliert wurde. Im Rückblick spricht Christa Wolf davon, dass nach dem 11. Plenum eine Polarisierung unter den Künstlern eintrat. Ihr Biograph, Jörg Magenau, zitiert sie mit den Worten: „Es gab einige, die bereit waren sich anzupassen, die sich der Einengung der Kunst fügten, die dort verordnet wurde. [ ... ] Ich begann darüber nachzudenken, was uns überhaupt noch zu tun möglich blieb - immer noch mit der Vorstellung, dass die Strukturen dieses Landes dazu geeignet seien, eine vernünftige Gesellschaft zu entwickeln“.[1]

Jörg Magenau berichtet, dass Christa Wolf nach ihrer Rede vor dem Plenum eine schwere Herzattacke erlitt und mehrere Wochen psychisch krank war.[2] In den ersten Seiten der Erzählung „Leibhaftig“ verarbeitet Christa Wolf diese Erlebnisse. Wie entscheidend diese Zeit für ihr Selbstverständnis war, geht auch aus dem „Erinnerungsbericht“ hervor, den sie unter dem Titel „Rummelplatz 11. Plenum 1965“ in dem Sammelband „Auf dem Weg nach Tabou“ 1994 veröffentlichte.[3]


Die wichtigsten Werke

  • „Der geteilte Himmel“, Roman, 1963.
  • „Nachdenken über Christa T.“, Roman, 1968.
  • „Kindheitsmuster“, Roman, 1977.
  • „Kein Ort. Nirgends.“ Erzählung, 1979.
  • „Kassandra“, Erzählung, 1983.
  • „Störfall“, Erzählung, 1987.
  • „Sommerstück“ 1989.
  • „Was Bleibt“ 1990.
  • „Medea“, Erzählung, 1996.
  • „Leibhaftig“, Erzählung, 2002.


Inhalt

Die Erzählung „Leibhaftig“ von Christa Wolf erschien im Februar 2002.[4] Die in der Gegenwartsform erzählte Handlung spielt in der Zeit kurz vor dem Fall der Berliner Mauer. In diese in vielen realistischen Details beschriebene Krankenhausgeschichte der Ich-Erzählerin werden in Form von Fieberphantasien und Narkoseträumen Erinnerungen aus 40 Jahren DDR Geschichte eingeblendet. Die Textoberfläche der Erzählung ist ein genau beobachteter und einfühlsam beschriebener Bericht der hierarchisch aufgebauten Krankenhausgesellschaft und der Alltagsroutine im Krankenhaus. Dabei protokolliert die Ich-Erzählerin ihr eigenes Verhalten und das, was mit ihr geschieht, während sie auf die Operationen wartet, in der dritten Person, ohne je ihren Namen zu nennen, während die Ereignisse auf der Ebene der Erinnerungen und Traumwelten in der ersten Person erzählt werden. Diese Trennung der Erzählperspektiven wird jedoch nicht beibehalten, vielmehr findet ein ständiger Wechsel zwischen den Perspektiven statt, was zu einem Verschwimmen der Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit beiträgt, aber auch bewirkt, dass Subjekt- und Objektstatus der Patientin fließend ineinander übergehen.

Die Handlung setzt ein mit der Fahrt der Patientin in einem schlecht gefederten Notarztwagen. Sie ist an einen Infusionsapparat angeschlossen, verliert aber trotzdem, auch in der Notaufnahmestation, immer wieder das Bewusstsein. Grund für ihren Schwächeanfall ist eine offene Leibwunde, die von einer verschleppten Blinddarmentzündung herrührt, was allerdings erst nach und nach erzählt wird. Auch ihr Alter, sie ist ca. 60 Jahre alt, kann erst durch die in der Erinnerung auftauchenden Zeiträume erschlossen werden. Ihr Zustand wird lebensbedrohlich durch ein außergewöhnliches Herzrasen, Tachykardie genannt, das als Reaktion auf Angstzustände schon häufiger bei der Patientin aufgetreten ist, wie der Leser erfährt. Nur mit einem bestimmten Mittel kann dieses Herzrasen der Patientin beruhigt werden. Das Medikament ist zum Glück vorrätig, was offensichtlich nicht selbstverständlich ist.

Nach der Beruhigung des Herzrasens findet die Patientin sich schließlich auf der Krankenstation wieder. Es wird nicht deutlich, ob sie zu diesem Zeitpunkt schon das erste Mal operiert worden war, jedenfalls bessert sich ihr Zustand nicht. Vor allem das Fieber, das auf eine Entzündung hindeutet, bleibt beunruhigend hoch. Um den genauen Eiterherd feststellen zu können, muss sie sich einer Computertomographie unterziehen. Das Schlucken der Kontrastflüssigkeit vor der Untersuchung empfindet sie wie eine Folter. Aber sie schluckt brav, bis sie alles wieder erbricht. Auch die Zeit in der Röhre, mit den Armen ausgestreckt über dem Kopf, empfindet sie als Tortur, ein „Ausgesetztsein in einem Strahlenkäfig“ (S. 48). Ob sie noch könne, wird sie gefragt. „Ungläubig höre ich mich ja sagen und verachte mich sofort dafür,“ kommentiert die Erzählerin ihr eigenes Verhalten. (S. 47) Die Untersuchung ergibt, dass sie operiert werden muss. In den kurzen bewussten Augenblicken zwischen ihren Fieberphantasien erscheint ihr die Anästhesistin Kora Bachmann, eine junge Frau, die sie einfühlsam beruhigt und betreut, wie ein Wesen aus einer anderen Welt.

Diese Prozedur mit Computertomographie und Operation muss die Patientin im ganzen dreimal über sich ergehen lassen. Aus der unterdrückten Besorgnis ihres Partners, der als angesprochenes Du im Krankenzimmer präsent ist, des Pflegepersonals und der Ärzte kann geschlossen werden, dass es um Leben und Tod geht. „Warum ist ihr Immunsystem derart schwach“ sagt der Chefarzt, der immer öfter an ihrem Bett erscheint. (S. 102) Und später, als sich immer noch keine Besserung einstellen will, bemerkt er in leicht strafendem Ton, der Krankheitsverlauf begründe nicht ausreichend den Zusammenbruch ihrer Immunabwehr. Das Wort Zusammenbruch bewirkt bei der Patientin eine seelische Krise mit neuerlichem Schüttelfrost. Erst nach der dritten Operation, nach der die Ärzte beteuern, dass sie jetzt den Eiterherd ganz erfasst haben, stellt sich eine langsame Besserung ein, die jedoch nicht zuletzt durch ein Medikament erreicht wird, das mit Eilboten aus dem Westen herbeigeschafft wurde. Dem Pathologen war es schließlich gelungen, die seltenen gefährlichen Bakterien, die das Blut verseucht hatten, unter dem Mikroskop zu identifizieren.


Die „Erinnerungsinseln“

Am Schluss der Erzählung wird noch einmal deutlich, was durch viele Hinweise im Text belegt ist, dass Christa Wolf hier die Zustände in der DDR kurz vor dem Zusammenbruch schildert. Gleichzeitig beschreibt sie eigenes Erleben und eigene Erfahrungen. Es ergibt sich daraus ein kunstvoll aufgebauter literarischer Text, in dem die verschiedenen Ebenen bruchlos ineinander übergehen. Als die Gegenwartshandlung überlagernde, ineinander greifende Ebenen können unterschieden werden: die Alltagsrealität der DDR, die individuellen Erfahrungen der Ich-Erzählerin, die Ebene literarischer und mythologischer Hinweise und die auf allen Ebenen wirksame der literarischen Alterstopologie zugehörige Altersklage.

Der Zusammenbruch wird auf mehreren Ebenen thematisiert. Neben dem politischen geht es auch um einen seelischen und den daraus resultierenden körperlichen Zusammenbruch. Die Krankheit der Erzählerin, der körperliche Zusammenbruch kann als Folge einer existentiellen, seelischen Krise verstanden werden. Der Ausbruch der Krise, die sie an die Schwelle des Todes führt, hängt zusammen mit ihrem ehemaligen Studienfreund und Parteigenossen Hannes Urban, der kurz vor ihrer Einlieferung ins Krankenhaus spurlos verschwunden ist. Urban wird nach mehreren Wochen, als die Patientin sich schon langsam auf dem Weg der Besserung befindet, tot aufgefunden. Er hat sich erhängt.

In ihren Fieberphantasien erlebt die Patientin die einzelnen Stationen der mit Urban verlebten Zeit noch einmal. Ursprünglich hatten sie in ihrer gesellschaftspolitischen Arbeit die gleichen Ideale und Ziele verfolgt. Als diese gemeinsame Arbeit durch die intolerante Parteiordnung blockiert wird, und Urban sich bedingungslos der Parteidisziplin unterwirft, trennen sich ihre Wege. Aus Verstellung wird Lüge, Verrat und schließlich eine tiefe Entfremdung und Enttäuschung. Mit dieser Vergangenheit muss sich die Kranke in ihren Fieberträumen nun wieder auseinandersetzen. Das Fieber ist für sie der Schlüssel zu ihrer Innenwelt, in die sie hinabsteigt, wie in die Unterwelt, eine Metapher, die unter anderem für alle unterirdischen Gänge gebraucht wird. Als Führerin aus der Unterwelt agiert die Anästhesistin Kora Bachmann, ein Name, der durch die damit verbundenen mythologischen und literarischen Assoziationen für die sich durch die ganze Erzählung ziehende Todesthematik steht. Kora ist einer der Namen Persephones, der Tochter der Fruchtbarkeitsgöttin Demeter. Der Mythos besagt, dass Persephone in den Hades verschleppt wurde und erst als Demeter drohte, die Erde verdorren zu lassen, für dreiviertel jeden Jahres auf die Erde zurückkehren durfte. Mit dieser Einbeziehung des Mythos stellt Christa Wolf eine Verbindung her zu der Tradition der literarischen Darstellung des Todes und unterstreicht gleichzeitig die Nähe der Patientin zum Tod, der jedoch weitgehend nicht als schrecklich empfunden wird, sondern als Flucht aus dem Leben, als Versteck vor dem Leben. Zum anderen liegt hier auch schon ein Hinweis darauf, dass es einen Weg zurück gibt ins Leben. Der Name der Anästhesistin enthält darüber hinaus eine Referenz an Ingeborg Bachmann, die sich in ihrem „Todesarten-Zyklus“ intensiv diesem Thema gewidmet hat.

Zu Beginn der Erzählung kämpft die Patientin noch allein mit ihren körperlichen Schmerzen ebenso wie mit ihren schmerzhaften Erinnerungen aus der Zeit, als sie zum ersten Mal die Nähe zum Tod spürte. Zu dieser Zeit war sie erst Mitte dreißig. Der Film, an dem sie engagiert gearbeitet hatte, sollte „vorgeführt und abgenommen“ werden. Damals war das unerklärliche Herzrasen zum ersten Mal aufgetreten. Sie stellt sich jetzt die Frage, ob ihr Körper das alles nur inszeniert habe, um sie aus dem Verkehr zu ziehen? Urbans Anteilnahme an ihrer Krankheit erschien ihr zu diesem Zeitpunkt noch aufrichtig. Doch diese Aufrichtigkeit ließ dann bald nach, von beiden Seiten. Die Erzählerin bemerkt dazu: „Das ist alles so lange her, fünfundzwanzig Jahre, ein Vierteljahrhundert. Alles so unvorstellbar geworden. Und hatten sie Urban nicht schon früher verloren? Wie oft im Leben werden wir andere und verlieren diejenigen, mit denen wir jung und, nun ja: unschuldig waren?“ (S.18)

Hier wird eine Altersklage ausgesprochen, die einmal den Verlust von Freunden bedauert, die eine unterschiedliche Entwicklung genommen haben, aber in dem Verlust der Unschuld auch schon die Frage nach der eigenen Schuld, nach dem eigenen Verwickeltsein in den Lauf der Dinge aufwirft. Immer wieder reflektiert die Ich-Erzählerin ihr eigenes damaliges Verhalten und stellt sich die Frage, ob es eine andere Möglichkeit für sie gegeben hätte, ob ihr Rückzug aus der gemeinsamen Parteiarbeit der richtige Weg war. „Seit Urban verschwunden ist, hat er Asyl gefunden in mir“, bekennt sie an einer Stelle. Die Erkenntnis eigener Versäumnisse belastet sie ebenso schmerzhaft wie der Verlust der Freunde. So weckt die offensichtlich unangefochtene Spitzenstellung des Chefarztes in ihr Erinnerungen daran, wer in den Kommissionen, in denen sie mitgearbeitet hat, immer das Sagen hatte. Sie stellt fest, dass es immer einer, sehr selten eine war. Häufig war es Urban, nie war sie es, glücklicherweise, fügt sie hinzu. Urban gebrauchte seine Entscheidungsmacht, um Widerspruch abzuwürgen. „Ich fing an die Sitzungen zu meiden. Kein Grund sich zu rühmen,“ fährt sie fort. (S. 37) Auch hier kann von dem Eingeständnis einer indirekten Schuld gesprochen werden. Sie erkennt, dass ihre Position im Parteiapparat sie vor schwierigen Entscheidungen bewahrte, gleichzeitig wird ihr jedoch bewusst, dass sie zu feige war, die ihr verbleibenden Möglichkeiten einer Einflussnahme zu nutzen.

Neben ihren Versäumnissen quält die Kranke ihre Bereitschaft zur Anpassung, die ihr während der Vorbereitung zu den Operationen bewusst wird. Es wird von ihr erwartet, dass sie sich beim Schlucken der Kontrastflüssigkeit und während der Computertomographie kooperativ verhält, und sie fühlt eine Verpflichtung, diesen Erwartungen zu entsprechen. Dabei erkennt sie, dass der von anderen an sie herangetragene Erwartungsdruck sie ein Leben lang belastet hat. Trotzdem hat sie sich angepasst, häufig unbewusst, häufig aber auch um größeren Komplikationen aus dem Weg zu gehen. Die Krankheit gibt ihr nun die Möglichkeit diesem Druck zu entfliehen. Sie überlässt anderen die Verantwortung für ihr Leben, wird zum Objekt der Krankenhausroutine. „Es tut gut, aus dem Zeitnetz gefallen zu sein, denn eine andere Möglichkeit niemandem mehr etwas schuldig zu sein gibt es auf dieser Erde nicht,“ bemerkt sie. (S. 84) Die Krankheit, die sie nicht wahrhaben wollte, gibt ihr die Möglichkeit sich im äußeren Objektstatus als Subjekt neu zu erfahren. Die Hilflosigkeit, das Angewiesensein auf andere, das als negative Auswirkungen des Alters Ängste hervorruft, wird hier gewendet in die positive Erfahrung des eigenen geschärften Bewusstseins. In der Passivität, in dem Gefühl des Ausgeliefertseins an die Krankenhausroutine erlebt sie sich selbst als Subjekt. Im Leiden erfährt sie die Einheit von Körper und Geist und damit die Wirklichkeit des Augenblicks. Schließlich wird so die Krankheit für sie zu einer unbewussten Überlebensstrategie des Körpers. „Es gibt einen Bereich, oder wie ich es nennen soll, in dem die Unterschiede zwischen Geistigem und Körperlichem schwinden, in dem eines auf das andere wirkt, eines aus dem anderen hervorgeht. Eines das andere ist. Also nur Eins ist. So wäre dies der Ort des Eigentlichen, und es würde sich lohnen, das zu erfahren. (S. 97/98) [ … ] Es ist mir gelungen, kurz vor dem Alter, in dem, wie ich mir vorstelle, die Wirklichkeit verblasst, noch einmal etwas Wirkliches zu erleben.“ (S 100)

Das Krankenhaus ist ein Spiegelbild der Gesellschaft, und zwar explizit nicht nur der Mangelgesellschaft der untergehenden DDR, sondern auch allgemeiner gesellschaftlicher Zwänge in einer hierarchisch, patriarchalischen Gesellschaftsordnung, denen sich das Individuum nicht entziehen kann. Die gesellschaftlichen Zwänge, gegen die sich die Patienten im Laufe ihres Lebens nicht wehren konnte oder nicht gewehrt hat, wie sie jetzt erkennt, haben Spuren in ihrem Körper hinterlassen. Der Professor schneidet nun das „Bösartige“ aus ihrem Körper heraus. Das „Bösartige“, das jeder in sich trägt, sei es im „körperlichen wie im übertragenen Sinn, wieso es leugnen. Es allerdings benennen, ...davor drücken wir uns lieber“, bemerkt die Erzählerin. (S. 132) „Hätte ich den anderen Weg wählen sollen, den den Urban gewählt hat?“ ist wieder ihre Frage. „Was für eine Schrift wird meinem Körper da eingeschrieben und werde ich sie je lesen können?“ - „Habe ich zu oft mitgespielt,“ fragt sie sich angesichts der eingespielten Handgriffe vor der Operation, bei denen sie widerspruchslos mitspielt. Sie könne sich auf das Team verlassen, sagt Kora, das Team verlasse sich auch auf sie. Die Doppelbedeutung der Wörter führen zu einer Reflexion über das Wort „ schneiden, beschneiden, einen Schnitt machen, da hast du dich aber geschnitten. Urban hatte sie eine Zeitlang geschnitten.“ ( S. 134 )

In den Wortspielen schwingt immer die Frage mit, inwieweit entscheidet sich das Individuum bewusst und freiwillig für oder gegen etwas. Wann fängt die Verführung, die Manipulation an, z.B. die starke Verführung, die von der größeren „Bruderschaft“ und der gemeinsamen Utopie der Errichtung einer anderen Hoffnungs- und Menschheitsstadt ausging, der sie sich, wie Urban, zugehörig fühlte. Das Scheitern dieser Utopie und die damit verbundene Desillusionierung will sie nicht wahrhaben, hat sie verdrängt. Erst der körperliche Zusammenbruch, der nicht zuletzt durch das Verschwinden Urbans beschleunigt wurde, zwingt sie dazu, sich mit dem endgültigen Verlust der Ideale auseinanderzusetzen, für deren Verwirklichung sie bisher all ihre Kraft eingesetzt hatte. Der Rückzug aus der gesellschaftlichen Verantwortung führt bei der Erzählerin zum Rückzug in die Krankheit und wird sogar zu einem „Sog zum Tode“, der nur dadurch unterbrochen wird, das andere, nämlich die Ärzte, die Verantwortung für sie übernehmen. Die Patientin hat diesen Zusammenhang klar erkannt. „Wer nicht fühlen kann muss stärker verletzt werden. Und wer sich nicht tief genug ins eigene Fleisch schneidet, zu schneiden wagt, schafft den Vorwand, dass es ein anderer für ihn tun muss, Herr Professor. Trickreiche Einrichtungen und Vorkehrungen. Wie oft die „Seele“, das „Bewusstsein“, was immer das sein mag, der Manipulation ausgeliefert, wehrlos dalag. Nun wird am Körper manipuliert, dem Wort endlich zu seinem Recht verholfen. Mit der Hand gearbeitet. Mit der geschickten, trainierten, geschulten, viertelstundenlang gewaschenen und mit einem Plastehandschuh geschützten Hand. Die versucht, der Wahrheit des Körpers auf den Grund zu gehen, die der so lange verborgen hat. Die in den Eingeweiden wühlt. Nach einer wohlüberlegten Strategie vorgeht, einem listigen Umweg nämlich, um, ohne andere Organe zu verletzen, bis zur Wurzel des Übels vorzudringen, zum Eiterherd, dorthin, wo der glühende Kern der Wahrheit mit dem Kern der Lüge zusammenfällt. Identisch ist, ob Sie das nun zugeben wollen oder nicht, Professor. Während Schwester Nadeschda die Wundränder auseinanderhalten, mit dem Tupfer in Aktion treten muss. Während Kora die Apparate überwacht, mir hin und wieder über die Stirn streicht. Ein Gemetzel.“ ( S. 138 )

An dieser Stelle wird deutlich, wie die verschiedenen Erzählebenen bruchlos ineinander übergehen. Die Realitäts- und die Reflexionsebene erscheinen verflochten mit der metaphorischen Ebene. Auch die leise Ironie wird sichtbar, die sich durch die Erzählung zieht, ein Zeichen der Distanz, die die Erzählerin und damit auch die Autorin, zu den Ereignissen gewonnen hat, was die Ernsthaftigkeit der Aussage jedoch nicht beeinträchtigt.

In dem die Ich-Erzählerin ihre Schmerzen über den Verlust der Hoffnung, den Verlust der Illusionen, den Verlust der Freunde akzeptiert, gewinnt sie die Kraft, sich wieder an das Leben zu gewöhnen. Nicht freiwillig hat sie ihre Hoffnungen aufgegeben. Durch die äußeren, d. h. die gesellschaftlichen Umstände wurde sie dazu gezwungen sich neu zu orientieren. Kora hatte gesagt: „Der Tod stößt den Lebensmüden durch einen heilsamen Schrecken ins Leben zurück“. - „Nämlich wozu“, fragt die Kranke. „Na, um zu leben“, antwortet Kora. „Der Spur der Schmerzen nachgehen,“ sagt die Ich-Erzählerin am Schluss der Erzählung, „ungewappnet, das wäre der Mühe wert. Das wäre des Lebens wert.“ Und Kora stimmt ihr zu.

In der Akzeptanz des Schmerzes, in dem die Akzeptanz des verflossenen Lebens mit seinen Höhen und Tiefen eingeschlossen ist, hat Christa Wolf die Altersklage über die unvermeidlichen Verluste im Laufe eines Lebens, die bei der Protagonistin zu körperlicher Krankheit führte, umgewertet. Mit dem aus der seelischen und körperlichen Krise erwachten veränderten Bewusstsein erscheint für die Ich-Erzählerin ein Neuanfang möglich. Der Klage am Beginn der Erzählung „Verletzt. – Es klagt, wortlos. [ … ] Es klagt. In ihr, um sie. Niemand da, der die Klage annehmen könnte,“ steht die Bejahung des Lebens am Ende der Erzählung gegenüber. „Ja, es ist schön,“ sagt die Patientin beim Blick aus ihrem Fenster. Die Schönheit des Gartens erinnert sie an die Beschreibung der Natur durch die Dichter und sie fühlt sich jetzt eingebunden in diese Tradition ohne damit zu hadern, dass sich alles wiederholt, dass alles schon einmal irgendwie gesagt wurde.

Der Aspekt der Wiederholung zusammen mit der Furcht nichts Neues mehr erleben zu können, gehört zur Altersklage und wird in der Erzählung in den Goethe-Zitaten sichtbar.

Im Schmerz erfährt die Ich-Erzählerin jedoch die Dichterworte neu. Sie kann die Todessehnsucht in den Gedichten Goethes nun als Sehnsucht nach der Einheit mit dem Kosmos und als Sehnsucht nach der Einheit von Körper und Geist begreifen und erfährt damit auch die literarische Tradition als eins mit der Gegenwart. Die Präsenz des Augenblicks, nach der Faust sucht, hat sie, losgelöst aus der Verantwortung des Alltags, in ihrem Leiden erfahren.

Christa Wolf zeigt, wie in der Zusammenführung der Gegensätze von Todessehnsucht und Lebenswille, Wiederholung und Präsenz des Augenblicks, Gegenwart und Vergangenheit, Körper und Geist eine neue Lebensqualität gewonnen werden kann. In dem Bewusstsein und in der Erkenntnis, dass alle Lebensbereiche auf einander einwirken, findet ihre Protagonistin an der Schwelle zum Alter zu einem neuen authentischen Selbstverständnis.


Anmerkungen

  1. Magenau, Jörg: Christa Wolf. Eine Biographie. Kindler Verlag GmbH, Berlin, 2002. S. 190
  2. Ebenda: S. 186
  3. Wolf, Christa: Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990-1994. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1994. S. 58
  4. Wolf, Christa: Leibhaftig. Erzählung. Luchterhand, 2002. Alle Seitenangaben in diesem Text beziehen sich auf diese Ausgabe.