Gerbrand Bakker, Oben ist es still: Unterschied zwischen den Versionen

Aus Literarische Altersbilder
(Einleitungstext eingefügt)
(Text zur Erzählsituation hinzugefügt)
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vgl. [1]
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== Einleitung ==


'Oben ist es still' ist der Roman, mit dem der niederländische Autor Gerbrand Bakker (Jahrgang 1962) im Erscheinungsjahr 2006 in den Niederlanden bekannt wurde. Nach der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung im Jahre 2008 wurde auch das deutsche Publikum auf den Autor aufmerksam.
'Oben ist es still' ist der Roman, mit dem der niederländische Autor Gerbrand Bakker (Jahrgang 1962) im Erscheinungsjahr 2006 in den Niederlanden bekannt wurde. Nach der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung im Jahre 2008 wurde auch das deutsche Publikum auf den Autor aufmerksam.
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Mit dem Instrumentarium verschiedener erzähltheoretischer Modelle versuchen die Mitglieder der Projektgruppe „Literarische Altersbilder“ eine Analyse des Textes. Hierbei findet der klassische strukturalistische Ansatz der Narratologie Anwendung, wie er in unterschiedlichen Facetten bei Peter Wenzel  erläutert wird. Es erschien hierbei wenig sinnvoll, die Analyse in das enge Raster eines bestimmten Modells zu zwängen, vielmehr nutzen die Mitglieder verschiedene Aspekte des Kommunikations- und des Zwei-Ebenen-Modells, um so möglichst ergiebig dem Roman näher zu kommen.
Mit dem Instrumentarium verschiedener erzähltheoretischer Modelle versuchen die Mitglieder der Projektgruppe „Literarische Altersbilder“ eine Analyse des Textes. Hierbei findet der klassische strukturalistische Ansatz der Narratologie Anwendung, wie er in unterschiedlichen Facetten bei Peter Wenzel  erläutert wird. Es erschien hierbei wenig sinnvoll, die Analyse in das enge Raster eines bestimmten Modells zu zwängen, vielmehr nutzen die Mitglieder verschiedene Aspekte des Kommunikations- und des Zwei-Ebenen-Modells, um so möglichst ergiebig dem Roman näher zu kommen.
== Erzählsituation ==
Die Erzählsituation in Bakkers Roman „Oben ist es still“ erscheint auf den ersten Blick einfach und klar. Der erste Satz lautet „Ich habe Vater nach oben geschafft“  und lässt den Leser damit sofort erkennen, dass wir es hier mit einem autodiegetischen , also einem Ich-Erzähler zu tun haben, der zugleich Protagonist ist und auf einer Ebene mit den übrigen Figuren steht. Es gibt nur diese eine Erzählebene, es spricht durchgehend im gesamten Roman dieses Ich, von dem wir im Laufe der Erzählung erfahren, dass es sich um einen Mann namens Helmer van Wonderen handelt. Sein Leben ist Gegenstand des Romans, obwohl es recht ereignislos und nach üblichen Maßstäben bedeutungslos wirkt.
Wenn man sich vor Augen führt, was Fiktion und damit Literatur bedeutet, und dabei der Definition von Baker folgt - „Fiction does not imitate reality out there. It imitates a fellow tellling about it“  - , wird einem klar, dass an der Konstruktion der Erzähler-Figur der ganze Roman hängt. Helmer ist sowohl der Sprecher, ohne allerdings den Leser jemals anzusprechen, so dass keine explizite Erzählsituation entsteht, als auch derjenige, der das erzählte Geschehen sieht. Der Leser sieht die dargestellte Welt ausschließlich aus den Augen von Helmer wie durch eine mit dessen Augen verbundene Kamera, also in einer sehr begrenzten Perspektive. Wie subjektiv diese Sicht ist, verraten zum Beispiel viele unterschwellige Wertungen. Der eingangs zitierte erste Satz „Ich habe Vater nach oben geschafft“  lässt den Vater durch das verwendete Verb als willenlosen Gegenstand erscheinen und der Leser hat es sehr schwer, im Laufe des Romans eine vom Ich-Erzähler unabhängige Sicht auf den Vater zu entwickeln. Die durch ihre Subjektivität bedingte Unzuverlässigkeit des Ich-Erzählers gerade hinsichtlich der übrigen Figuren und deren Beziehungen erfordert vom Leser folglich ständige Wachsamkeit.
Eine solche Lesehaltung aufzubauen, fällt andererseits sehr schwer und wird wohl nur dem geübten und konzentrierten Leser immer gelingen. Denn wie keine andere Erzählweise lädt die Ich-Perspektive zur Identifikation ein, ja erzwingt sie geradezu, solange nicht Textstrategien verwendet werden, die die Identifikation stören wie zum Beispiel die Erzeugung von Widersprüchen oder die Gegenüberstellung gegensätzlicher Positionen. Dies geschieht in Bakkers Roman nur auf eine sehr zurückhaltende und andeutende Weise, der Leser ist ganz auf den Ich-Erzähler angewiesen.
Durch das zurückgezogene Leben, das Helmer als Bauer auf dem elterlichen Hof führt, begleitet der Leser den Erzähler vor allem bei seiner Arbeit, den zahlreichen alltäglichen Verrichtungen zur Versorgung des Viehs, zur Pflege der Natur, zur Umgestaltung und Instandhaltung des Hauses, zur Versorgung des bettlägerigen alten Vaters und seiner selbst bis hin zu Details der Körperpflege . Dabei ist der Leser ständig Zuschauer der teilweise sehr detailliert geschilderten Handlungen, deren Ursachen und Absichten er jedoch zunächst nicht versteht, was die Identifikation erschwert .
Durch die ausführliche Darstellung entsteht der Eindruck von Bedächtigkeit, Langsamkeit und Sorgfalt der Verrichtungen. Dies steigert sich noch, wenn wir Helmer nur bei seinen Blicken folgen, ohne dass es überhaupt zu Tätigkeiten kommt. Häufig beobachtet der Erzähler einfach nur seine Umgebung, er schaut konzentriert Einzelheiten im Haus an, da er sich neu einrichtet und folglich kritisch prüft, was er ändern will oder wie das Ergebnis seines Tuns ist. Seine Blicke gehen aber auch oft nach draußen in die Natur. Er beobachtet die Tiere, besonders häufig die Nebelkrähe , aber auch seine Esel oder die Schafe, immer wieder auch das Wetter. Das Schauen scheint eine für Helmer sehr typische und wichtige Beschäftigung zu sein. Er sieht genau hin, er sieht die Unterschiede: „Ich […] beobachte dabei die Wasservögel. Vater nennt Teichhühner und Bläßhühner ‚Wasserhühner‘, weil er sie nicht auseinanderhalten kann.“ 
Blicke spielen eine ganz entscheidende Rolle in Helmers Beziehungen zu Menschen. Seine verstorbene Mutter, die als „unerhört gutmütig“  charakterisiert wird, „brauchte Henk und mich nur anzublicken, und alles war wieder gut.“ . Mit seiner Mutter verbindet Helmer „ein Bündnis der Blicke, nicht der Worte“ . Die Wesensverwandtschaft mit der Mutter bestimmt Helmers Leben ganz entscheidend und ist das Gegenstück zu seinem Verhältnis zum Vater. „Nach ihrem Tod hatte ich niemanden mehr zum Anblicken, zum Mitblicken, das war das Schlimmste für mich. […] Ich konnte – und kann – Vater kaum in die Augen schauen. […] In Vaters Augen las ich nichts“ .
Diese Textstelle ist gleichzeitig ein deutliches Beispiel für die durch den Erzähler vermittelte Sympathielenkung, die die Identifikation des Lesers mit dem Ich-Erzähler fördert. Der Leser kann kaum anders, als die Mutter sympathisch, den Vater dagegen als zutiefst ablehnenswert zu empfinden. Dazu verwendet der Autor niemals direkte Bewertungen des Erzählers, sondern er lässt den Leser dessen Empfindungen nachvollziehen.
Beispielsweise erinnert sich Helmer zu Beginn des Romans daran, wie sein Vater auf eine besonders brutale Weise junge Katzen tötete. Als ihm das nicht vollständig gelingt, erlebt der Leser mit, wie Helmer sich vom Vater distanziert: „Vater hatte etwas falsch gemacht, und ich durfte die Sache zu Ende bringen. Aber ich dachte nicht daran.“  Nachdem alle Tiere schließlich doch verendet sind, heißt es dann lapidar: „Er will Nikolaus feiern, weil das ‚gemütlich‘ ist“ , so dass die unvermittelte Kontrastierung dieses Wunsches mit der grausamen Tiervernichtung die Sympathie des Lesers ganz auf die Seite des Erzählers lenkt und damit gegen den Vater einstellt. Der hohe Grad an Rezeptions- und Sympathielenkung durch den Erzähler als Integrationsinstanz fördert das identifikatorische Lesen.
Erschwert wird die Identifikation dagegen vor allem dadurch, dass der Erzähler sein Innenleben nur sehr sparsam verbalisiert. Sein Verhalten wird vielfach nur in der Außenperspektive dargestellt, so dass der Leser, der zum bloßen Zuschauer der äußeren Handlungen wird, besonders zu Anfang der Lektüre häufig auf Leerstellen stößt und das dargestellte Verhalten ihm rätselhaft erscheint. Solche Leerstellen entstehen auch dort, wo der Erzähler gewissermaßen auf Distanz zu sich selbst geht, indem er sich selbst von außen, also mit den Blicken anderer zu sehen versucht. So heißt es bei der Schilderung zweier Kanufahrer, die am Hof vorbei paddeln: „Ich […] versuchte meinen Hof mit ihren Augen zu sehen“.  Ein besonders deutliches Beispiel findet sich, als Helmer spontan versucht, die ihn beunruhigende Nebelkrähe zu verscheuchen, dann aber innehält und sein eigenes Verhalten von außen betrachtet: „[…] dann erst schaue ich mich wie ertappt um. Sonderbarer Bauer in vorgerücktem Alter spricht vor offener Haustür laut mit Unsichtbarem“ . Dem Leser wird durch die Demonstration alternativer Sichtweisen bewusst, dass seine eigene Sicht auf den Protagonisten gelenkt wird.
Bei dem Wiedersehen mit Riet zeigt sich, dass der Erzähler die wechselseitigen Blicke reflektiert: „An ihrem Gesicht ist nicht abzulesen, ob sie sich bewußt dort hingesetzt hat“  heißt es über Riet, während Helmer von sich denkt: „[…] solange ich Riet den Rücken zuwende, ist es egal, was für ein Gesicht ich mache“.  Die Begrenztheit der eigenen Perspektive wird explizit thematisiert, wenn der Erzähler sich fragt: „Das denke ich, was denkt sie? Am liebsten würde ich wie sie mein Gesicht in den Händen vergraben“ . Der Grad der Selbstdistanzierung steigert sich erneut, als Riets Sohn Henk zu Helmer auf den Hof kommt: „Ich sehe den Hof mit seinen Augen“ , „Hier in der Scheune sehe ich auch wieder alles mit seinen Augen“ . Solche Stellen sind Ausdruck dessen, dass der Erzähler seine Identität in Frage stellt und auf der Suche nach einem neuen, selbst bestimmten Lebenskonzept ist.
Zu einer besonders starken Verunsicherung des Lesers kommt es zwangsläufig bei der Darstellung des äußerst problematischen Vater-Sohn-Verhältnisses, das man auch als blicklose Beziehung  bezeichnen könnte. Diese Blicklosigkeit hat zur Folge, dass Helmer beim Gespräch mit seinem Vater aus dem Fenster schaut , so dass auch der Leser nichts über und aus dem Blick des Vaters erfährt. Der subjektiven Darstellung des Vaters aus der Perspektive Helmers stehen die wenigen Äußerungen des Vaters in direkter Rede unvermittelt gegenüber. Durch die Wiedergabe von Dialogen in überwiegend externer Fokalisierung und ohne erzählerische Einbettung wird der Leser allein gelassen, seine Identifikation mit dem Ich-Erzähler unterbrochen und dadurch in Frage gestellt. In einer der wichtigsten Dialog-Szenen zwischen Helmer und seinem Vater wird die Distanzierung des Ich-Erzählers von sich selbst – eingeleitet durch die Formulierung „Ich sehe mich neben dem Bett knien“  - so weit getrieben, dass der Leser unsicher bleibt, ob die Versöhnungsgeste des Vaters tatsächlich geschehen oder nur Wunschvorstellung des Protagonisten ist.
Trotz solcher Irritationen entwickelt der Leser im Verlauf der Lektüre ganz allmählich Verständnis für den Protagonisten. Dazu tragen besonders die Erinnerungen des Erzählers bei, die vielfach dadurch ausgelöst werden, dass er in seiner Umgebung etwas sieht. Ein Beispiel ist die durch das Foto auf dem Kaminsims hervorgerufene Erinnerung an die Mutter . Jede Erinnerungsszene bildet für den Leser einen neuen Stein zu dem Puzzle, das Schritt für Schritt den Protagonisten erkennbar werden lässt .
Die sichersten Quellen zum Verständnis des Ich-Erzählers finden sich immer dort, wo durch interne Fokalisierung seine Gefühle explizit thematisiert werden. Bei der Beobachtung eines Vogelschwarms spricht er von einer seltsamen „Erscheinung, die mich beunruhigt“ , ein Gefühl, das Helmer im Verlauf des Romans häufig empfindet und das u.a. auch Ursache seiner Schlafprobleme ist, bei deren Schilderung es heißt: „Ich habe mein Leben lang Angst gehabt. Angst vor Stille und Dunkelheit.“  Charakteristisch für ihn sind Begriffe wie „Sehnsucht“ und „Wehmut“ , obwohl sie genauso wenig ausgesprochen werden wie „Wut“ oder „Groll“ , Gefühle, die er nicht nur Riet, sondern viel mehr noch seinem Vater entgegenbringt. Nur der Leser, der damit allen Erzählfiguren überlegen ist, erfährt von diesen Gefühlen direkt, zum Beispiel davon, „daß ich mich vergessen fühle“  oder „Mehr als sonst habe ich das Gefühl, hier nicht hinzugehören“ . Die starke Verbundenheit des Lesers mit dem Protagonisten rührt daher, dass dieser nur ihn, den Leser, teilhaben lässt an seiner Identitätssuche und –findung: „Warum habe ich die Dinge einfach laufen lassen? Ich hätte zu Vater auch nein sagen können, mach’s allein oder verkauf den Hof.“
Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Erzählsituation so gestaltet ist, dass eine zunehmend starke Bindung des Lesers an den Ich-Erzähler entsteht. Helmers Situation wird immer deutlicher und verständlicher, der Leser verfolgt dessen Entscheidungen mit Anteilnahme und Sympathie. Durch die dargestellten Formen der Distanzierung kommt es dabei nicht zur vollständigen Identifikation, sondern es bleibt die Notwendigkeit der kritischen Reflexion, die letztlich auch die Basis dafür ist, dass der Leser sein eigenes Leben zu Helmers Leben in Beziehung setzen kann.

Version vom 20. Juli 2014, 13:39 Uhr

Achtung: Hier handelt es sich um 'work in progress', wir experimentieren mit der Erstellung einer Analyse in kollektiver Autorschaft

vgl. [1]


Einleitung

'Oben ist es still' ist der Roman, mit dem der niederländische Autor Gerbrand Bakker (Jahrgang 1962) im Erscheinungsjahr 2006 in den Niederlanden bekannt wurde. Nach der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung im Jahre 2008 wurde auch das deutsche Publikum auf den Autor aufmerksam. „Ich habe Vater nach oben geschafft“. Dieser kurze erste Satz des Romans weckt das Interesse des Lesers mit einem Schlage: das Unerhörte, der Tabubruch, macht neugierig auf einen Ich-Erzähler, der uns die Geschichte seines Lebens – in einzelnen Rückblenden – und seiner Gegenwart erzählt. Wir werden Zeuge von Veränderungen, die mit einem Gewaltakt beginnen: Helmer van Wonderen, 55, trägt seinen Vater gegen dessen Willen nach oben ins 'Kinderzimmer', aus dem dieser aufgrund seiner Altersschwäche und Krankheit nicht mehr entkommen kann. Es ist die Geschichte eines Befreiungsversuchs, angesiedelt in einem eng begrenzten ländlichen Raum, auf einem Bauernhof, nicht aber in einer ländlichen Idylle. Helmer selbst ist in die Räume des Vaters gezogen, hat sie ausgeräumt, frisch gestrichen und teilweise auch neu möbliert. Seit Jahren hatte er die Rolle des Bauern übernommen, melkt die Kühe, kümmert sich um die Aufzucht der Schafe und versorgt die Hühner und die beiden Esel, die er für sich allein angeschafft hat. Nun beansprucht er auch räumlich den Platz des Vaters, er setzt sich ins Zentrum des Hauses. In Rückblenden erfährt der Leser, wie er zusammen mit seinem Zwillingsbruder Henk und seinen Eltern auf diesem Hof aufgewachsen ist. Der Vater war für ihn ein schlagender Tyrann, dem er nie widersprochen hat. Mit der Mutter, die sich ebenfalls unterordnet, verständigt er sich stumm über Blickkontakte. Mit seinem Zwillingsbruder Henk fühlt er sich bis hin zur Verschmelzung als Einheit, bis dieser eines Tages Riet kennenlernt, was eine gewisse Fremdheit und Disharmonie in ihr Zusammenleben bringt. Während sein Bruder eindeutig die Nachfolge des Vaters als Bauer angetreten hat, beginnt Helmer nach der Schule ein Studium der Literaturwissenschaft im nahe gelegenen Amsterdam. Doch schon Monate später erleiden Henk und Riet einen Autounfall, bei dem Henk stirbt und der das Gefüge der Familie zerstört: der Vater verweist Riet aus dem Haus und bestimmt, dass Helmer sein Studium abbricht und die Rolle seines Bruders übernimmt. Helmer fügt sich ohne Widerspruch und erleidet von da an ein fremdbestimmtes, meistens freudloses Leben ohne Veränderungen und Perspektive. Symbol für die Sehnsucht nach einem anderen Leben ist später eine Dänemarkkarte, die er manchmal betrachtet und deren Ortsnamen er vor sich hin murmelt. Auch der Knecht Jaap, mit dem er sich früher gut verstand, der ihm das Schlittschuhlaufen beibrachte und der ihn ernst nahm, war vom Vater vom Hof entfernt worden. Zwischen ihnen gab es sehr vorsichtige homoerotische Begegnungen, die in Andeutungen bleiben. Mit dem Tod der Mutter, etwa 25 Jahre nach Henks Tod, endet die letzte emotionale Bindung in Helmers Leben. Neue, sehr lockere Kontakte bekommt er lediglich zu der Nachbarin Ada und ihren Kindern Teun und Ronald, zu dem Viehhändler, der ab und zu vorbeikommt, und zu den beiden Milchfahrern, die täglich die frische Milch abholen. Nachdem Helmer sich unten im Haus eingerichtet hat – seinen Vater betreut er nur unregelmäßig und widerwillig – tritt ein weiteres Ereignis in sein Leben: Riet, die Verlobte seines Bruders, nimmt nach über 35 Jahren Kontakt mit ihm auf; sie erklärt in Briefen ihre Situation – sie ist Witwe mit drei Kindern, von denen nur der Jüngste noch bei ihr lebt – und bittet Helmer, diesen Sohn Henk als Knecht bei sich aufzunehmen. Helmer willigt zögernd ein und nimmt ihn in seinem Haus auf. Es entwickelt sich ein recht ambivalentes Verhältnis zwischen den beiden: eine große Fremdheit bleibt, aber auch ein Vertrautsein, eine fast freundschaftliche Beziehung entwickelt sich. Als Helmer eines Tages ein Schaf, das im Wassergraben zu ertrinken droht, herausziehen will, gerät er selber in den modrigen Untergrund und kann sich unter dem Schaf nicht mehr befreien. Henk zieht ihn im letzten Moment aus dem Wasser und rettet so sein Leben. Auch zwischen ihnen gibt es vorsichtige homoerotische Annäherungen. Beide gewinnen durch den anderen, verstören aber auch. So kommt es, dass Henk nach etwa drei Monaten eines Tages kurz entschlossen den Hof verlässt und zu seiner Mutter zurückfährt. Zu dieser Zeit hat Helmers Vater beschlossen zu sterben, er trinkt nur noch ein wenig Wasser und Saft. Helmer glaubt, sein Vater schliefe, als er ihm über seinen Schmerz erzählt, den er all die Jahre über die gefühlte Ablehnung empfunden hat. Es gibt auf beiden Seiten Anzeichen für ein gegenseitiges Verständnis, ohne dass es zu einer expliziten Versöhnung kommt. Wenig später stirbt der Vater. Helmer ist nun allein, als er auf der Straße zum Haus einen Wagen mit einem alten Mann sieht; es ist der alte Knecht Jaap, der noch einmal zurückgekehrt ist, ohne dafür einen Grund zu nennen. Eine kurze Zeit darauf verkauft Helmer seine Kühe, bittet Ada und die Kinder, die Schafe, Esel und Hühner zu versorgen, und fährt mit Jaap nach Dänemark. Er scheint zu sich gefunden zu haben, hat die Vergangenheit hinter sich gelassen und lebt im Jetzt.

Ähnlich wie der Ich-Erzähler, der nach dem Tod seines Bruders nie mehr einem Menschen wirkliche Nähe erlaubt, weil er seine eigene Identität in Frage gestellt sieht, bleibt der Leser den ganzen Roman hindurch mit einer gewissen Distanz und Unsicherheit zurück. Inwiefern steuern Erzählhaltung, Figurenkonstellation und Zeitgestaltung diese Rezeption des Textes? Wie erzeugt ein Text Spannung, in dem die Handlung eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint und in dem die Beobachtung und der innere Monolog des Erzählers einen großen Raum einnehmen? Ist die Erzählerfigur identifikatorisch angelegt? Der Roman erzählt von einem Leben, das jede Symmetrie, jedes Gleichgewicht verloren hat; wie gelingt es dem Autor, eine Entwicklung dieser Figur glaubwürdig zu konstruieren? Die Techniken der klassischen Erzähltextanalyse gründen vorwiegend auf binären Oppositionen. Gerade im vorliegenden Roman scheint in der antithetischen Figurenkonstellation ein Schlüssel zur Erschließung zu liegen. Wie sehr sind Werteopposition und Ambivalenz ein Grundmuster, das die Geschichte vorantreibt? Auf dieser Folie können vielleicht auch die Räume betrachtet werden (oben-unten, innen-draußen u.s.w.). Sind sie Projektionsebenen für innere Räume, Räume der Erinnerung, Entwicklungsräume? Eine auffällige, fast personale Rolle spielen Tiere in Bakkers Roman. Wie unterstützt die Tiermetaphorik als Spiegelung die Konstruktion der Figuren? Auch die Betrachtung des Alter(n)s ist aufschlussreich: es gibt die Bewegung des alten Vaters zu einem schließlich bewussten Sterben hin, zum anderen die Bewegung des 'alten' Sohnes zu einer neuen Lebenssituation hin – fast einer Verjüngung – eine Gegenbewegung. Entsteht aus der Opposition von Jugend (Riets Sohn Henk) und Alter ein Spannungsfeld, aus dem heraus die Geschichte authentisch wird?

Mit dem Instrumentarium verschiedener erzähltheoretischer Modelle versuchen die Mitglieder der Projektgruppe „Literarische Altersbilder“ eine Analyse des Textes. Hierbei findet der klassische strukturalistische Ansatz der Narratologie Anwendung, wie er in unterschiedlichen Facetten bei Peter Wenzel erläutert wird. Es erschien hierbei wenig sinnvoll, die Analyse in das enge Raster eines bestimmten Modells zu zwängen, vielmehr nutzen die Mitglieder verschiedene Aspekte des Kommunikations- und des Zwei-Ebenen-Modells, um so möglichst ergiebig dem Roman näher zu kommen.


Erzählsituation

Die Erzählsituation in Bakkers Roman „Oben ist es still“ erscheint auf den ersten Blick einfach und klar. Der erste Satz lautet „Ich habe Vater nach oben geschafft“ und lässt den Leser damit sofort erkennen, dass wir es hier mit einem autodiegetischen , also einem Ich-Erzähler zu tun haben, der zugleich Protagonist ist und auf einer Ebene mit den übrigen Figuren steht. Es gibt nur diese eine Erzählebene, es spricht durchgehend im gesamten Roman dieses Ich, von dem wir im Laufe der Erzählung erfahren, dass es sich um einen Mann namens Helmer van Wonderen handelt. Sein Leben ist Gegenstand des Romans, obwohl es recht ereignislos und nach üblichen Maßstäben bedeutungslos wirkt.

Wenn man sich vor Augen führt, was Fiktion und damit Literatur bedeutet, und dabei der Definition von Baker folgt - „Fiction does not imitate reality out there. It imitates a fellow tellling about it“ - , wird einem klar, dass an der Konstruktion der Erzähler-Figur der ganze Roman hängt. Helmer ist sowohl der Sprecher, ohne allerdings den Leser jemals anzusprechen, so dass keine explizite Erzählsituation entsteht, als auch derjenige, der das erzählte Geschehen sieht. Der Leser sieht die dargestellte Welt ausschließlich aus den Augen von Helmer wie durch eine mit dessen Augen verbundene Kamera, also in einer sehr begrenzten Perspektive. Wie subjektiv diese Sicht ist, verraten zum Beispiel viele unterschwellige Wertungen. Der eingangs zitierte erste Satz „Ich habe Vater nach oben geschafft“ lässt den Vater durch das verwendete Verb als willenlosen Gegenstand erscheinen und der Leser hat es sehr schwer, im Laufe des Romans eine vom Ich-Erzähler unabhängige Sicht auf den Vater zu entwickeln. Die durch ihre Subjektivität bedingte Unzuverlässigkeit des Ich-Erzählers gerade hinsichtlich der übrigen Figuren und deren Beziehungen erfordert vom Leser folglich ständige Wachsamkeit.

Eine solche Lesehaltung aufzubauen, fällt andererseits sehr schwer und wird wohl nur dem geübten und konzentrierten Leser immer gelingen. Denn wie keine andere Erzählweise lädt die Ich-Perspektive zur Identifikation ein, ja erzwingt sie geradezu, solange nicht Textstrategien verwendet werden, die die Identifikation stören wie zum Beispiel die Erzeugung von Widersprüchen oder die Gegenüberstellung gegensätzlicher Positionen. Dies geschieht in Bakkers Roman nur auf eine sehr zurückhaltende und andeutende Weise, der Leser ist ganz auf den Ich-Erzähler angewiesen.

Durch das zurückgezogene Leben, das Helmer als Bauer auf dem elterlichen Hof führt, begleitet der Leser den Erzähler vor allem bei seiner Arbeit, den zahlreichen alltäglichen Verrichtungen zur Versorgung des Viehs, zur Pflege der Natur, zur Umgestaltung und Instandhaltung des Hauses, zur Versorgung des bettlägerigen alten Vaters und seiner selbst bis hin zu Details der Körperpflege . Dabei ist der Leser ständig Zuschauer der teilweise sehr detailliert geschilderten Handlungen, deren Ursachen und Absichten er jedoch zunächst nicht versteht, was die Identifikation erschwert .

Durch die ausführliche Darstellung entsteht der Eindruck von Bedächtigkeit, Langsamkeit und Sorgfalt der Verrichtungen. Dies steigert sich noch, wenn wir Helmer nur bei seinen Blicken folgen, ohne dass es überhaupt zu Tätigkeiten kommt. Häufig beobachtet der Erzähler einfach nur seine Umgebung, er schaut konzentriert Einzelheiten im Haus an, da er sich neu einrichtet und folglich kritisch prüft, was er ändern will oder wie das Ergebnis seines Tuns ist. Seine Blicke gehen aber auch oft nach draußen in die Natur. Er beobachtet die Tiere, besonders häufig die Nebelkrähe , aber auch seine Esel oder die Schafe, immer wieder auch das Wetter. Das Schauen scheint eine für Helmer sehr typische und wichtige Beschäftigung zu sein. Er sieht genau hin, er sieht die Unterschiede: „Ich […] beobachte dabei die Wasservögel. Vater nennt Teichhühner und Bläßhühner ‚Wasserhühner‘, weil er sie nicht auseinanderhalten kann.“

Blicke spielen eine ganz entscheidende Rolle in Helmers Beziehungen zu Menschen. Seine verstorbene Mutter, die als „unerhört gutmütig“ charakterisiert wird, „brauchte Henk und mich nur anzublicken, und alles war wieder gut.“ . Mit seiner Mutter verbindet Helmer „ein Bündnis der Blicke, nicht der Worte“ . Die Wesensverwandtschaft mit der Mutter bestimmt Helmers Leben ganz entscheidend und ist das Gegenstück zu seinem Verhältnis zum Vater. „Nach ihrem Tod hatte ich niemanden mehr zum Anblicken, zum Mitblicken, das war das Schlimmste für mich. […] Ich konnte – und kann – Vater kaum in die Augen schauen. […] In Vaters Augen las ich nichts“ .

Diese Textstelle ist gleichzeitig ein deutliches Beispiel für die durch den Erzähler vermittelte Sympathielenkung, die die Identifikation des Lesers mit dem Ich-Erzähler fördert. Der Leser kann kaum anders, als die Mutter sympathisch, den Vater dagegen als zutiefst ablehnenswert zu empfinden. Dazu verwendet der Autor niemals direkte Bewertungen des Erzählers, sondern er lässt den Leser dessen Empfindungen nachvollziehen.

Beispielsweise erinnert sich Helmer zu Beginn des Romans daran, wie sein Vater auf eine besonders brutale Weise junge Katzen tötete. Als ihm das nicht vollständig gelingt, erlebt der Leser mit, wie Helmer sich vom Vater distanziert: „Vater hatte etwas falsch gemacht, und ich durfte die Sache zu Ende bringen. Aber ich dachte nicht daran.“ Nachdem alle Tiere schließlich doch verendet sind, heißt es dann lapidar: „Er will Nikolaus feiern, weil das ‚gemütlich‘ ist“ , so dass die unvermittelte Kontrastierung dieses Wunsches mit der grausamen Tiervernichtung die Sympathie des Lesers ganz auf die Seite des Erzählers lenkt und damit gegen den Vater einstellt. Der hohe Grad an Rezeptions- und Sympathielenkung durch den Erzähler als Integrationsinstanz fördert das identifikatorische Lesen.

Erschwert wird die Identifikation dagegen vor allem dadurch, dass der Erzähler sein Innenleben nur sehr sparsam verbalisiert. Sein Verhalten wird vielfach nur in der Außenperspektive dargestellt, so dass der Leser, der zum bloßen Zuschauer der äußeren Handlungen wird, besonders zu Anfang der Lektüre häufig auf Leerstellen stößt und das dargestellte Verhalten ihm rätselhaft erscheint. Solche Leerstellen entstehen auch dort, wo der Erzähler gewissermaßen auf Distanz zu sich selbst geht, indem er sich selbst von außen, also mit den Blicken anderer zu sehen versucht. So heißt es bei der Schilderung zweier Kanufahrer, die am Hof vorbei paddeln: „Ich […] versuchte meinen Hof mit ihren Augen zu sehen“. Ein besonders deutliches Beispiel findet sich, als Helmer spontan versucht, die ihn beunruhigende Nebelkrähe zu verscheuchen, dann aber innehält und sein eigenes Verhalten von außen betrachtet: „[…] dann erst schaue ich mich wie ertappt um. Sonderbarer Bauer in vorgerücktem Alter spricht vor offener Haustür laut mit Unsichtbarem“ . Dem Leser wird durch die Demonstration alternativer Sichtweisen bewusst, dass seine eigene Sicht auf den Protagonisten gelenkt wird.

Bei dem Wiedersehen mit Riet zeigt sich, dass der Erzähler die wechselseitigen Blicke reflektiert: „An ihrem Gesicht ist nicht abzulesen, ob sie sich bewußt dort hingesetzt hat“ heißt es über Riet, während Helmer von sich denkt: „[…] solange ich Riet den Rücken zuwende, ist es egal, was für ein Gesicht ich mache“. Die Begrenztheit der eigenen Perspektive wird explizit thematisiert, wenn der Erzähler sich fragt: „Das denke ich, was denkt sie? Am liebsten würde ich wie sie mein Gesicht in den Händen vergraben“ . Der Grad der Selbstdistanzierung steigert sich erneut, als Riets Sohn Henk zu Helmer auf den Hof kommt: „Ich sehe den Hof mit seinen Augen“ , „Hier in der Scheune sehe ich auch wieder alles mit seinen Augen“ . Solche Stellen sind Ausdruck dessen, dass der Erzähler seine Identität in Frage stellt und auf der Suche nach einem neuen, selbst bestimmten Lebenskonzept ist.

Zu einer besonders starken Verunsicherung des Lesers kommt es zwangsläufig bei der Darstellung des äußerst problematischen Vater-Sohn-Verhältnisses, das man auch als blicklose Beziehung bezeichnen könnte. Diese Blicklosigkeit hat zur Folge, dass Helmer beim Gespräch mit seinem Vater aus dem Fenster schaut , so dass auch der Leser nichts über und aus dem Blick des Vaters erfährt. Der subjektiven Darstellung des Vaters aus der Perspektive Helmers stehen die wenigen Äußerungen des Vaters in direkter Rede unvermittelt gegenüber. Durch die Wiedergabe von Dialogen in überwiegend externer Fokalisierung und ohne erzählerische Einbettung wird der Leser allein gelassen, seine Identifikation mit dem Ich-Erzähler unterbrochen und dadurch in Frage gestellt. In einer der wichtigsten Dialog-Szenen zwischen Helmer und seinem Vater wird die Distanzierung des Ich-Erzählers von sich selbst – eingeleitet durch die Formulierung „Ich sehe mich neben dem Bett knien“ - so weit getrieben, dass der Leser unsicher bleibt, ob die Versöhnungsgeste des Vaters tatsächlich geschehen oder nur Wunschvorstellung des Protagonisten ist.

Trotz solcher Irritationen entwickelt der Leser im Verlauf der Lektüre ganz allmählich Verständnis für den Protagonisten. Dazu tragen besonders die Erinnerungen des Erzählers bei, die vielfach dadurch ausgelöst werden, dass er in seiner Umgebung etwas sieht. Ein Beispiel ist die durch das Foto auf dem Kaminsims hervorgerufene Erinnerung an die Mutter . Jede Erinnerungsszene bildet für den Leser einen neuen Stein zu dem Puzzle, das Schritt für Schritt den Protagonisten erkennbar werden lässt .

Die sichersten Quellen zum Verständnis des Ich-Erzählers finden sich immer dort, wo durch interne Fokalisierung seine Gefühle explizit thematisiert werden. Bei der Beobachtung eines Vogelschwarms spricht er von einer seltsamen „Erscheinung, die mich beunruhigt“ , ein Gefühl, das Helmer im Verlauf des Romans häufig empfindet und das u.a. auch Ursache seiner Schlafprobleme ist, bei deren Schilderung es heißt: „Ich habe mein Leben lang Angst gehabt. Angst vor Stille und Dunkelheit.“ Charakteristisch für ihn sind Begriffe wie „Sehnsucht“ und „Wehmut“ , obwohl sie genauso wenig ausgesprochen werden wie „Wut“ oder „Groll“ , Gefühle, die er nicht nur Riet, sondern viel mehr noch seinem Vater entgegenbringt. Nur der Leser, der damit allen Erzählfiguren überlegen ist, erfährt von diesen Gefühlen direkt, zum Beispiel davon, „daß ich mich vergessen fühle“ oder „Mehr als sonst habe ich das Gefühl, hier nicht hinzugehören“ . Die starke Verbundenheit des Lesers mit dem Protagonisten rührt daher, dass dieser nur ihn, den Leser, teilhaben lässt an seiner Identitätssuche und –findung: „Warum habe ich die Dinge einfach laufen lassen? Ich hätte zu Vater auch nein sagen können, mach’s allein oder verkauf den Hof.“

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Erzählsituation so gestaltet ist, dass eine zunehmend starke Bindung des Lesers an den Ich-Erzähler entsteht. Helmers Situation wird immer deutlicher und verständlicher, der Leser verfolgt dessen Entscheidungen mit Anteilnahme und Sympathie. Durch die dargestellten Formen der Distanzierung kommt es dabei nicht zur vollständigen Identifikation, sondern es bleibt die Notwendigkeit der kritischen Reflexion, die letztlich auch die Basis dafür ist, dass der Leser sein eigenes Leben zu Helmers Leben in Beziehung setzen kann.