Gerbrand Bakker, Oben ist es still: Unterschied zwischen den Versionen

Aus Literarische Altersbilder
(Unterseite vorbereitet)
 
(Einleitungstext eingefügt)
Zeile 2: Zeile 2:


vgl. [1]
vgl. [1]
'Oben ist es still' ist der Roman, mit dem der niederländische Autor Gerbrand Bakker (Jahrgang 1962) im Erscheinungsjahr 2006 in den Niederlanden bekannt wurde. Nach der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung im Jahre 2008 wurde auch das deutsche Publikum auf den Autor aufmerksam.
„Ich habe Vater nach oben geschafft“.  Dieser kurze erste Satz des Romans weckt das Interesse des Lesers mit einem Schlage: das Unerhörte, der Tabubruch, macht neugierig auf einen Ich-Erzähler, der uns die Geschichte seines Lebens – in einzelnen Rückblenden – und seiner Gegenwart erzählt. Wir werden Zeuge von Veränderungen, die mit einem Gewaltakt beginnen: Helmer van Wonderen, 55, trägt seinen Vater gegen dessen Willen nach oben ins 'Kinderzimmer', aus dem dieser aufgrund seiner Altersschwäche und  Krankheit nicht mehr entkommen kann.
Es ist die Geschichte eines Befreiungsversuchs, angesiedelt in einem eng begrenzten ländlichen Raum, auf einem Bauernhof, nicht aber in einer ländlichen Idylle.
Helmer selbst ist in die Räume des Vaters gezogen, hat sie ausgeräumt, frisch gestrichen und teilweise auch neu möbliert. Seit Jahren hatte er die Rolle des Bauern übernommen, melkt die Kühe, kümmert sich um die Aufzucht der Schafe und versorgt die Hühner und die beiden Esel, die er für sich allein angeschafft hat. Nun beansprucht er auch räumlich den Platz des Vaters, er setzt sich ins Zentrum des Hauses.
In Rückblenden erfährt der Leser, wie er zusammen mit seinem Zwillingsbruder Henk und seinen Eltern auf diesem Hof aufgewachsen ist. Der Vater war für ihn ein schlagender Tyrann, dem er nie widersprochen hat. Mit der Mutter, die sich ebenfalls unterordnet, verständigt er sich stumm über Blickkontakte. Mit seinem Zwillingsbruder Henk fühlt er sich bis hin zur Verschmelzung als Einheit, bis dieser eines Tages Riet kennenlernt, was eine  gewisse Fremdheit und Disharmonie in ihr Zusammenleben bringt. Während sein Bruder eindeutig die Nachfolge des Vaters als Bauer angetreten hat, beginnt Helmer nach der Schule ein Studium der Literaturwissenschaft im nahe gelegenen  Amsterdam.
Doch schon Monate später erleiden Henk und Riet einen Autounfall, bei dem Henk stirbt und der das Gefüge der Familie zerstört: der Vater verweist Riet aus dem Haus und bestimmt, dass Helmer sein Studium abbricht und die Rolle seines Bruders übernimmt. Helmer fügt sich ohne Widerspruch und erleidet von da an ein fremdbestimmtes, meistens freudloses Leben ohne Veränderungen und Perspektive. Symbol für die Sehnsucht nach einem anderen Leben ist später eine Dänemarkkarte, die er manchmal betrachtet und deren Ortsnamen er vor sich hin murmelt.
Auch der Knecht Jaap, mit dem er sich früher gut verstand, der ihm das Schlittschuhlaufen beibrachte und der ihn ernst nahm, war vom Vater vom Hof entfernt worden. Zwischen ihnen gab es sehr vorsichtige homoerotische Begegnungen, die in Andeutungen bleiben.
Mit dem Tod der Mutter, etwa 25 Jahre nach Henks Tod, endet die letzte emotionale Bindung in Helmers Leben.
Neue, sehr lockere Kontakte bekommt er lediglich zu der Nachbarin Ada und ihren Kindern Teun und Ronald, zu dem Viehhändler, der ab und zu vorbeikommt, und zu den beiden Milchfahrern, die täglich die frische Milch abholen.
Nachdem Helmer sich unten im Haus eingerichtet hat – seinen Vater betreut er nur unregelmäßig und widerwillig – tritt ein weiteres Ereignis in sein Leben: Riet, die Verlobte seines Bruders, nimmt nach über 35 Jahren Kontakt mit ihm auf; sie erklärt in Briefen ihre Situation – sie ist Witwe mit drei Kindern, von denen nur der Jüngste noch bei ihr lebt – und bittet Helmer, diesen Sohn Henk als Knecht bei sich aufzunehmen. Helmer willigt zögernd ein und nimmt  ihn in seinem Haus auf.
Es entwickelt sich ein recht ambivalentes Verhältnis zwischen den beiden: eine große Fremdheit bleibt, aber auch ein Vertrautsein, eine fast freundschaftliche Beziehung entwickelt sich. Als Helmer eines Tages ein Schaf, das im Wassergraben zu ertrinken droht, herausziehen will, gerät er selber in den modrigen Untergrund und kann sich unter dem Schaf nicht mehr befreien. Henk zieht ihn im letzten Moment aus dem Wasser und rettet so sein Leben. Auch zwischen ihnen gibt es vorsichtige homoerotische Annäherungen. Beide gewinnen durch den anderen, verstören aber auch.
So kommt es, dass Henk nach etwa drei Monaten eines Tages kurz entschlossen den Hof verlässt und zu seiner Mutter zurückfährt.
Zu dieser Zeit hat Helmers Vater beschlossen zu sterben, er trinkt nur noch ein wenig Wasser und Saft. Helmer glaubt, sein Vater schliefe, als er ihm über seinen Schmerz erzählt, den er all die Jahre über die gefühlte Ablehnung empfunden hat. Es gibt auf beiden Seiten Anzeichen für ein gegenseitiges Verständnis, ohne dass es zu einer expliziten Versöhnung kommt. Wenig später stirbt der Vater.
Helmer ist nun allein, als er auf der Straße zum Haus einen Wagen mit einem alten Mann sieht; es ist der alte Knecht Jaap, der noch einmal zurückgekehrt ist, ohne dafür einen Grund zu nennen.
Eine kurze Zeit darauf verkauft Helmer seine Kühe, bittet Ada und die Kinder, die Schafe, Esel und Hühner zu versorgen, und fährt mit Jaap nach Dänemark. Er scheint zu sich gefunden zu haben, hat die Vergangenheit hinter sich gelassen und lebt im Jetzt.
Ähnlich wie der Ich-Erzähler, der nach dem Tod seines Bruders nie mehr einem Menschen wirkliche Nähe erlaubt, weil er seine eigene Identität in Frage gestellt sieht, bleibt der Leser den ganzen Roman hindurch mit einer gewissen Distanz und Unsicherheit zurück.
Inwiefern steuern Erzählhaltung, Figurenkonstellation und Zeitgestaltung diese Rezeption des Textes?
Wie erzeugt ein Text Spannung, in dem die Handlung eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint und in dem die Beobachtung und der innere Monolog des Erzählers einen großen Raum einnehmen?
Ist die Erzählerfigur identifikatorisch angelegt?
Der Roman erzählt von einem Leben, das jede Symmetrie, jedes Gleichgewicht verloren hat; wie gelingt es dem Autor, eine Entwicklung dieser Figur glaubwürdig zu konstruieren?
Die Techniken der klassischen Erzähltextanalyse gründen vorwiegend auf binären Oppositionen. Gerade im vorliegenden Roman scheint in der antithetischen Figurenkonstellation ein Schlüssel zur Erschließung zu liegen. Wie sehr sind Werteopposition und Ambivalenz ein Grundmuster, das die Geschichte vorantreibt?
Auf dieser Folie können vielleicht auch die Räume betrachtet werden (oben-unten, innen-draußen u.s.w.). Sind sie Projektionsebenen für innere Räume, Räume der Erinnerung, Entwicklungsräume?
Eine auffällige, fast personale Rolle spielen Tiere in Bakkers Roman. Wie unterstützt die Tiermetaphorik als Spiegelung die Konstruktion der Figuren?
Auch die Betrachtung des Alter(n)s ist aufschlussreich: es gibt die Bewegung des alten Vaters zu einem schließlich bewussten Sterben hin, zum anderen die Bewegung des 'alten' Sohnes zu einer neuen Lebenssituation hin – fast einer Verjüngung – eine Gegenbewegung. Entsteht aus der Opposition von Jugend (Riets Sohn Henk) und Alter ein Spannungsfeld, aus dem heraus die Geschichte authentisch wird?
Mit dem Instrumentarium verschiedener erzähltheoretischer Modelle versuchen die Mitglieder der Projektgruppe „Literarische Altersbilder“ eine Analyse des Textes. Hierbei findet der klassische strukturalistische Ansatz der Narratologie Anwendung, wie er in unterschiedlichen Facetten bei Peter Wenzel  erläutert wird. Es erschien hierbei wenig sinnvoll, die Analyse in das enge Raster eines bestimmten Modells zu zwängen, vielmehr nutzen die Mitglieder verschiedene Aspekte des Kommunikations- und des Zwei-Ebenen-Modells, um so möglichst ergiebig dem Roman näher zu kommen.

Version vom 20. Juli 2014, 13:33 Uhr

Achtung: Hier handelt es sich um 'work in progress', wir experimentieren mit der Erstellung einer Analyse in kollektiver Autorschaft

vgl. [1]

'Oben ist es still' ist der Roman, mit dem der niederländische Autor Gerbrand Bakker (Jahrgang 1962) im Erscheinungsjahr 2006 in den Niederlanden bekannt wurde. Nach der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung im Jahre 2008 wurde auch das deutsche Publikum auf den Autor aufmerksam. „Ich habe Vater nach oben geschafft“. Dieser kurze erste Satz des Romans weckt das Interesse des Lesers mit einem Schlage: das Unerhörte, der Tabubruch, macht neugierig auf einen Ich-Erzähler, der uns die Geschichte seines Lebens – in einzelnen Rückblenden – und seiner Gegenwart erzählt. Wir werden Zeuge von Veränderungen, die mit einem Gewaltakt beginnen: Helmer van Wonderen, 55, trägt seinen Vater gegen dessen Willen nach oben ins 'Kinderzimmer', aus dem dieser aufgrund seiner Altersschwäche und Krankheit nicht mehr entkommen kann. Es ist die Geschichte eines Befreiungsversuchs, angesiedelt in einem eng begrenzten ländlichen Raum, auf einem Bauernhof, nicht aber in einer ländlichen Idylle. Helmer selbst ist in die Räume des Vaters gezogen, hat sie ausgeräumt, frisch gestrichen und teilweise auch neu möbliert. Seit Jahren hatte er die Rolle des Bauern übernommen, melkt die Kühe, kümmert sich um die Aufzucht der Schafe und versorgt die Hühner und die beiden Esel, die er für sich allein angeschafft hat. Nun beansprucht er auch räumlich den Platz des Vaters, er setzt sich ins Zentrum des Hauses. In Rückblenden erfährt der Leser, wie er zusammen mit seinem Zwillingsbruder Henk und seinen Eltern auf diesem Hof aufgewachsen ist. Der Vater war für ihn ein schlagender Tyrann, dem er nie widersprochen hat. Mit der Mutter, die sich ebenfalls unterordnet, verständigt er sich stumm über Blickkontakte. Mit seinem Zwillingsbruder Henk fühlt er sich bis hin zur Verschmelzung als Einheit, bis dieser eines Tages Riet kennenlernt, was eine gewisse Fremdheit und Disharmonie in ihr Zusammenleben bringt. Während sein Bruder eindeutig die Nachfolge des Vaters als Bauer angetreten hat, beginnt Helmer nach der Schule ein Studium der Literaturwissenschaft im nahe gelegenen Amsterdam. Doch schon Monate später erleiden Henk und Riet einen Autounfall, bei dem Henk stirbt und der das Gefüge der Familie zerstört: der Vater verweist Riet aus dem Haus und bestimmt, dass Helmer sein Studium abbricht und die Rolle seines Bruders übernimmt. Helmer fügt sich ohne Widerspruch und erleidet von da an ein fremdbestimmtes, meistens freudloses Leben ohne Veränderungen und Perspektive. Symbol für die Sehnsucht nach einem anderen Leben ist später eine Dänemarkkarte, die er manchmal betrachtet und deren Ortsnamen er vor sich hin murmelt. Auch der Knecht Jaap, mit dem er sich früher gut verstand, der ihm das Schlittschuhlaufen beibrachte und der ihn ernst nahm, war vom Vater vom Hof entfernt worden. Zwischen ihnen gab es sehr vorsichtige homoerotische Begegnungen, die in Andeutungen bleiben. Mit dem Tod der Mutter, etwa 25 Jahre nach Henks Tod, endet die letzte emotionale Bindung in Helmers Leben. Neue, sehr lockere Kontakte bekommt er lediglich zu der Nachbarin Ada und ihren Kindern Teun und Ronald, zu dem Viehhändler, der ab und zu vorbeikommt, und zu den beiden Milchfahrern, die täglich die frische Milch abholen. Nachdem Helmer sich unten im Haus eingerichtet hat – seinen Vater betreut er nur unregelmäßig und widerwillig – tritt ein weiteres Ereignis in sein Leben: Riet, die Verlobte seines Bruders, nimmt nach über 35 Jahren Kontakt mit ihm auf; sie erklärt in Briefen ihre Situation – sie ist Witwe mit drei Kindern, von denen nur der Jüngste noch bei ihr lebt – und bittet Helmer, diesen Sohn Henk als Knecht bei sich aufzunehmen. Helmer willigt zögernd ein und nimmt ihn in seinem Haus auf. Es entwickelt sich ein recht ambivalentes Verhältnis zwischen den beiden: eine große Fremdheit bleibt, aber auch ein Vertrautsein, eine fast freundschaftliche Beziehung entwickelt sich. Als Helmer eines Tages ein Schaf, das im Wassergraben zu ertrinken droht, herausziehen will, gerät er selber in den modrigen Untergrund und kann sich unter dem Schaf nicht mehr befreien. Henk zieht ihn im letzten Moment aus dem Wasser und rettet so sein Leben. Auch zwischen ihnen gibt es vorsichtige homoerotische Annäherungen. Beide gewinnen durch den anderen, verstören aber auch. So kommt es, dass Henk nach etwa drei Monaten eines Tages kurz entschlossen den Hof verlässt und zu seiner Mutter zurückfährt. Zu dieser Zeit hat Helmers Vater beschlossen zu sterben, er trinkt nur noch ein wenig Wasser und Saft. Helmer glaubt, sein Vater schliefe, als er ihm über seinen Schmerz erzählt, den er all die Jahre über die gefühlte Ablehnung empfunden hat. Es gibt auf beiden Seiten Anzeichen für ein gegenseitiges Verständnis, ohne dass es zu einer expliziten Versöhnung kommt. Wenig später stirbt der Vater. Helmer ist nun allein, als er auf der Straße zum Haus einen Wagen mit einem alten Mann sieht; es ist der alte Knecht Jaap, der noch einmal zurückgekehrt ist, ohne dafür einen Grund zu nennen. Eine kurze Zeit darauf verkauft Helmer seine Kühe, bittet Ada und die Kinder, die Schafe, Esel und Hühner zu versorgen, und fährt mit Jaap nach Dänemark. Er scheint zu sich gefunden zu haben, hat die Vergangenheit hinter sich gelassen und lebt im Jetzt.

Ähnlich wie der Ich-Erzähler, der nach dem Tod seines Bruders nie mehr einem Menschen wirkliche Nähe erlaubt, weil er seine eigene Identität in Frage gestellt sieht, bleibt der Leser den ganzen Roman hindurch mit einer gewissen Distanz und Unsicherheit zurück. Inwiefern steuern Erzählhaltung, Figurenkonstellation und Zeitgestaltung diese Rezeption des Textes? Wie erzeugt ein Text Spannung, in dem die Handlung eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint und in dem die Beobachtung und der innere Monolog des Erzählers einen großen Raum einnehmen? Ist die Erzählerfigur identifikatorisch angelegt? Der Roman erzählt von einem Leben, das jede Symmetrie, jedes Gleichgewicht verloren hat; wie gelingt es dem Autor, eine Entwicklung dieser Figur glaubwürdig zu konstruieren? Die Techniken der klassischen Erzähltextanalyse gründen vorwiegend auf binären Oppositionen. Gerade im vorliegenden Roman scheint in der antithetischen Figurenkonstellation ein Schlüssel zur Erschließung zu liegen. Wie sehr sind Werteopposition und Ambivalenz ein Grundmuster, das die Geschichte vorantreibt? Auf dieser Folie können vielleicht auch die Räume betrachtet werden (oben-unten, innen-draußen u.s.w.). Sind sie Projektionsebenen für innere Räume, Räume der Erinnerung, Entwicklungsräume? Eine auffällige, fast personale Rolle spielen Tiere in Bakkers Roman. Wie unterstützt die Tiermetaphorik als Spiegelung die Konstruktion der Figuren? Auch die Betrachtung des Alter(n)s ist aufschlussreich: es gibt die Bewegung des alten Vaters zu einem schließlich bewussten Sterben hin, zum anderen die Bewegung des 'alten' Sohnes zu einer neuen Lebenssituation hin – fast einer Verjüngung – eine Gegenbewegung. Entsteht aus der Opposition von Jugend (Riets Sohn Henk) und Alter ein Spannungsfeld, aus dem heraus die Geschichte authentisch wird?

Mit dem Instrumentarium verschiedener erzähltheoretischer Modelle versuchen die Mitglieder der Projektgruppe „Literarische Altersbilder“ eine Analyse des Textes. Hierbei findet der klassische strukturalistische Ansatz der Narratologie Anwendung, wie er in unterschiedlichen Facetten bei Peter Wenzel erläutert wird. Es erschien hierbei wenig sinnvoll, die Analyse in das enge Raster eines bestimmten Modells zu zwängen, vielmehr nutzen die Mitglieder verschiedene Aspekte des Kommunikations- und des Zwei-Ebenen-Modells, um so möglichst ergiebig dem Roman näher zu kommen.