*Lieselotte Lindemann: Analyse von Max Frischs Erzählung "Montauk": Unterschied zwischen den Versionen

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Wichtige Titel
Wichtige Titel


1934        Jürg Reinhart. Eine sommerliche Schicksalsfahrt.
*1934        Jürg Reinhart. Eine sommerliche Schicksalsfahrt.


1937        Antwort aus der Stille. Eine Erzählung aus den Bergen.
*1937        Antwort aus der Stille. Eine Erzählung aus den Bergen.


1940        Blätter aus dem Brotsack
*1940        Blätter aus dem Brotsack


1944        Bin oder Die Reise nach Peking. Eine Romanze.
*1944        Bin oder Die Reise nach Peking. Eine Romanze.


1945        Nun singen sie wieder.
*1945        Nun singen sie wieder.


1946        Die chinesische Mauer. Eine Farce.
*1946        Die chinesische Mauer. Eine Farce.


1949        Als der Krieg zu Ende war.
*1949        Als der Krieg zu Ende war.


1950        Tagebuch 1946- 1949
*1950        Tagebuch 1946- 1949, Graf Öderland
         
*1951        Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie.


            Graf Öderland
*1952        Herr Biedermann und die Brandstifter.


1951       Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie.
*1954       Stiller


1952       Herr Biedermann und die Brandstifter.
*1957       Homo faber. Ein Bericht


1954       Stiller
*1961       Andorra


1957       Homo faber. Ein Bericht
*1964       Mein Name sei Gantenbein.


1961       Andorra
*1965       Biographie: Ein Spiel.


1964       Mein Name sei Gantenbein.
*1972       Tagebuch 1966- 1971


1965       Biographie: Ein Spiel.
*1974       Montauk. Eine Erzählung


1972       Tagebuch 1966- 1971
*1978       Triptychon. Drei szenische Bilder


1974       Montauk. Eine Erzählung
*1979       Der Mensch erscheint im Holozän.


1978        Triptychon. Drei szenische Bilder
*1990        Schweiz als Heimat? Versuche über 50 Jahre.   
 
1979        Der Mensch erscheint im Holozän.
 
1990        Schweiz als Heimat? Versuche über 50 Jahre.   


   
   
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„DIES IST EIN AUFRICHTIGES BUCH, LESER, ES WARNT DICH SCHON BEIM EINTRITT, DASS ICH MIR DARIN KEIN ANDERES ENDE VORGESETZT HABE ALS EIN HÄUSLICHES UND PRIVATES... ICH HABE ES DEM PERSÖNLICHEN GEBRAUCH MEINER FREUNDE UND ANGEHÖRIGEN GEWIDMET, AUF DASS SIE, WENN SIE MICH VERLOREN HABEN, EINIGE ZÜGE MEINER LEBENSART UND MEINER GEMÜTSVERFASSUNG WIEDER FINDEN... DENN ICH BIN ES, DEN ICH DARSTELLE. MEINE FEHLER WIRD MAN HIER FINDEN, SO WIE SIE SIND, UND MEIN UNBEFANGENES WESEN, SO WEIT ES NUR DIE ÖFFENTLICHE SCHICKLICHKEIT ERLAUBT... SO BIN ICH SELBER, LESER, DER EINZIGE INHALT MEINES BUCHES; ES IST NICHT BILLIG, DASS DU DEINE MUSSE AUF EINEN SO EITLEN UND GERINGFÜGIGEN GEGENSTAND VERWENDEST./ MIT GOTT DENN, ZU MONTAIGNE, AM ERSTEN MÄRZ 1580.“[2]
„DIES IST EIN AUFRICHTIGES BUCH, LESER, ES WARNT DICH SCHON BEIM EINTRITT, DASS ICH MIR DARIN KEIN ANDERES ENDE VORGESETZT HABE ALS EIN HÄUSLICHES UND PRIVATES... ICH HABE ES DEM PERSÖNLICHEN GEBRAUCH MEINER FREUNDE UND ANGEHÖRIGEN GEWIDMET, AUF DASS SIE, WENN SIE MICH VERLOREN HABEN, EINIGE ZÜGE MEINER LEBENSART UND MEINER GEMÜTSVERFASSUNG WIEDER FINDEN... DENN ICH BIN ES, DEN ICH DARSTELLE. MEINE FEHLER WIRD MAN HIER FINDEN, SO WIE SIE SIND, UND MEIN UNBEFANGENES WESEN, SO WEIT ES NUR DIE ÖFFENTLICHE SCHICKLICHKEIT ERLAUBT... SO BIN ICH SELBER, LESER, DER EINZIGE INHALT MEINES BUCHES; ES IST NICHT BILLIG, DASS DU DEINE MUSSE AUF EINEN SO EITLEN UND GERINGFÜGIGEN GEGENSTAND VERWENDEST./ MIT GOTT DENN, ZU MONTAIGNE, AM ERSTEN MÄRZ 1580.“[2]
 


 
Max Frisch stellt seiner Erzählung „Montauk“ programmatisch das Montaigne Zitat voran und provoziert so seine Leser „zu umfänglichem Spekulieren über die Unterschiede zwischen Fiktion und direkter Mitteilung, zwischen Logbuch und Liebesnovelle.“[3]
Max Frisch stellt seiner Erzählung „Montauk“ programmatisch das Montaigne Zitat voran und provoziert so seine Leser „zu umfänglichem Spekulieren über die Unterschiede zwischen Fiktion und direkter Mitteilung, zwischen Logbuch und Liebesnovelle.“[3]
 


Die dreifache Bedeutung des englischen Begriffs OVERLOOK im Sinne von 1.„etwas von einer erhöhten Warte überblicken“, 2.„etwas übersehen“ und 3.„vorgeben, etwas nicht zu sehen“[4] verweist gleich zu Anfang paradigmatisch auf einen changierenden Text und deutet die Absicht des Autors an, einen Lebensrückblick zu gestalten, bei dem das Aufspüren von Grundmustern und sein „Life as a man“[5] auch im Hinblick auf den Prozess des Alterns besonders im Vordergrund stehen.
Die dreifache Bedeutung des englischen Begriffs OVERLOOK im Sinne von 1.„etwas von einer erhöhten Warte überblicken“, 2.„etwas übersehen“ und 3.„vorgeben, etwas nicht zu sehen“[4] verweist gleich zu Anfang paradigmatisch auf einen changierenden Text und deutet die Absicht des Autors an, einen Lebensrückblick zu gestalten, bei dem das Aufspüren von Grundmustern und sein „Life as a man“[5] auch im Hinblick auf den Prozess des Alterns besonders im Vordergrund stehen.


Er montiert aus Gegenwartsereignissen, englischen Sprachsegmenten, Zitaten, auch aus seinen Romanen „Stiller“, „Sein Name sei Gantenbein“ und „Homo Faber“, aus Erinnerungen, Selbstreflexionen und autobiographischem Material eine Collage, die auch durch den Wechsel zwischen Ich- und Er- Erzähler deutlich macht, wie schwierig, ja eigentlich unmöglich es ist, die Wahrheit über das eigene Leben zu schreiben, ohne zu stilisieren.
Er montiert aus Gegenwartsereignissen, englischen Sprachsegmenten, Zitaten, auch aus seinen Romanen „Stiller“, „Sein Name sei Gantenbein“ und „Homo Faber“, aus Erinnerungen, Selbstreflexionen und autobiographischem Material eine Collage, die auch durch den Wechsel zwischen Ich- und Er- Erzähler deutlich macht, wie schwierig, ja eigentlich unmöglich es ist, die Wahrheit über das eigene Leben zu schreiben, ohne zu stilisieren.


Auf der Oberfläche wird das von vorn herein nur auf kurze Zeit begrenzte Liebesabenteuer beschrieben, das der alternde Schriftsteller „Max“ mit der nur halb so alten, geschiedenen Verlagsangestellten Lynn eingeht, die er während einer Lesereise durch die USA bei einem Interview in New York kennen lernt und einige Male wieder trifft. Sie verbringen ein gemeinsames Wochenende in Montauk, einem kleinen Ort auf der der Stadt vorgelagerten Sommerfrische Long Island.
Auf der Oberfläche wird das von vorn herein nur auf kurze Zeit begrenzte Liebesabenteuer beschrieben, das der alternde Schriftsteller „Max“ mit der nur halb so alten, geschiedenen Verlagsangestellten Lynn eingeht, die er während einer Lesereise durch die USA bei einem Interview in New York kennen lernt und einige Male wieder trifft. Sie verbringen ein gemeinsames Wochenende in Montauk, einem kleinen Ort auf der der Stadt vorgelagerten Sommerfrische Long Island.
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„Lynn wird 31.“[13]  Seine ältere Tochter ist jetzt genauso alt und über das letzte Treffen mit ihr einige Wochen zuvor schreibt er: „Die Begegnung: nicht leicht, nicht schwer.“[14] Und danach: „Es ist nicht klar geworden, warum man sich jetzt so wenig zu sagen hat.“[15]
„Lynn wird 31.“[13]  Seine ältere Tochter ist jetzt genauso alt und über das letzte Treffen mit ihr einige Wochen zuvor schreibt er: „Die Begegnung: nicht leicht, nicht schwer.“[14] Und danach: „Es ist nicht klar geworden, warum man sich jetzt so wenig zu sagen hat.“[15]


Und immer wieder verdrängt im Text die erinnerte Vergangenheit die Gegenwart.
Und immer wieder verdrängt im Text die erinnerte Vergangenheit die Gegenwart.


Diese Form des stilisierten Bewusstseinsstroms, der Wechsel der Erzählerperspektive und das Spiel mit der Authentizität des Protagonisten und aller anderen Personen ist aber auch gleichzeitig ein Spiel mit dem Leser.
Diese Form des stilisierten Bewusstseinsstroms, der Wechsel der Erzählerperspektive und das Spiel mit der Authentizität des Protagonisten und aller anderen Personen ist aber auch gleichzeitig ein Spiel mit dem Leser.


12 Jahre hat Max Frisch als Architekt gearbeitet, im Gegensatz zu seinem Vater, mit Diplom und als Zeichner von Werkplänen kam er sich dabei sehr männlich vor. In dieser Zeit lernt er Trudy kennen, eine Kollegin aus dem Büro.
12 Jahre hat Max Frisch als Architekt gearbeitet, im Gegensatz zu seinem Vater, mit Diplom und als Zeichner von Werkplänen kam er sich dabei sehr männlich vor. In dieser Zeit lernt er Trudy kennen, eine Kollegin aus dem Büro.
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Im Text belegt er ziemlich detailliert mit Einnahmen und Ausgaben, dass sein Lohn für die Miete und den Haushalt reicht. Nur das Kinderfräulein für die beiden Töchter und den Sohn bezahlt Trudy aus ihrem Vermögen, einem Vorschuss auf ihre Erbschaft.
Im Text belegt er ziemlich detailliert mit Einnahmen und Ausgaben, dass sein Lohn für die Miete und den Haushalt reicht. Nur das Kinderfräulein für die beiden Töchter und den Sohn bezahlt Trudy aus ihrem Vermögen, einem Vorschuss auf ihre Erbschaft.


Bei der Trennung nach 12 Jahren, er fühlt sich als der schuldige Teil,                                              
Bei der Trennung nach 12 Jahren, er fühlt sich als der schuldige Teil, geht er mit den wenigen, einzeln aufgelisteten Einrichtungsgegenständen, die er  in diese Ehe mitgebracht hat.
 
geht er mit den wenigen, einzeln aufgelisteten Einrichtungsgegenständen, die er  in diese Ehe mitgebracht hat.
 
 
In der Erzählung finden sich immer wieder Passagen, die „Max Frischs“ Verhältnis zum Geld beschreiben.  


Die einfachen und finanziell ungesicherten Verhältnisse seiner Eltern haben ihn in dieser Beziehung stark geprägt. Er erinnert sich an die stete Angst der Mutter vor Pfändungen. Geld ist für ihn nur ein Tauschmittel.
In der Erzählung finden sich immer wieder Passagen, die „Max Frischs“ Verhältnis zum Geld beschreiben. Die einfachen und finanziell ungesicherten Verhältnisse seiner Eltern haben ihn in dieser Beziehung stark geprägt. Er erinnert sich an die stete Angst der Mutter vor Pfändungen. Geld ist für ihn nur ein Tauschmittel. Deshalb ist es eigentlich auch für ihn selbst um so verwunderlicher, dass er als erfolgreicher und wohlhabender Schriftsteller im Freundeskreis oft unpassend verschwenderisch mit Geld umgeht. Er sagt von sich: „Ich bin kein Reicher, sondern neureich.“[16]
 
Deshalb ist es eigentlich auch für ihn selbst um so verwunderlicher, dass er als erfolgreicher und wohlhabender Schriftsteller im Freundeskreis oft unpassend verschwenderisch mit Geld umgeht.
 
Er sagt von sich: „Ich bin kein Reicher, sondern neureich.“[16]
 


Wirklich reich war W., nicht nur was das Vermögen der Eltern, sondern auch seine breitgefächerten Begabungen betraf. Schon während der gemeinsamen Gymnasialzeit zeigte sich die Überlegenheit dieses Freundes. Er war ein intelligenter Schüler, kannte sich in Kunst und Musik ungewöhnlich gut aus, war ein ausdauernder Sportler und „ein philosophisches Temperament“.[17]
Wirklich reich war W., nicht nur was das Vermögen der Eltern, sondern auch seine breitgefächerten Begabungen betraf. Schon während der gemeinsamen Gymnasialzeit zeigte sich die Überlegenheit dieses Freundes. Er war ein intelligenter Schüler, kannte sich in Kunst und Musik ungewöhnlich gut aus, war ein ausdauernder Sportler und „ein philosophisches Temperament“.[17]
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Aber zum Schluss der Passage steht im Text: „Hätte ich mich ihm weniger unterworfen, es wäre ergiebiger gewesen, auch für ihn.“[18]
Aber zum Schluss der Passage steht im Text: „Hätte ich mich ihm weniger unterworfen, es wäre ergiebiger gewesen, auch für ihn.“[18]


„IN DIESEN TAGEN STEH ICH AUF MIT DEN BIRKEN
„IN DIESEN TAGEN STEH ICH AUF MIT DEN BIRKEN
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UND MICH ERINNERN MUSS." [19]
UND MICH ERINNERN MUSS." [19]


Seine Erinnerung an Ingeborg Bachmann leitet der Erzähler mit 6 Zeilen aus ihrem Liebesgedicht „Tage in Weiß“ ein.[20]
Seine Erinnerung an Ingeborg Bachmann leitet der Erzähler mit 6 Zeilen aus ihrem Liebesgedicht „Tage in Weiß“ ein.[20]
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„Ich bin ein Narr und weiß es. Ihre Freiheit gehört zu ihrem Glanz.“[21]
„Ich bin ein Narr und weiß es. Ihre Freiheit gehört zu ihrem Glanz.“[21]


In der Erzählung heißt es:
In der Erzählung heißt es: „Das ist vor 13 Jahren gewesen. Ingeborg ist tot. Zuletzt gesprochen haben wir uns 1963 in einem römischen Cafe´ vormittags.“[22]
 
„Das ist vor 13 Jahren gewesen. Ingeborg ist tot. Zuletzt gesprochen haben wir uns 1963 in einem römischen Cafe´ vormittags.“[22]
 


Oft provozieren Fragen von Lynn bei ihm Reflexionen über seine Art zu leben und Lebensgeschichten als Schriftsteller zu bearbeiten.
Oft provozieren Fragen von Lynn bei ihm Reflexionen über seine Art zu leben und Lebensgeschichten als Schriftsteller zu bearbeiten.
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Und er erkennt, dass der Versuch Leben zu beschreiben nur teilweise gelingen kann; denn wenn man beim Schreiben den Leser im Blick hat, wird es nur in Teilen eine wahre Geschichte, vieles wird stilisiert oder verschwiegen.
Und er erkennt, dass der Versuch Leben zu beschreiben nur teilweise gelingen kann; denn wenn man beim Schreiben den Leser im Blick hat, wird es nur in Teilen eine wahre Geschichte, vieles wird stilisiert oder verschwiegen.


Und so sagt Marianne am Ende ihrer 9-jährigen Beziehung zu ihm:
Und so sagt Marianne am Ende ihrer 9-jährigen Beziehung zu ihm:


„ICH HABE NICHT  MIT  DIR GELEBT ALS LITERARISCHES MATERIAL, ICH VERBIETE ES, DASS DU ÜBER MICH SCHREIBST.“[25]
„ICH HABE NICHT  MIT  DIR GELEBT ALS LITERARISCHES MATERIAL, ICH VERBIETE ES, DASS DU ÜBER MICH SCHREIBST.“[25]  
 


Die Liebe zu Marianne, sein Leben mit ihr und sein Scheitern im Zusammenleben mit ihr, nehmen in der Erzählung einen breiten Raum ein. Er hatte die Studentin in Rom kennen gelernt und mit ihr auch schon dort zusammengelebt. In teilweise recht langen Passagen beschreibt Max Frisch den Kauf, den Ausbau  und die Einrichtung des alten Bauernhauses in Berzona, gedacht als ihr gemeinsames Zuhause, die Hochzeit dort, viel bescheidener als beim ersten Mal, die Zeit in Berlin und Reisen in die USA und die Bretagne. In der Art von Kippbildern lösen Orte, die er mit Lynn besucht oder auch nur ihre bloße Gegenwart Rückblicke und Reminiszenzen an diese Zeit aus.   
Die Liebe zu Marianne, sein Leben mit ihr und sein Scheitern im Zusammenleben mit ihr, nehmen in der Erzählung einen breiten Raum ein. Er hatte die Studentin in Rom kennen gelernt und mit ihr auch schon dort zusammengelebt. In teilweise recht langen Passagen beschreibt Max Frisch den Kauf, den Ausbau  und die Einrichtung des alten Bauernhauses in Berzona, gedacht als ihr gemeinsames Zuhause, die Hochzeit dort, viel bescheidener als beim ersten Mal, die Zeit in Berlin und Reisen in die USA und die Bretagne. In der Art von Kippbildern lösen Orte, die er mit Lynn besucht oder auch nur ihre bloße Gegenwart Rückblicke und Reminiszenzen an diese Zeit aus.   


„ Es ist allerlei, was er nicht vergisst in dieser dünnen Gegenwart.“[26]
„ Es ist allerlei, was er nicht vergisst in dieser dünnen Gegenwart.“[26] aber, im Unterschied dazu: „Lynn wird kein Name sein für eine Schuld.“[27]
 
aber, im Unterschied dazu:
 
„Lynn wird kein Name sein für eine Schuld.“[27]
 


Das Wochenende in Montauk wird fast als zeitentrückter Augenblick beschrieben. Das Meer vor einem offenen Horizont mit den zwei einsamen Sesseln auf einem langen leeren Strand suggerieren ein Bild von Gelassenheit und Ruhe.
Das Wochenende in Montauk wird fast als zeitentrückter Augenblick beschrieben. Das Meer vor einem offenen Horizont mit den zwei einsamen Sesseln auf einem langen leeren Strand suggerieren ein Bild von Gelassenheit und Ruhe.
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„Ich bin jetzt 61, 62, 63. Wie wenn man auf die Uhr blickt und sieht: So spät ist es schon! Die Angst vor dem Alter ist melancholisch, das Todesbewusstsein ist etwas anderes, ein Bewusstsein auch in der Freude.“[29]
„Ich bin jetzt 61, 62, 63. Wie wenn man auf die Uhr blickt und sieht: So spät ist es schon! Die Angst vor dem Alter ist melancholisch, das Todesbewusstsein ist etwas anderes, ein Bewusstsein auch in der Freude.“[29]


Mit Lynn sollte es keine „Geschichte“ geben. „Unter anderem weiß ich, dass es sich verbietet, eine jüngere Frau an diese meine Zukunftslosigkeit binden zu wollen.“ [30]
 
Mit Lynn sollte es keine „Geschichte“ geben.
 
„Unter anderem weiß ich, dass es sich verbietet, eine jüngere Frau an diese meine Zukunftslosigkeit binden zu wollen.“ [30]
 


Einen Tag vor seinem 63-jährigen Geburtstag fliegt der Schriftsteller Max, wie er es geplant hatte, zurück nach Europa.
Einen Tag vor seinem 63-jährigen Geburtstag fliegt der Schriftsteller Max, wie er es geplant hatte, zurück nach Europa.
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== Zusammenfassung unter dem Aspekt der Alterstopologie ==
== Zusammenfassung unter dem Aspekt der Alterstopologie ==




Die Max Frisch Erzählung „Montauk“ ist auch eine Auseinandersetzung des Protagonisten mit seinem Alter, es wird allerdings diffuser und sehr individuell dargestellt.
Die Max Frisch Erzählung „Montauk“ ist auch eine Auseinandersetzung des Protagonisten mit seinem Alter, es wird allerdings diffuser und sehr individuell dargestellt.
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Die Altersklage allerdings  nimmt im Text einen ziemlich breiten Raum ein. Das Leben in Wiederholungen, auch der sich wiederholenden Fehler, die vielen Erinnerungen und der meist vergebliche Versuch, reine Gegenwart zu erleben, werden zwar oft mit Bedauern wahrgenommen, aber ohne Larmoyanz beschrieben. Die Reflexionen, die nur so im Alter möglich sind, bieten stattdessen die Möglichkeit des distanzierten Betrachtens und einer Bilanz. Der Begriff „OVERLOOK: etwas von einer erhöhten Warte überblicken“ weist deutlich darauf hin. Die physischen Veränderungen und das Auseinandersetzen mit dem Tod und dem eigenen Sterben werden sachlich, stellenweise fast lakonisch beschrieben. Die Altersklage wird hier zwar nicht in Alterslob umgewertet, aber das Alter wird als ein Zeitraum am Ende des Lebens begriffen und akzeptiert.
Die Altersklage allerdings  nimmt im Text einen ziemlich breiten Raum ein. Das Leben in Wiederholungen, auch der sich wiederholenden Fehler, die vielen Erinnerungen und der meist vergebliche Versuch, reine Gegenwart zu erleben, werden zwar oft mit Bedauern wahrgenommen, aber ohne Larmoyanz beschrieben. Die Reflexionen, die nur so im Alter möglich sind, bieten stattdessen die Möglichkeit des distanzierten Betrachtens und einer Bilanz. Der Begriff „OVERLOOK: etwas von einer erhöhten Warte überblicken“ weist deutlich darauf hin. Die physischen Veränderungen und das Auseinandersetzen mit dem Tod und dem eigenen Sterben werden sachlich, stellenweise fast lakonisch beschrieben. Die Altersklage wird hier zwar nicht in Alterslob umgewertet, aber das Alter wird als ein Zeitraum am Ende des Lebens begriffen und akzeptiert.


Die Stereotypen der Alterstopoi klingen also auch  in der Erzählung „Montauk“ noch in unterschiedlicher Weise an, aber im vorliegenden Text werden die Ambivalenz und die Umformung der traditionellen Begriffe in der neueren Literatur deutlich.
Die Stereotypen der Alterstopoi klingen also auch  in der Erzählung „Montauk“ noch in unterschiedlicher Weise an, aber im vorliegenden Text werden die Ambivalenz und die Umformung der traditionellen Begriffe in der neueren Literatur deutlich.

Aktuelle Version vom 18. Juli 2014, 18:53 Uhr


Biografisches

Neben den Tagebüchern gilt Max Frischs Erzählung Montauk, 1974 geschrieben und 1975 veröffentlicht, als ein autobiographisches Werk[1].

Deshalb zunächst einige ausführlichere Lebensdaten , die mir zum Verständnis des Buches wichtig erschienen:

Max Frisch wird am 15. Mai 1911 in Zürich als drittes Kind des Architekten Franz Bruno Frisch und seiner Ehefrau Karolina Bettina geb. Wildermuth geboren. Die Halbschwester Emma Elisabeth, geboren 1899, entstammt der ersten Ehe seines Vaters, der Bruder Franz Bruno ist zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt.

Nach dem Besuch des Kantonalen Realgymnasiums und der Matura 1930 beginnt er ein Germanistikstudium in Zürich und schreibt nebenbei kleinere Artikel für die „Neue Zürcher Zeitung“.

Der plötzliche Tod seines Vaters 1932 aber zwingt ihn, sein Studium abzubrechen, er wird freier Mitarbeiter der „Neuen Zürcher Zeitung“.

Während dieser Zeit schreibt er seinen ersten Roman „Jürg Reinhart. Eine sommerliche Schicksalsfahrt“, der 1934 in Stuttgart erscheint.

In diese Zeit fällt auch die Liebesbeziehung zu der aus Berlin stammenden jüdischen Studentin Käte Rubensohn, die später, 1936, seinen Heinratsantrag ablehnt, weil sie seine Motive für eine Ehe nicht für ausreichend hält.

Ab1936 finanziert ihm Werner Coninx, mit dem er seit der Gymnasialzeit eng befreundet ist, das Architekturstudium.

In „Montauk“ beschreibt der Ich- Erzähler sehr ausführlich sein Freundschaftsverhältnis zu W., dem Klassenkameraden aus dem Züricher Gymnasium.

Obwohl 1937 sein zweiter Roman „Antwort aus der Stille. Eine Erzählung aus den Bergen“ wieder in Stuttgart herausgegeben wird, zweifelt Max Frisch inzwischen an seinen Fähigkeiten als Schriftsteller und nimmt sich vor, nie wieder zu schreiben.

Zu Beginn des zweiten Weltkrieges wird Frisch als Kanonier eingezogen und leistet bis 1945 insgesamt 650 Diensttage ab.

1940 erwirbt er sein Architektendiplom, erhält eine feste Anstellung und heiratet 1942 Gertrud Anna Constanze von Meyerburg, eine Kollegin.

Aus dieser Ehe gehen drei Kinder hervor: 1943 die Tochter Ursula,1944 der Sohn Peter und 1949 die Tochter Charlotte.

Bei einem Wettbewerb zum Bau eines Freibades gewinnt Max Frisch den ersten Preis und macht sich 1943 selbständig.

Der Architekt, der eigentlich literarisch nicht mehr tätig sein wollte, schreibt und veröffentlicht während dieser ganzen Zeit doch weiter: Tagebücher und einen Roman, später Theaterstücke und Hörspiele.

Er unternimmt Reisen neben anderen nach Deutschland, Österreich, Italien und ab 1951 auch immer wieder in die USA.

1954 trennt er sich von seiner Familie, verkauft 1955 sein Architekturbüro und lebt von da an als freier Schriftsteller am Zürichsee.

Bis 1957 erscheinen die Romane „Stiller“ und „Homo Faber“.

Er erhält für seine Arbeiten etliche Preise, 1958 den renommierten Georg- Büchner- Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Im gleichen Jahr lernt Max Frisch die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann kennen. Nach seiner Scheidung 1959 übersiedelt er 1960 zu ihr nach Rom. Die intensive aber sehr konfliktreiche Liebesbeziehung endet bereits 1962.

Max Frisch bleibt zunächst in Rom, lernt bald die Studentin Marianne Oellers kennen und lebt mit ihr in den folgenden Jahren zusammen, in Italien und in Deutschland.

1964 kauft er in Berzona ein altes Bauernhaus und übersiedelt ins Tessin.

Im selben Jahr erscheint der Roman „Mein Name sei Gantenbein“.

Die ihm 1965 von den Sozialdemokraten angetragene Kandidatur für das Amt des Züricher Stadtpräsidenten lehnt er ab.

Einem Aufenthalt in Berlin, finanziert als Stipendium der „Ford- Foundation“, folgen Reisen nach Israel, in die Sowjetunion, in die Tschechoslowakei und 1969 auch nach Japan.

1968 heiraten Marianne Oellers und Max Frisch, aber auch diese Beziehung ist nicht von Dauer. 1973 beschließen beide die Trennung.

Die Krise seiner zweiten Ehe und die Begegnung mit der 31-jährigen Alice Locke- Carey während eines kurzen USA- Aufenthaltes 1975 geben den Anstoß für die Erzählung „Montauk“, die 1975 bei Suhrkamp veröffentlicht wird.

1976 wird ihm der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen, bis 1982 folgen das Stück „Tryptychon. Drei szenische Bilder“ und die Erzählungen „Der Mensch erscheint im Holozän“ und „Blaubart“.

1980 trifft er Alice Locke-Carey wieder. Gemeinsam leben sie bis 1984 abwechselnd in Berzona und New York.

In Berzona dreht Philippe Pilliod mit ihm das vielbeachtete 27-stündige Video- Interview „Gespräche im Alter“, das in Fortsetzungen auch vom WDR gesendet wurde.

1986 erhält Max Frisch den „Neustadt- Literaturpreis“ der University of Oklahoma und stellt die Preissumme von 25000 Dollar für den Bau einer Schule in Nicaragua zur Verfügung.

Die letzten größeren Publikationen sind 1989 „Schweiz ohne Armee? Ein Palaver“ in Deutsch, Französisch und Italienisch und 1990 „Schweiz als Heimat? Versuche über 50 Jahre“.

1991 stirbt Max Frisch in seiner Züricher Wohnung.


Wichtige Titel

  • 1934 Jürg Reinhart. Eine sommerliche Schicksalsfahrt.
  • 1937 Antwort aus der Stille. Eine Erzählung aus den Bergen.
  • 1940 Blätter aus dem Brotsack
  • 1944 Bin oder Die Reise nach Peking. Eine Romanze.
  • 1945 Nun singen sie wieder.
  • 1946 Die chinesische Mauer. Eine Farce.
  • 1949 Als der Krieg zu Ende war.
  • 1950 Tagebuch 1946- 1949, Graf Öderland
  • 1951 Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie.
  • 1952 Herr Biedermann und die Brandstifter.
  • 1954 Stiller
  • 1957 Homo faber. Ein Bericht
  • 1961 Andorra
  • 1964 Mein Name sei Gantenbein.
  • 1965 Biographie: Ein Spiel.
  • 1972 Tagebuch 1966- 1971
  • 1974 Montauk. Eine Erzählung
  • 1978 Triptychon. Drei szenische Bilder
  • 1979 Der Mensch erscheint im Holozän.
  • 1990 Schweiz als Heimat? Versuche über 50 Jahre.


Inhalt

„DIES IST EIN AUFRICHTIGES BUCH, LESER, ES WARNT DICH SCHON BEIM EINTRITT, DASS ICH MIR DARIN KEIN ANDERES ENDE VORGESETZT HABE ALS EIN HÄUSLICHES UND PRIVATES... ICH HABE ES DEM PERSÖNLICHEN GEBRAUCH MEINER FREUNDE UND ANGEHÖRIGEN GEWIDMET, AUF DASS SIE, WENN SIE MICH VERLOREN HABEN, EINIGE ZÜGE MEINER LEBENSART UND MEINER GEMÜTSVERFASSUNG WIEDER FINDEN... DENN ICH BIN ES, DEN ICH DARSTELLE. MEINE FEHLER WIRD MAN HIER FINDEN, SO WIE SIE SIND, UND MEIN UNBEFANGENES WESEN, SO WEIT ES NUR DIE ÖFFENTLICHE SCHICKLICHKEIT ERLAUBT... SO BIN ICH SELBER, LESER, DER EINZIGE INHALT MEINES BUCHES; ES IST NICHT BILLIG, DASS DU DEINE MUSSE AUF EINEN SO EITLEN UND GERINGFÜGIGEN GEGENSTAND VERWENDEST./ MIT GOTT DENN, ZU MONTAIGNE, AM ERSTEN MÄRZ 1580.“[2]

Max Frisch stellt seiner Erzählung „Montauk“ programmatisch das Montaigne Zitat voran und provoziert so seine Leser „zu umfänglichem Spekulieren über die Unterschiede zwischen Fiktion und direkter Mitteilung, zwischen Logbuch und Liebesnovelle.“[3]

Die dreifache Bedeutung des englischen Begriffs OVERLOOK im Sinne von 1.„etwas von einer erhöhten Warte überblicken“, 2.„etwas übersehen“ und 3.„vorgeben, etwas nicht zu sehen“[4] verweist gleich zu Anfang paradigmatisch auf einen changierenden Text und deutet die Absicht des Autors an, einen Lebensrückblick zu gestalten, bei dem das Aufspüren von Grundmustern und sein „Life as a man“[5] auch im Hinblick auf den Prozess des Alterns besonders im Vordergrund stehen.

Er montiert aus Gegenwartsereignissen, englischen Sprachsegmenten, Zitaten, auch aus seinen Romanen „Stiller“, „Sein Name sei Gantenbein“ und „Homo Faber“, aus Erinnerungen, Selbstreflexionen und autobiographischem Material eine Collage, die auch durch den Wechsel zwischen Ich- und Er- Erzähler deutlich macht, wie schwierig, ja eigentlich unmöglich es ist, die Wahrheit über das eigene Leben zu schreiben, ohne zu stilisieren.

Auf der Oberfläche wird das von vorn herein nur auf kurze Zeit begrenzte Liebesabenteuer beschrieben, das der alternde Schriftsteller „Max“ mit der nur halb so alten, geschiedenen Verlagsangestellten Lynn eingeht, die er während einer Lesereise durch die USA bei einem Interview in New York kennen lernt und einige Male wieder trifft. Sie verbringen ein gemeinsames Wochenende in Montauk, einem kleinen Ort auf der der Stadt vorgelagerten Sommerfrische Long Island.

Lynn, “die junge Fremde“, wie er sie einmal bezeichnet, wird immer nur in der dritten Person beschrieben. Sie ist die verkörperte Gegenwart, mit der es keine „Geschichte“ geben wird. „Er“, in der Erzählung, ist ein Mann, der mit ihr diese wenigen Tage verleben möchte, der sich zwar als alt, uninteressant und langweilig empfindet, der aber auch immer wieder zwischen den Zeilen deutlich macht, dass er eine erfolgreiche literarische Berühmtheit ist.

Als Schriftsteller wünscht er sich, dieses Wochenende und seine einmalige Präsenz in Worte fassen und beschreiben zu können, “ohne etwas dabei zu erfinden.“[6] Aber es gelingt ihm nicht. Sein vergangenes Leben und die damit verbundenen Erfahrungen drängen sich immer wieder in den Vordergrund. Schon ziemlich zu Anfang des Textes heißt es: “Es stört ihn, dass immer Erinnerungen da sind“[7] und er erklärt sich das mit der verfremdenden Art der Kommunikation, beide sprechen Englisch miteinander. „...schweigend in der Fremdsprache verdränge ich weniger, das Gedächtnis wird durchlässiger...“[8]

Der Aufenthalt am Atlantik wird überlagert von Erinnerungen an ähnliche Aufenthalte am Meer, in Griechenland, auf Sylt oder in der Bretagne, sein jetziger Amerika- Besuch von seinen sechs früheren, sein Strandspaziergang, während Lynn schläft von dem Strandspaziergang 16 Jahre zuvor, während Ingeborg schlief.

Diese Erfahrung des „Deja vu“ zieht sich durch das ganze Buch, Leben in Wiederholungen, gleichermaßen als Erstarrung in der Wiederholung.

Gegenwartserlebnisse, manchmal auch Fragen der jungen Freundin, lösen intensive Rückblicke und Reflexionen aus, gerade auch über sein problematisches Verhältnis zu Frauen.

Ausführlich beschreibt er, jetzt aus der Sicht des Ich- Erzählers, seine Liebesgeschichte mit seiner jüdischen Braut Käte in den 30er Jahren. Sie kam aus Berlin, studierte in Zürich und er sagt über diese Zeit: „Nicht einmal in fünf Jahren auch nur die heimliche Versuchung einer Untreue“.[9]

Er will sie heiraten, damit sie in der Schweiz bleiben kann. Aber Käte merkt:“...das ist nicht Liebe, die Kinder will.“[10] Und später sagt sie: „Du bist bereit, mich zu heiraten, nur weil ich Jüdin bin, nicht aus Liebe.“[11]

Literarisch bearbeitet finden wir diese Situation in „Homo Faber“[12] wieder.

Beim Spaziergang über die Insel gehen Lynn und er manchmal Hand in Hand und er denkt darüber nach, dass ihr Verhältnis zueinander einem Außenstehenden nicht klar sein kann. Sind sie ein Paar oder Vater und Tochter?

„Lynn wird 31.“[13] Seine ältere Tochter ist jetzt genauso alt und über das letzte Treffen mit ihr einige Wochen zuvor schreibt er: „Die Begegnung: nicht leicht, nicht schwer.“[14] Und danach: „Es ist nicht klar geworden, warum man sich jetzt so wenig zu sagen hat.“[15]

Und immer wieder verdrängt im Text die erinnerte Vergangenheit die Gegenwart.

Diese Form des stilisierten Bewusstseinsstroms, der Wechsel der Erzählerperspektive und das Spiel mit der Authentizität des Protagonisten und aller anderen Personen ist aber auch gleichzeitig ein Spiel mit dem Leser.

12 Jahre hat Max Frisch als Architekt gearbeitet, im Gegensatz zu seinem Vater, mit Diplom und als Zeichner von Werkplänen kam er sich dabei sehr männlich vor. In dieser Zeit lernt er Trudy kennen, eine Kollegin aus dem Büro.

Sie stammt aus einem großbürgerlichen Elternhaus und er heiratet sie, wie er ausdrücklich betont, aus Liebe und nicht, wie Freunde vermuten, weil sie reich ist.

Im Text belegt er ziemlich detailliert mit Einnahmen und Ausgaben, dass sein Lohn für die Miete und den Haushalt reicht. Nur das Kinderfräulein für die beiden Töchter und den Sohn bezahlt Trudy aus ihrem Vermögen, einem Vorschuss auf ihre Erbschaft.

Bei der Trennung nach 12 Jahren, er fühlt sich als der schuldige Teil, geht er mit den wenigen, einzeln aufgelisteten Einrichtungsgegenständen, die er in diese Ehe mitgebracht hat.

In der Erzählung finden sich immer wieder Passagen, die „Max Frischs“ Verhältnis zum Geld beschreiben. Die einfachen und finanziell ungesicherten Verhältnisse seiner Eltern haben ihn in dieser Beziehung stark geprägt. Er erinnert sich an die stete Angst der Mutter vor Pfändungen. Geld ist für ihn nur ein Tauschmittel. Deshalb ist es eigentlich auch für ihn selbst um so verwunderlicher, dass er als erfolgreicher und wohlhabender Schriftsteller im Freundeskreis oft unpassend verschwenderisch mit Geld umgeht. Er sagt von sich: „Ich bin kein Reicher, sondern neureich.“[16]

Wirklich reich war W., nicht nur was das Vermögen der Eltern, sondern auch seine breitgefächerten Begabungen betraf. Schon während der gemeinsamen Gymnasialzeit zeigte sich die Überlegenheit dieses Freundes. Er war ein intelligenter Schüler, kannte sich in Kunst und Musik ungewöhnlich gut aus, war ein ausdauernder Sportler und „ein philosophisches Temperament“.[17]

Max Frisch hat das Ungleichgewicht dieser Freundschaft mit vielen Beispielen geschildert. Keineswegs lehrerhaft, wie Frisch sagt, ließ W. ihn am eigenen Wissen und seinen Möglichkeiten teilhaben. Später finanzierte dieser ihm sogar das vierjährige Architekturstudium. Aus dieser ständigen Verpflichtung zur Dankbarkeit entwickelte sich eine Art Vater/ Sohn-Konflikt. Die Frage, was W. denn von dieser Freundschaft gehabt habe, wird in der Erzählung nicht beantwortet.

Aber zum Schluss der Passage steht im Text: „Hätte ich mich ihm weniger unterworfen, es wäre ergiebiger gewesen, auch für ihn.“[18]

„IN DIESEN TAGEN STEH ICH AUF MIT DEN BIRKEN

UND KÄMM MIR DAS WEIZENHAAR AUS DER STIRN

VOR EINEM SPIEGEL AUS EIS.

...

IN DIESEN TAGEN SCHMERZT MICH NICHT,

DASS ICH VERGESSEN KANN

UND MICH ERINNERN MUSS." [19]

Seine Erinnerung an Ingeborg Bachmann leitet der Erzähler mit 6 Zeilen aus ihrem Liebesgedicht „Tage in Weiß“ ein.[20]

Er war durch ihr hochgelobtes Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“ auf sie aufmerksam geworden und hatte sie wenig später in Paris kennen gelernt.

Die Liebesgeschichte, die er jetzt mit der 18 Jahre jüngeren Dichterin beginnt, gleicht fast einer Obsession. Sie wehrt sich gegen seine Vereinnahmungen, verteidigt ihre eigenen Domänen und möchte zum Beispiel nicht, dass er je zu einer Tagung der GRUPPE 47 kommt. Er reagiert mit Unverständnis und Eifersucht. Sie mieten eine gemeinsame Wohnung in Rom, aber wenn sie manchmal für Wochen verreist, weiß er mit sich nichts anderes anzufangen, als auf ihre Rückkehr zu warten.

„Ich bin ein Narr und weiß es. Ihre Freiheit gehört zu ihrem Glanz.“[21]

In der Erzählung heißt es: „Das ist vor 13 Jahren gewesen. Ingeborg ist tot. Zuletzt gesprochen haben wir uns 1963 in einem römischen Cafe´ vormittags.“[22]

Oft provozieren Fragen von Lynn bei ihm Reflexionen über seine Art zu leben und Lebensgeschichten als Schriftsteller zu bearbeiten.

„Der Schriftsteller scheut sich vor Gefühlen, die sich zur Veröffentlichung nicht eignen; er wartet dann auf seine Ironie; seine Wahrnehmungen unterwirft er der Frage, ob sie beschreibenswert wären und er erlebt ungern, was er keinesfalls in Worte bringen kann.“[23]

Etwas später heißt es dann sinngemäß, als Schriftsteller habe er zum Beispiel viel über Eifersucht geschrieben und sich deshalb in den letzten Jahren auch als Mensch jede Eifersucht versagt, weil es keine neue Erfahrung mehr für ihn sei.

„Das ist der Nutzen der Schriftstellerei für den Schriftsteller als Person; er muß gewisse Tatbestände, wenn sie in seinem Leben wiederkehren, anders verarbeiten – um Schriftsteller zu bleiben...“[24]

Und er erkennt, dass der Versuch Leben zu beschreiben nur teilweise gelingen kann; denn wenn man beim Schreiben den Leser im Blick hat, wird es nur in Teilen eine wahre Geschichte, vieles wird stilisiert oder verschwiegen.

Und so sagt Marianne am Ende ihrer 9-jährigen Beziehung zu ihm:

„ICH HABE NICHT MIT DIR GELEBT ALS LITERARISCHES MATERIAL, ICH VERBIETE ES, DASS DU ÜBER MICH SCHREIBST.“[25]

Die Liebe zu Marianne, sein Leben mit ihr und sein Scheitern im Zusammenleben mit ihr, nehmen in der Erzählung einen breiten Raum ein. Er hatte die Studentin in Rom kennen gelernt und mit ihr auch schon dort zusammengelebt. In teilweise recht langen Passagen beschreibt Max Frisch den Kauf, den Ausbau und die Einrichtung des alten Bauernhauses in Berzona, gedacht als ihr gemeinsames Zuhause, die Hochzeit dort, viel bescheidener als beim ersten Mal, die Zeit in Berlin und Reisen in die USA und die Bretagne. In der Art von Kippbildern lösen Orte, die er mit Lynn besucht oder auch nur ihre bloße Gegenwart Rückblicke und Reminiszenzen an diese Zeit aus.

„ Es ist allerlei, was er nicht vergisst in dieser dünnen Gegenwart.“[26] aber, im Unterschied dazu: „Lynn wird kein Name sein für eine Schuld.“[27]

Das Wochenende in Montauk wird fast als zeitentrückter Augenblick beschrieben. Das Meer vor einem offenen Horizont mit den zwei einsamen Sesseln auf einem langen leeren Strand suggerieren ein Bild von Gelassenheit und Ruhe.

Der Erzähler genießt einerseits die unmittelbare Erfahrung der Gegenwart, andererseits wird ihm durch die Fülle der erinnerten Vergangenheit deutlich, dass er dem eigenen Tod näher kommt. Schon früh heißt es an einer Stelle im Text: „Es mehren sich die Toten als Freundeskreis.“[28] und

„Ich bin jetzt 61, 62, 63. Wie wenn man auf die Uhr blickt und sieht: So spät ist es schon! Die Angst vor dem Alter ist melancholisch, das Todesbewusstsein ist etwas anderes, ein Bewusstsein auch in der Freude.“[29]

Mit Lynn sollte es keine „Geschichte“ geben. „Unter anderem weiß ich, dass es sich verbietet, eine jüngere Frau an diese meine Zukunftslosigkeit binden zu wollen.“ [30]

Einen Tag vor seinem 63-jährigen Geburtstag fliegt der Schriftsteller Max, wie er es geplant hatte, zurück nach Europa.


Zusammenfassung unter dem Aspekt der Alterstopologie

Die Max Frisch Erzählung „Montauk“ ist auch eine Auseinandersetzung des Protagonisten mit seinem Alter, es wird allerdings diffuser und sehr individuell dargestellt.


Das Alterslob ist gekoppelt an die Berühmtheit und die finanzielle Sicherheit des Erzählers. Er genießt seinen Erfolg und seine Bekanntheit vor allem auch im Zusammentreffen mit jüngeren Menschen. Sein Reichtum macht ihn auf der einen Seite stolz, sich materielle Güter leisten zu können, auf der anderen Seite aber verwirrt und verunsichert ihn der Besitz von soviel Geld manchmal, mit dem er glaubt nicht richtig umgehen zu können.

Der Altersspott hat eine sehr eindeutige Umformung erfahren. Sexuelle Aktivitäten standen einem alten Mann nicht mehr zu und wurden meist in der Literatur als Lüsternheit des Alters karikiert.

Die Liebesverhältnisse, die in der Erzählung der alternde Schriftsteller Max, mit seinen teilweise erheblich jüngeren Partnerinnen eingeht, werden von allen Beteiligten, aber auch von der Gesellschaft, als vom Alter des Mannes unabhängig empfunden und auch so dargestellt.

Die Altersklage allerdings nimmt im Text einen ziemlich breiten Raum ein. Das Leben in Wiederholungen, auch der sich wiederholenden Fehler, die vielen Erinnerungen und der meist vergebliche Versuch, reine Gegenwart zu erleben, werden zwar oft mit Bedauern wahrgenommen, aber ohne Larmoyanz beschrieben. Die Reflexionen, die nur so im Alter möglich sind, bieten stattdessen die Möglichkeit des distanzierten Betrachtens und einer Bilanz. Der Begriff „OVERLOOK: etwas von einer erhöhten Warte überblicken“ weist deutlich darauf hin. Die physischen Veränderungen und das Auseinandersetzen mit dem Tod und dem eigenen Sterben werden sachlich, stellenweise fast lakonisch beschrieben. Die Altersklage wird hier zwar nicht in Alterslob umgewertet, aber das Alter wird als ein Zeitraum am Ende des Lebens begriffen und akzeptiert.

Die Stereotypen der Alterstopoi klingen also auch in der Erzählung „Montauk“ noch in unterschiedlicher Weise an, aber im vorliegenden Text werden die Ambivalenz und die Umformung der traditionellen Begriffe in der neueren Literatur deutlich.