Gerbrand Bakker, Oben ist es still: Unterschied zwischen den Versionen

Aus Literarische Altersbilder
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Achtung: Hier handelt es sich um 'work in progress', wir experimentieren mit der Erstellung einer Analyse in kollektiver Autorschaft
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vgl. [1]
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In dem Roman „Oben ist es still“ wird uns Helmers Raumwahrnehmung vermittelt. Er beschreibt die Einrichtung, die Handlungen und Bewegungen, aber vor allem beschreibt er die Atmosphäre und Stimmung, die er im jeweiligen Raum empfindet. Er tut das so eindringlich, dass der Leser seine Empfindungen teilt. Durch die Verwendung von bestimmten Adjektiven (leer, sicher, bedrohlich,), durch die Schilderung von Wetterlagen (Nebel, Nässe, Kälte, Schnee) und Geräuschen (Ticken der Standuhr, Gekläff der Blässhühner), gibt er dem Haus und dem Hof eine bedrückende Atmosphäre, der der Leser sich nicht entziehen kann. Die allgegenwärtige Leere in Helmers Leben könnte nach der Entrümpelung und mit der Reise nach Dänemark eine Bedeutungsverschiebung erfahren: als Freiraum für neue Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung.
In dem Roman „Oben ist es still“ wird uns Helmers Raumwahrnehmung vermittelt. Er beschreibt die Einrichtung, die Handlungen und Bewegungen, aber vor allem beschreibt er die Atmosphäre und Stimmung, die er im jeweiligen Raum empfindet. Er tut das so eindringlich, dass der Leser seine Empfindungen teilt. Durch die Verwendung von bestimmten Adjektiven (leer, sicher, bedrohlich,), durch die Schilderung von Wetterlagen (Nebel, Nässe, Kälte, Schnee) und Geräuschen (Ticken der Standuhr, Gekläff der Blässhühner), gibt er dem Haus und dem Hof eine bedrückende Atmosphäre, der der Leser sich nicht entziehen kann. Die allgegenwärtige Leere in Helmers Leben könnte nach der Entrümpelung und mit der Reise nach Dänemark eine Bedeutungsverschiebung erfahren: als Freiraum für neue Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung.
== Zeit ==
Was ist Zeit? Auch Einstein hat vor dieser Frage kapituliert, wenn er sagt: „Zeit ist das, was man an der Uhr abliest.“ Die Uhr misst die Zeit, sie erklärt sie nicht. „Zeit“ als Konstrukt scheint weniger fassbar als „Raum“, dessen materiale Gegebenheiten sie braucht, um sich auszudrücken. Wir sprechen von den Spuren der Zeit etwa im Gesicht eines Menschen, im baulichen Zustand eines Hauses, in der Abnutzung von Gebrauchsgegenständen.
Diese enge Verknüpfung von Raum und Zeit wird besonders deutlich, wenn Helmer mit seinem Umzug innerhalb des Hauses die Vergangenheit (der alte Vater, die Standuhr, Fotos, die Sticklappen) nach oben bringt  – zeitlich Vergangenes wird räumlich ent-fernt –  und die Gegenwart (Zimmer des „neuen“ Helmer, frischer Anstrich, neue Möbel) unten einzieht. Einzelnen Gegenständen, wie zum Beispiel der Standuhr, aber natürlich auch den Fotos, den Sticklappen, kommt  als Requisiten, Relikten und Trägern der Vergangenheit eine symbolische Bedeutung zu: Die alte Uhr tickt träge , sie muss öfter aufgezogen werden , sie „füllt das Zimmer mit Zeit, mit langsam wegpochender Zeit“  , sie wird von Helmer angehalten, als der Vater gestorben ist  , als  –  um im assoziierten symbolischen Bezug zu bleiben – seine Uhr ¬– seine Zeit – abgelaufen ist.
Erzählzeit und erzählte Zeit stehen in krassem Ungleichverhältnis. Während erstere etwa ein Dutzend Stunden umfassen wird, bezieht sich letztere auf einen Zeitraum von über 50 Jahren, wenn man die durch Rückschau und Erinnerung in den Gegenwartsbericht des Protagonisten – er dauert von November bis Ende April, also ein halbes Jahr – aufgenommene Zeit berücksichtigt.
Der Ich-Erzähler Helmer erzählt nicht linear, also der chronologischen Abfolge der Ereignisse entsprechend, sondern nicht-linear/diskontinuierlich – sein Erzählfluss ist ständig von  rückwärtsgewandten Anachronien (chronologisch abweichenden Stellen; hier Rückschau/Erinnerung) unterbrochen. So entwickelt sich puzzleartig nach und nach das Bild, das der Leser sich vom Vergangenen macht – ein allerdings bewegtes Bild, da jedes neu gesetzte Teilchen die Ordnung der schon gesetzten unter Umständen wieder verändert, was stark dazu beiträgt, Interesse, Neugier und Spannung beim Leser aufrechtzuerhalten. Diese Anachronien ergeben sich häufig assoziativ aus den Gedankengängen einzelner Figuren – „[…] nach einer Weile setzt sie sich aufs Bett. [Absatz] Dann sehe ich sie nicht mehr, sie ist ganz unter Henk verschwunden,[…]“  ; „Gemessen daran, wie Vater mit dem Knecht umzugehen pflegte,[…]. [Absatz] ,Hier hab ich das Sagen, verdammt noch mal!‘ “  –‚ sind also subjektiv geprägt und, z. B. im Falle von Henks Tod oder der Kanufahrer, auch  repetitiv: Das gleiche Ereignis wird in der Rückschau/Erinnerung derselben oder verschiedener Personen vergegenwärtigt.   
Unter dem Einfluss dieser Anachronien verändert sich die Relation zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit immer wieder – der dem Leser abverlangte Gang durch die Erzählung gleicht oft einer Springprozession. Am stärksten ist die Zeitraffung vertreten, was natürlich dem bereits erwähnten krassen Ungleichverhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit geschuldet ist. Interessanterweise klafft innerhalb der in der Vergangenheit liegenden Ereignisse eine große Lücke, eine Leerstelle: Wir erfahren zwar einiges über Kindheit und Jugend des Protagonisten, aber es fehlt weitgehend seine Erwachsenen-Zeit, mithin ca. 35 Jahre! Diese enorme Aussparung, unter der der Leser allerdings nicht „leidet“, weil er via Rückschau genügend Informationen erhält, um sich eine Vorstellung vom Ausgesparten zu machen, gibt eben diesen Informationen ein stärkeres Gewicht und bewirkt eine Bedeutungsverdichtung des Erzählten.
Während – auf der Ebene der „histoire“ – die Bedeutungslosigkeit des Ausgesparten vom Ich-Erzähler selbst thematisiert und bestätigt wird, wenn er feststellt: „Plötzlich interessiert mich die Zeit zwischen seinem [Jaaps] Weggang und seiner Rückkehr nicht mehr. Nicht einmal die Zeit, bevor er zu uns kam. Was spielt das alles schon für eine Rolle?“ , ist die Wirkung dieser Feststellung – auf der Ebene des „discours“ – eine völlig andere: nämlich die einer Fokussierung auf das Hier und Jetzt, die räumliche und zeitliche Gegenwart des Protagonisten.
Auch für Zeitdeckung finden sich im Text  Belege, vor allem bei den Dialogen, die  auf „Inquit-Formeln“ (die Rede begleitende formelhafte Wendungen wie „sagte er“, „fragte sie“ etc.) verzichten und dadurch den Leser unmittelbar an der Unterhaltung teilhaben lassen ;  auch wenn der Autor den Ich-Erzähler  seine Tätigkeiten „aufzählen“ lässt , nähern Erzählzeit und erzählte Zeit sich an, und es wird – zusammen mit der Verwendung des Präsens –  auch hier beim Leser eine starke Unmittelbarkeit erzeugt, ein Gefühl des Ganz-nah-am-Geschehen-Seins.
Zeitdehnung findet sich, wo dem Protagonisten in einer extremen Situation,  als er nämlich unter der Last des zu rettenden Schafes in kürzester Zeit zu ertrinken droht , viele Gedanken durch den Kopf schießen, die relativ ausführlich wiedergegeben werden, was die erzählte Situation emotional auflädt und den Leser ebenfalls mit ins Geschehen hineinzieht.
Zu  den die Rezeption des Textes stark beeinflussenden Zeitstrukturen gehört auch die Erzählfrequenz, bei der es um das Verhältnis von Erzähl- und Ereignishäufigkeit geht. Henks Unfalltod, ein natürlich einmaliger Vorgang, wird mehrfach und auch aus der Sicht verschiedener Personen erzählt (s.o.) – im Frequenzmodell von S. Stra- sen  würde er unter „repetitiv“ fallen; Helmers Schlittschuhlaufen mit Jaap unter „multi-singulativ“: Ein häufiger vorkommendes Ereignis wird auch häufiger erzählt. Auch die wiederholte Schilderung vieler Routinearbeiten, die der Betrieb des Bauernhofs Helmer abverlangt, gehört hierher. Während im ersten Beispiel, Henks Unfalltod, die Betonung auf der unheilvollen Verkettung bestimmter Umstände liegt  und Helmers  sachliche Schilderung  gerade die  sinnlose Zufälligkeit dieses Todes betont, das mehrfach erinnerte Schlittschulaufen mit Jaap vor allem die Beziehung Helmer-Jaap/Mutter-Jaap beleuchtet, unterstreicht letzteres, die immer wiederkehrenden Arbeiten auf dem Bauernhof, vor allem deren Mühsal und teilweise auch den damit verbundenen Verdruss.
Bei einem weiteren Aspekt der Zeitgestaltung, der Erzählgenauigkeit, bei der es darum geht, ob und wie zeitlich genau die Ereignisse dargestellt werden, lassen sich einige Unterschiede feststellen. Mit genauem Datum, dem 19. April 1967 , wird mehrfach nur ein Ereignis vermerkt: Henks Tod. Auch dadurch wird deutlich, welche Bedeutung dieses Ereignis im Roman hat. Ein weiteres, banal anmutendes Ereignis, nämlich das Nikolaus-Geschenkpäckchen mit einem „nichtssagend[en]“  Gedicht, das Helmer von Riet am 5. Dezember 1966 erhält, wird einmal erwähnt. Dass Helmer dies so genau erinnert, sagt viel über die damit verbundene Kränkung aus.  Der Tod des Vaters kann aufgrund verschiedener sich darauf beziehender Textstellen  auf einen Karfreitag datiert werden – ein Zufall? Andere Begebenheiten wie die Geburt der Zwillinge Helmer und Henk, Ereignisse der Kindheit der beiden, Beginn der Beziehung Henk-Riet, Jaaps Kündigung, Helmers Studium, Tod der Mutter sind aufgrund großzügigerer Zeitangaben nur mehr oder weniger genau zeitlich einzuordnen – ganz offensichtlich ist eine genauere Datierung dieser Ereignisse aus der Sicht des Ich-Erzählers nicht notwendig, auch würde eine gleichmäßig verteilte Datierung die Bedeutung von Henks Tod schmälern.
Auf fällt weiterhin die unterschiedliche Handhabung der grammatischen Zeit, des Tempus. Während Helmers Bericht (récit) mit Perfekt und Präteritum beginnt —„Ich habe Vater nach oben geschafft“  –, wird er kurz darauf im Präsens fortgeführt: „Jetzt sitze ich […]“  Damit wird das Nach-oben-Schaffen des Vaters als etwas Unabänderliches, Er-ledigtes hingestellt, ein Faktum, von dem aus alles Weitere sich ergibt. Von den gedanklichen Ausflügen in die Vergangenheit abgesehen, bleibt das Präsens auch das vorherrschende Tempus, was beim Leser den Eindruck unmittelbarer Teilhabe weckt, ihn zu einem fast gleichrangigen Begleiter des Erzähler-Ichs macht, mit dem er – jetzt! – von Aktion zu Aktion schreitet. Während das vom Ich-Erzähler verwendete Präteritum zwischen geschildertem Ereignis und  Leser (zeitliche) Distanz schafft, wird diese im Präsens nahezu aufgegeben, was neben der schon erwähnten  unmittelbareren Miteinbeziehung des Lesers auch als Perspektivenverlust gesehen werden kann und, wie in folgendem Beispiel, beim Leser Verunsicherung hervorruft, wie eine Szene zu interpretieren sei:
„Ich sehe mich neben dem Bett knien […], und ich sehe Vaters alte Hand,[…] Er hebt die Hand, […] und legt mir die Hand auf den Kopf.  […] Ich öffne die Tür […]. […] und gehe hinaus.“   
Dient das Präsens hier nur der geistigen Vergegenwärtigung eines intensiv erlebten Geschehens, gibt es ein Jetzt-Geschehen wieder, rückt es etwas Ersehntes, aber Uneingestandenes, ein Wunschgeschehen, in den Rang einer  Vision – ?
Wie auch immer die Antwort des Lesers aussehen mag, lässt sich auf jeden Fall festhalten, dass auch die grammatische Zeit wie die anderen erwähnten Zeitstrukturen einen direkten Einfluss auf das Verständnis und die Interpretation eines Textes haben und insofern erheblich zur Aufrechterhaltung von Spannung und Interesse des Lesers beitragen.
Helmers Bericht setzt im November ein und endet im April. Der Vater möchte vor seinem Tod noch einen Frühling erleben , was auch so geschieht. Während dieser Frühling für Helmer den Aufbruch „zu neuen Ufern“ (Dänemark) bringt, im Unterschied zu den vorangegangenen, die ihm eher eine wiederkehrende Last wa-ren – „Beim Gedanken an Lämmer […] werden mir fast die Arme schlapp“  –, endet hier das Leben des Vaters; Anfang und Ende werden jahreszeitlich verknüpft –  vielleicht auch eine Spiegelung vergehenden bäuerlichen Lebens, das eng mit den Jahreszeiten verbunden war.

Version vom 20. Juli 2014, 19:12 Uhr

Achtung: Hier handelt es sich um 'work in progress', wir experimentieren mit der Erstellung einer Analyse in kollektiver Autorschaft

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Einleitung

'Oben ist es still' ist der Roman, mit dem der niederländische Autor Gerbrand Bakker (Jahrgang 1962) im Erscheinungsjahr 2006 in den Niederlanden bekannt wurde. Nach der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung im Jahre 2008 wurde auch das deutsche Publikum auf den Autor aufmerksam. „Ich habe Vater nach oben geschafft“. Dieser kurze erste Satz des Romans weckt das Interesse des Lesers mit einem Schlage: das Unerhörte, der Tabubruch, macht neugierig auf einen Ich-Erzähler, der uns die Geschichte seines Lebens – in einzelnen Rückblenden – und seiner Gegenwart erzählt. Wir werden Zeuge von Veränderungen, die mit einem Gewaltakt beginnen: Helmer van Wonderen, 55, trägt seinen Vater gegen dessen Willen nach oben ins 'Kinderzimmer', aus dem dieser aufgrund seiner Altersschwäche und Krankheit nicht mehr entkommen kann. Es ist die Geschichte eines Befreiungsversuchs, angesiedelt in einem eng begrenzten ländlichen Raum, auf einem Bauernhof, nicht aber in einer ländlichen Idylle. Helmer selbst ist in die Räume des Vaters gezogen, hat sie ausgeräumt, frisch gestrichen und teilweise auch neu möbliert. Seit Jahren hatte er die Rolle des Bauern übernommen, melkt die Kühe, kümmert sich um die Aufzucht der Schafe und versorgt die Hühner und die beiden Esel, die er für sich allein angeschafft hat. Nun beansprucht er auch räumlich den Platz des Vaters, er setzt sich ins Zentrum des Hauses. In Rückblenden erfährt der Leser, wie er zusammen mit seinem Zwillingsbruder Henk und seinen Eltern auf diesem Hof aufgewachsen ist. Der Vater war für ihn ein schlagender Tyrann, dem er nie widersprochen hat. Mit der Mutter, die sich ebenfalls unterordnet, verständigt er sich stumm über Blickkontakte. Mit seinem Zwillingsbruder Henk fühlt er sich bis hin zur Verschmelzung als Einheit, bis dieser eines Tages Riet kennenlernt, was eine gewisse Fremdheit und Disharmonie in ihr Zusammenleben bringt. Während sein Bruder eindeutig die Nachfolge des Vaters als Bauer angetreten hat, beginnt Helmer nach der Schule ein Studium der Literaturwissenschaft im nahe gelegenen Amsterdam. Doch schon Monate später erleiden Henk und Riet einen Autounfall, bei dem Henk stirbt und der das Gefüge der Familie zerstört: der Vater verweist Riet aus dem Haus und bestimmt, dass Helmer sein Studium abbricht und die Rolle seines Bruders übernimmt. Helmer fügt sich ohne Widerspruch und erleidet von da an ein fremdbestimmtes, meistens freudloses Leben ohne Veränderungen und Perspektive. Symbol für die Sehnsucht nach einem anderen Leben ist später eine Dänemarkkarte, die er manchmal betrachtet und deren Ortsnamen er vor sich hin murmelt. Auch der Knecht Jaap, mit dem er sich früher gut verstand, der ihm das Schlittschuhlaufen beibrachte und der ihn ernst nahm, war vom Vater vom Hof entfernt worden. Zwischen ihnen gab es sehr vorsichtige homoerotische Begegnungen, die in Andeutungen bleiben. Mit dem Tod der Mutter, etwa 25 Jahre nach Henks Tod, endet die letzte emotionale Bindung in Helmers Leben. Neue, sehr lockere Kontakte bekommt er lediglich zu der Nachbarin Ada und ihren Kindern Teun und Ronald, zu dem Viehhändler, der ab und zu vorbeikommt, und zu den beiden Milchfahrern, die täglich die frische Milch abholen. Nachdem Helmer sich unten im Haus eingerichtet hat – seinen Vater betreut er nur unregelmäßig und widerwillig – tritt ein weiteres Ereignis in sein Leben: Riet, die Verlobte seines Bruders, nimmt nach über 35 Jahren Kontakt mit ihm auf; sie erklärt in Briefen ihre Situation – sie ist Witwe mit drei Kindern, von denen nur der Jüngste noch bei ihr lebt – und bittet Helmer, diesen Sohn Henk als Knecht bei sich aufzunehmen. Helmer willigt zögernd ein und nimmt ihn in seinem Haus auf. Es entwickelt sich ein recht ambivalentes Verhältnis zwischen den beiden: eine große Fremdheit bleibt, aber auch ein Vertrautsein, eine fast freundschaftliche Beziehung entwickelt sich. Als Helmer eines Tages ein Schaf, das im Wassergraben zu ertrinken droht, herausziehen will, gerät er selber in den modrigen Untergrund und kann sich unter dem Schaf nicht mehr befreien. Henk zieht ihn im letzten Moment aus dem Wasser und rettet so sein Leben. Auch zwischen ihnen gibt es vorsichtige homoerotische Annäherungen. Beide gewinnen durch den anderen, verstören aber auch. So kommt es, dass Henk nach etwa drei Monaten eines Tages kurz entschlossen den Hof verlässt und zu seiner Mutter zurückfährt. Zu dieser Zeit hat Helmers Vater beschlossen zu sterben, er trinkt nur noch ein wenig Wasser und Saft. Helmer glaubt, sein Vater schliefe, als er ihm über seinen Schmerz erzählt, den er all die Jahre über die gefühlte Ablehnung empfunden hat. Es gibt auf beiden Seiten Anzeichen für ein gegenseitiges Verständnis, ohne dass es zu einer expliziten Versöhnung kommt. Wenig später stirbt der Vater. Helmer ist nun allein, als er auf der Straße zum Haus einen Wagen mit einem alten Mann sieht; es ist der alte Knecht Jaap, der noch einmal zurückgekehrt ist, ohne dafür einen Grund zu nennen. Eine kurze Zeit darauf verkauft Helmer seine Kühe, bittet Ada und die Kinder, die Schafe, Esel und Hühner zu versorgen, und fährt mit Jaap nach Dänemark. Er scheint zu sich gefunden zu haben, hat die Vergangenheit hinter sich gelassen und lebt im Jetzt.

Ähnlich wie der Ich-Erzähler, der nach dem Tod seines Bruders nie mehr einem Menschen wirkliche Nähe erlaubt, weil er seine eigene Identität in Frage gestellt sieht, bleibt der Leser den ganzen Roman hindurch mit einer gewissen Distanz und Unsicherheit zurück. Inwiefern steuern Erzählhaltung, Figurenkonstellation und Zeitgestaltung diese Rezeption des Textes? Wie erzeugt ein Text Spannung, in dem die Handlung eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint und in dem die Beobachtung und der innere Monolog des Erzählers einen großen Raum einnehmen? Ist die Erzählerfigur identifikatorisch angelegt? Der Roman erzählt von einem Leben, das jede Symmetrie, jedes Gleichgewicht verloren hat; wie gelingt es dem Autor, eine Entwicklung dieser Figur glaubwürdig zu konstruieren? Die Techniken der klassischen Erzähltextanalyse gründen vorwiegend auf binären Oppositionen. Gerade im vorliegenden Roman scheint in der antithetischen Figurenkonstellation ein Schlüssel zur Erschließung zu liegen. Wie sehr sind Werteopposition und Ambivalenz ein Grundmuster, das die Geschichte vorantreibt? Auf dieser Folie können vielleicht auch die Räume betrachtet werden (oben-unten, innen-draußen u.s.w.). Sind sie Projektionsebenen für innere Räume, Räume der Erinnerung, Entwicklungsräume? Eine auffällige, fast personale Rolle spielen Tiere in Bakkers Roman. Wie unterstützt die Tiermetaphorik als Spiegelung die Konstruktion der Figuren? Auch die Betrachtung des Alter(n)s ist aufschlussreich: es gibt die Bewegung des alten Vaters zu einem schließlich bewussten Sterben hin, zum anderen die Bewegung des 'alten' Sohnes zu einer neuen Lebenssituation hin – fast einer Verjüngung – eine Gegenbewegung. Entsteht aus der Opposition von Jugend (Riets Sohn Henk) und Alter ein Spannungsfeld, aus dem heraus die Geschichte authentisch wird?

Mit dem Instrumentarium verschiedener erzähltheoretischer Modelle versuchen die Mitglieder der Projektgruppe „Literarische Altersbilder“ eine Analyse des Textes. Hierbei findet der klassische strukturalistische Ansatz der Narratologie Anwendung, wie er in unterschiedlichen Facetten bei Peter Wenzel erläutert wird. Es erschien hierbei wenig sinnvoll, die Analyse in das enge Raster eines bestimmten Modells zu zwängen, vielmehr nutzen die Mitglieder verschiedene Aspekte des Kommunikations- und des Zwei-Ebenen-Modells, um so möglichst ergiebig dem Roman näher zu kommen.


Erzählsituation

Die Erzählsituation in Bakkers Roman „Oben ist es still“ erscheint auf den ersten Blick einfach und klar. Der erste Satz lautet „Ich habe Vater nach oben geschafft“ und lässt den Leser damit sofort erkennen, dass wir es hier mit einem autodiegetischen , also einem Ich-Erzähler zu tun haben, der zugleich Protagonist ist und auf einer Ebene mit den übrigen Figuren steht. Es gibt nur diese eine Erzählebene, es spricht durchgehend im gesamten Roman dieses Ich, von dem wir im Laufe der Erzählung erfahren, dass es sich um einen Mann namens Helmer van Wonderen handelt. Sein Leben ist Gegenstand des Romans, obwohl es recht ereignislos und nach üblichen Maßstäben bedeutungslos wirkt.

Wenn man sich vor Augen führt, was Fiktion und damit Literatur bedeutet, und dabei der Definition von Baker folgt - „Fiction does not imitate reality out there. It imitates a fellow tellling about it“ - , wird einem klar, dass an der Konstruktion der Erzähler-Figur der ganze Roman hängt. Helmer ist sowohl der Sprecher, ohne allerdings den Leser jemals anzusprechen, so dass keine explizite Erzählsituation entsteht, als auch derjenige, der das erzählte Geschehen sieht. Der Leser sieht die dargestellte Welt ausschließlich aus den Augen von Helmer wie durch eine mit dessen Augen verbundene Kamera, also in einer sehr begrenzten Perspektive. Wie subjektiv diese Sicht ist, verraten zum Beispiel viele unterschwellige Wertungen. Der eingangs zitierte erste Satz „Ich habe Vater nach oben geschafft“ lässt den Vater durch das verwendete Verb als willenlosen Gegenstand erscheinen und der Leser hat es sehr schwer, im Laufe des Romans eine vom Ich-Erzähler unabhängige Sicht auf den Vater zu entwickeln. Die durch ihre Subjektivität bedingte Unzuverlässigkeit des Ich-Erzählers gerade hinsichtlich der übrigen Figuren und deren Beziehungen erfordert vom Leser folglich ständige Wachsamkeit.

Eine solche Lesehaltung aufzubauen, fällt andererseits sehr schwer und wird wohl nur dem geübten und konzentrierten Leser immer gelingen. Denn wie keine andere Erzählweise lädt die Ich-Perspektive zur Identifikation ein, ja erzwingt sie geradezu, solange nicht Textstrategien verwendet werden, die die Identifikation stören wie zum Beispiel die Erzeugung von Widersprüchen oder die Gegenüberstellung gegensätzlicher Positionen. Dies geschieht in Bakkers Roman nur auf eine sehr zurückhaltende und andeutende Weise, der Leser ist ganz auf den Ich-Erzähler angewiesen.

Durch das zurückgezogene Leben, das Helmer als Bauer auf dem elterlichen Hof führt, begleitet der Leser den Erzähler vor allem bei seiner Arbeit, den zahlreichen alltäglichen Verrichtungen zur Versorgung des Viehs, zur Pflege der Natur, zur Umgestaltung und Instandhaltung des Hauses, zur Versorgung des bettlägerigen alten Vaters und seiner selbst bis hin zu Details der Körperpflege . Dabei ist der Leser ständig Zuschauer der teilweise sehr detailliert geschilderten Handlungen, deren Ursachen und Absichten er jedoch zunächst nicht versteht, was die Identifikation erschwert .

Durch die ausführliche Darstellung entsteht der Eindruck von Bedächtigkeit, Langsamkeit und Sorgfalt der Verrichtungen. Dies steigert sich noch, wenn wir Helmer nur bei seinen Blicken folgen, ohne dass es überhaupt zu Tätigkeiten kommt. Häufig beobachtet der Erzähler einfach nur seine Umgebung, er schaut konzentriert Einzelheiten im Haus an, da er sich neu einrichtet und folglich kritisch prüft, was er ändern will oder wie das Ergebnis seines Tuns ist. Seine Blicke gehen aber auch oft nach draußen in die Natur. Er beobachtet die Tiere, besonders häufig die Nebelkrähe , aber auch seine Esel oder die Schafe, immer wieder auch das Wetter. Das Schauen scheint eine für Helmer sehr typische und wichtige Beschäftigung zu sein. Er sieht genau hin, er sieht die Unterschiede: „Ich […] beobachte dabei die Wasservögel. Vater nennt Teichhühner und Bläßhühner ‚Wasserhühner‘, weil er sie nicht auseinanderhalten kann.“

Blicke spielen eine ganz entscheidende Rolle in Helmers Beziehungen zu Menschen. Seine verstorbene Mutter, die als „unerhört gutmütig“ charakterisiert wird, „brauchte Henk und mich nur anzublicken, und alles war wieder gut.“ . Mit seiner Mutter verbindet Helmer „ein Bündnis der Blicke, nicht der Worte“ . Die Wesensverwandtschaft mit der Mutter bestimmt Helmers Leben ganz entscheidend und ist das Gegenstück zu seinem Verhältnis zum Vater. „Nach ihrem Tod hatte ich niemanden mehr zum Anblicken, zum Mitblicken, das war das Schlimmste für mich. […] Ich konnte – und kann – Vater kaum in die Augen schauen. […] In Vaters Augen las ich nichts“ .

Diese Textstelle ist gleichzeitig ein deutliches Beispiel für die durch den Erzähler vermittelte Sympathielenkung, die die Identifikation des Lesers mit dem Ich-Erzähler fördert. Der Leser kann kaum anders, als die Mutter sympathisch, den Vater dagegen als zutiefst ablehnenswert zu empfinden. Dazu verwendet der Autor niemals direkte Bewertungen des Erzählers, sondern er lässt den Leser dessen Empfindungen nachvollziehen.

Beispielsweise erinnert sich Helmer zu Beginn des Romans daran, wie sein Vater auf eine besonders brutale Weise junge Katzen tötete. Als ihm das nicht vollständig gelingt, erlebt der Leser mit, wie Helmer sich vom Vater distanziert: „Vater hatte etwas falsch gemacht, und ich durfte die Sache zu Ende bringen. Aber ich dachte nicht daran.“ Nachdem alle Tiere schließlich doch verendet sind, heißt es dann lapidar: „Er will Nikolaus feiern, weil das ‚gemütlich‘ ist“ , so dass die unvermittelte Kontrastierung dieses Wunsches mit der grausamen Tiervernichtung die Sympathie des Lesers ganz auf die Seite des Erzählers lenkt und damit gegen den Vater einstellt. Der hohe Grad an Rezeptions- und Sympathielenkung durch den Erzähler als Integrationsinstanz fördert das identifikatorische Lesen.

Erschwert wird die Identifikation dagegen vor allem dadurch, dass der Erzähler sein Innenleben nur sehr sparsam verbalisiert. Sein Verhalten wird vielfach nur in der Außenperspektive dargestellt, so dass der Leser, der zum bloßen Zuschauer der äußeren Handlungen wird, besonders zu Anfang der Lektüre häufig auf Leerstellen stößt und das dargestellte Verhalten ihm rätselhaft erscheint. Solche Leerstellen entstehen auch dort, wo der Erzähler gewissermaßen auf Distanz zu sich selbst geht, indem er sich selbst von außen, also mit den Blicken anderer zu sehen versucht. So heißt es bei der Schilderung zweier Kanufahrer, die am Hof vorbei paddeln: „Ich […] versuchte meinen Hof mit ihren Augen zu sehen“. Ein besonders deutliches Beispiel findet sich, als Helmer spontan versucht, die ihn beunruhigende Nebelkrähe zu verscheuchen, dann aber innehält und sein eigenes Verhalten von außen betrachtet: „[…] dann erst schaue ich mich wie ertappt um. Sonderbarer Bauer in vorgerücktem Alter spricht vor offener Haustür laut mit Unsichtbarem“ . Dem Leser wird durch die Demonstration alternativer Sichtweisen bewusst, dass seine eigene Sicht auf den Protagonisten gelenkt wird.

Bei dem Wiedersehen mit Riet zeigt sich, dass der Erzähler die wechselseitigen Blicke reflektiert: „An ihrem Gesicht ist nicht abzulesen, ob sie sich bewußt dort hingesetzt hat“ heißt es über Riet, während Helmer von sich denkt: „[…] solange ich Riet den Rücken zuwende, ist es egal, was für ein Gesicht ich mache“. Die Begrenztheit der eigenen Perspektive wird explizit thematisiert, wenn der Erzähler sich fragt: „Das denke ich, was denkt sie? Am liebsten würde ich wie sie mein Gesicht in den Händen vergraben“ . Der Grad der Selbstdistanzierung steigert sich erneut, als Riets Sohn Henk zu Helmer auf den Hof kommt: „Ich sehe den Hof mit seinen Augen“ , „Hier in der Scheune sehe ich auch wieder alles mit seinen Augen“ . Solche Stellen sind Ausdruck dessen, dass der Erzähler seine Identität in Frage stellt und auf der Suche nach einem neuen, selbst bestimmten Lebenskonzept ist.

Zu einer besonders starken Verunsicherung des Lesers kommt es zwangsläufig bei der Darstellung des äußerst problematischen Vater-Sohn-Verhältnisses, das man auch als blicklose Beziehung bezeichnen könnte. Diese Blicklosigkeit hat zur Folge, dass Helmer beim Gespräch mit seinem Vater aus dem Fenster schaut , so dass auch der Leser nichts über und aus dem Blick des Vaters erfährt. Der subjektiven Darstellung des Vaters aus der Perspektive Helmers stehen die wenigen Äußerungen des Vaters in direkter Rede unvermittelt gegenüber. Durch die Wiedergabe von Dialogen in überwiegend externer Fokalisierung und ohne erzählerische Einbettung wird der Leser allein gelassen, seine Identifikation mit dem Ich-Erzähler unterbrochen und dadurch in Frage gestellt. In einer der wichtigsten Dialog-Szenen zwischen Helmer und seinem Vater wird die Distanzierung des Ich-Erzählers von sich selbst – eingeleitet durch die Formulierung „Ich sehe mich neben dem Bett knien“ - so weit getrieben, dass der Leser unsicher bleibt, ob die Versöhnungsgeste des Vaters tatsächlich geschehen oder nur Wunschvorstellung des Protagonisten ist.

Trotz solcher Irritationen entwickelt der Leser im Verlauf der Lektüre ganz allmählich Verständnis für den Protagonisten. Dazu tragen besonders die Erinnerungen des Erzählers bei, die vielfach dadurch ausgelöst werden, dass er in seiner Umgebung etwas sieht. Ein Beispiel ist die durch das Foto auf dem Kaminsims hervorgerufene Erinnerung an die Mutter . Jede Erinnerungsszene bildet für den Leser einen neuen Stein zu dem Puzzle, das Schritt für Schritt den Protagonisten erkennbar werden lässt .

Die sichersten Quellen zum Verständnis des Ich-Erzählers finden sich immer dort, wo durch interne Fokalisierung seine Gefühle explizit thematisiert werden. Bei der Beobachtung eines Vogelschwarms spricht er von einer seltsamen „Erscheinung, die mich beunruhigt“ , ein Gefühl, das Helmer im Verlauf des Romans häufig empfindet und das u.a. auch Ursache seiner Schlafprobleme ist, bei deren Schilderung es heißt: „Ich habe mein Leben lang Angst gehabt. Angst vor Stille und Dunkelheit.“ Charakteristisch für ihn sind Begriffe wie „Sehnsucht“ und „Wehmut“ , obwohl sie genauso wenig ausgesprochen werden wie „Wut“ oder „Groll“ , Gefühle, die er nicht nur Riet, sondern viel mehr noch seinem Vater entgegenbringt. Nur der Leser, der damit allen Erzählfiguren überlegen ist, erfährt von diesen Gefühlen direkt, zum Beispiel davon, „daß ich mich vergessen fühle“ oder „Mehr als sonst habe ich das Gefühl, hier nicht hinzugehören“ . Die starke Verbundenheit des Lesers mit dem Protagonisten rührt daher, dass dieser nur ihn, den Leser, teilhaben lässt an seiner Identitätssuche und –findung: „Warum habe ich die Dinge einfach laufen lassen? Ich hätte zu Vater auch nein sagen können, mach’s allein oder verkauf den Hof.“

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Erzählsituation so gestaltet ist, dass eine zunehmend starke Bindung des Lesers an den Ich-Erzähler entsteht. Helmers Situation wird immer deutlicher und verständlicher, der Leser verfolgt dessen Entscheidungen mit Anteilnahme und Sympathie. Durch die dargestellten Formen der Distanzierung kommt es dabei nicht zur vollständigen Identifikation, sondern es bleibt die Notwendigkeit der kritischen Reflexion, die letztlich auch die Basis dafür ist, dass der Leser sein eigenes Leben zu Helmers Leben in Beziehung setzen kann.


Raum

Einen aufschlussreichen Einblick in die literarische Raumdarstellung und ein Instrumentarium für eine Analyse liefert der Beitrag von Birgit Haupt: „Zur Analyse des Raums“1, aus dem hier kurz einige Aspekte dargestellt werden. Die Raumanalyse wurde in der Erzählforschung entweder völlig ignoriert oder nur beiläufig behandelt, weil der Raum nur als Hintergrundbild und Randaspekt „für das Auftreten der Figuren und die Entwicklung der Handlung“2 angesehen wurde. Impulse erhielt die Raumanalyse erst durch Hoffmann (1978), der für den literarischen Raum folgende Unterscheidung vornahm: Gestimmter Raum - ist der Raum, „wie er in seiner Atmosphäre wahrgenommen wird“3. Er ist nur subjektiv existent, weil er mit den üblichen Kriterien eines Raumes, wie z.B. Größe, nicht beschrieben werden kann. Aktionsraum - ist der Raum, der „zum Ausführen von Handlungen“4 und Bewegungen genutzt wird. Anschauungsraum - ist der Raum, in dem das ‚Sehen‘ eine übergeordnete Rolle spielt und alles bedeutsam wird, was für das Subjekt sichtbar ist und dadurch „für die meisten Menschen identisch“5 ist. Die Strukturierung des Raums in diese drei Funktionen soll nicht bedeuten, dass es sich um drei voneinander getrennte Räume handeln muss. Die Raumwahrnehmung ist immer auch subjektbezogen, und das Fühlen, Handeln und Sehen sind normalerweise „gleichzeitig stattfindende und miteinander interagierende Prozesse“ 6, die sich oft überlappen.

Der Titel des Romans „Oben ist es still“ verweist auf einen Raum, der durch seine ungenaue Ortsangabe zunächst nicht einzuordnen ist, aber Neugierde erweckt. Wo ist ‚oben‘? Der Titel war ein Impuls, sich mit der Raumdarstellung in diesem Roman näher zu beschäftigen. Die Erzählhandlung beginnt im Haus, dem eine zentrale Bedeutung zukommt. Sie führt weiter nach draußen in den Hof und die Umgebung. Schließlich werden Dänemark und die Stationen der Anreise dorthin beschrieben.

Exemplarisch werden hier nur „Das Haus“ und „Der Hof“ analysiert.

Drinnen - Das Haus

Helmer von Wonderen hat sich entschlossen, sein Leben zu verändern. Er beginnt damit, das Haus, in dem er seit fünfundfünzig Jahren wohnt, zu entrümpeln und umzugestalten. Es ist ein einfaches Bauernhaus, über dessen Außenansicht uns nichts mitgeteilt wird. Dagegen wird das Innere des Hauses - die Atmosphäre, die Zimmer, jedes noch so kleine Detail der Einrichtung – von Helmer genau beschrieben, so dass der Leser ein exaktes Bild der Räumlichkeiten vor Augen hat. Dabei ist jeder im Erzähltext beschriebene Raum sowohl Aktionsraum, Anschauungsraum als auch gestimmter Raum. Bemerkenswert ist jedoch, dass bei allen Darstellungen eine deutliche Akzentuierung auf der Stimmung liegt, die diese Räume für Helmer ausstrahlen. In der oberen Etage sind drei Zimmer, Helmers, Henks und ein Zimmerchen, das nie benutzt und deswegen nicht möbliert wurde. Unten befinden sich Wohn- und Schlafzimmer, die Küche und ein Badezimmer. Helmer räumt sein oberes Zimmer leer, stellt das muffig riechende Doppelbett seiner Eltern darin auf und trägt seinen greisen, gebrechlichen Vater von unten nach oben. Bilder, Fotos, Sticklappen, eine Standuhr und ein Jagdgewehr kommen zum Vater. Der ganze übrige Nippes wird in einen Karton gepackt und in Henks Zimmer gestellt, das inzwischen zum Abstellraum für allerlei Unnützes und Überflüssiges geworden ist, an das man „eigentlich keinen Gedanken“7 mehr verschwenden will. Bis vor kurzem hat er noch auf Henks Bett seinen Mittagsschlaf gemacht. Inzwischen ist dieses Zimmer aber so vollgestopft, dass man sich kaum noch bewegen kann. Helmer hat zwar den Plan, dass er „für all das einen besseren Platz finden“8 muss, aber das wird nicht geschehen. Bei allen Veränderungen, die das Haus erfährt, wird Henks Zimmer nicht mit einbezogen. Es wird ein Erinnerungsraum an alte, vergangene Zeiten bleiben. Im neuen Raum des Vaters riecht es muffig und schimmelig. Hier herrscht eine bedrückende Atmosphäre, die nicht nur durch den kranken, bald sterbenden Vater verursacht wird, sondern auch durch die Art, wie dort der Sohn mit seinem Vater umgeht. Helmer sorgt zwar für die notwendige Pflege, für eine gerade noch ausreichende Verpflegung, aber dies alles geschieht mit kurzen, unfreundlichen und oft rüden Worten, die seine Verachtung für den Vater nur zu deutlich machen. Die Aufenthalte im Krankenzimmer dauern meist nur wenige Minuten und sind mitunter begleitet vom trägen Ticken der Standuhr „Ich will nur kurz nach ihm sehen und schnell wieder verschwinden.“9 Dann ist es oben wieder still. Der kleine Raum in der oberen Etage, der von allen ‚das neue Zimmerchen‘ genannt wird, wurde in den sechziger Jahren mit der Milchkammer angebaut. Helmer weiß nicht, für welchen Zweck der Raum ursprünglich bestimmt war. Er blieb immer ungenutzt und leer und es gab nie einen Grund, ihn zu betreten. Das ändert sich erst, als Riets Sohn Henk als Gehilfe auf den Hof kommt und dieses Zimmerchen für ihn eingerichtet wird. Helmer streicht die Wände, den Fensterrahmen und die Türe. Er kauft ein neues Bett und eine Leselampe und trägt aus Henks Zimmer eine alte Matratze, einen Nachttisch und einen Stuhl nach drüben. Nach vielen Jahren hat das Zimmerchen endlich eine Funktion als Gästezimmer bekommen. Aber wohlfühlen kann man sich dort nicht. „Es ist kalt und deprimierend da drin. Und leer.“10

Helmer richtet die untere Etage für sich ein, sie wird spärlich möbliert. Sein Schlafzimmer ist bis auf das Bett völlig leer. Der Boden erhält eine blaugraue Farbe wie „die Farbe des IJsselmeers an einem Sommertag, wenn in der Ferne graue Gewitterwolken drohen“11. Die Wahl der Bodenfarbe ist bezeichnend für Helmers Gemütslage: Trotz der Lichtblicke, die sich durch die Befreiung von altem Gerümpel ergeben, ist seine Zukunft noch ungewiss und von grauen Gewitterwolken bedroht. So schützt er sich und seine neuen Räume auch mit Lamellenjalousien, die er nie hochzieht, als ob er Bedrohliches von draußen fernhalten müsste.

Die Leere in den neuen Räumen, die von ihm beschrieben und von Besuchern wahrgenommen wird, spiegelt die Leere in seinem momentanen Leben wieder: Helmer ist allein mit einem ungeliebten Vater, ohne Mutter, ohne Bruder, ohne Jaap. Er hat keine Frau, keine Kinder, keine Freunde. Wenn er alleine in der Küche sitzt und alle vier Stühle als wechselnde Sitzgelegenheit nutzt, so als wären vier Menschen anwesend, werden Einsamkeit und Leere auch für den Leser greifbar. Oben ist der Vater, der noch immer nicht ‚verschwinden‘ will, die Erinnerung an den toten Henk, das seltsame Zimmerchen, “hier oben ist immer Abend“12. Nur die Treppe stellt noch eine Verbindung von oben und unten dar, von alt und neu, von Tod und Leben.

Die Veränderungen in Helmers Leben beginnen mit der Entrümpelung des Hauses. Unser Blick ist von außen nach innen gerichtet: ins Innere des Hauses und in die Seele von Helmer. Er trennt sich vom alten Inventar, schafft Platz im Haus, für sich, für einen Neuanfang. Und nachdem der Vater gestorben ist, wird auch der übrige Ballast entsorgt und ermöglicht ihm endlich Mobilität: Er trennt sich von allem, was er nicht hatte haben wollen, was ihm aufgezwungen wurde: Haus, Hof, Tiere, Land. Er wird Vieh verkaufen, den Hof verlassen, mit Jaap nach Dänemark reisen, einen neuen Namen erhalten und sich neue Lebensräume erschließen.

Draußen - Der Hof

Vom Haus geht man über die Waschküche zur Milchkammer. Die üblichen Gebäude eines Bauernhofes schließen sich an: Scheune, Hühnerhaus und Stallungen für Kühe, Schafe und Esel. Auf dem Hof befinden sich Gemüsegarten und Misthaufen, etwas weiter weg sind die Eselskoppel und die Weiden. Der Anstrich des Viehstalls „ist tadellos in Ordnung, und kein Dachziegel hängt schief“13. Ansonsten erfahren wir wenig Konkretes über die Gebäude und den Hof, es sind keine Anschauungsräume sondern Aktionsräume, wo die monotonen Pflichthandlungen eines Bauern erledigt werden: Kühe melken, Schafe und Hühner versorgen, Zäune reparieren, Weiden schneiden. Seit Jahrzehnten macht Helmer die Arbeit, die nun mal getan werden muss, mit einer fatalistischen Ruhe und Ergebenheit.

Nicht nur im Haus, auch draußen empfindet Helmer Leere und Einsamkeit. Hier wird nie eine Frau „ein paarmal in der Woche auf dem Grasstreifen beim Gemüsegarten die Wäsche auf die Leine hängen“14. Beim Melken legt er schon mal die Stirn auf die warme Kuhflanke und sein Kopf hebt und senkt sich zu den Atemzügen der Kuh. Dann fühlt er sich sicher und geborgen. „Aber leer ist es hier auch“15. Manchmal kann nur das Gekläff der Blässhühner die Leere vertreiben.

Unser Blick ist jetzt von innen nach außen gerichtet. Tragische Ereignisse – die draußen stattfanden - haben bei Helmer Spuren hinterlassen: Der Tod seines Zwillingsbruders, das abgebrannte Häuschen, in dem einmal Henk und Riet wohnen sollten, oder das Töten eines jeden neuen Katzenwurfs, das sein Vater auf bestialische Weise erledigte. Und mit 55 Jahren können ihn noch Vögel und Schafe beunruhigen oder aus dem Gleichgewicht bringen: eine Nebelkrähe, ein Vogelschwarm, ein Schaf im Wassergraben.

Regen, Nebel, Kälte und Schnee bestimmen die Wetterlage. Es überwiegen Bilder von einer fast leeren, grau grundierten Landschaft mit wenigen Menschen, umgeben von Kühen und Schafen. Als Helmer Henk von der Fähre abholt und mit ihm nach Hause fährt, sieht er den Hof mit dessen Augen: „Nasse Gebäude in einer nassen Umgebung, triefende, kahle Bäume, vom Frost arg mitgenommenes Gras, mickrige Grünkohlköpfe, leeres Land…“16.

Nur manchmal sieht er die Natur positiv: „Ich liebe die Februarsonne… Kahle Äste im schrägen Sonnenlicht sind schön“…17. Aber kahle Äste sind auch leere Äste.

Die Leere der Räume – draußen wie drinnen – korrespondiert mit der Leere in Helmers Leben. Es gibt niemanden, der ihm wirklich nahe steht. Mitunter fühlt er sich geborgen im Haus oder auf der Flanke einer Kuh, aber immer ist er allein – hier und auch in Dänemark.

In dem Roman „Oben ist es still“ wird uns Helmers Raumwahrnehmung vermittelt. Er beschreibt die Einrichtung, die Handlungen und Bewegungen, aber vor allem beschreibt er die Atmosphäre und Stimmung, die er im jeweiligen Raum empfindet. Er tut das so eindringlich, dass der Leser seine Empfindungen teilt. Durch die Verwendung von bestimmten Adjektiven (leer, sicher, bedrohlich,), durch die Schilderung von Wetterlagen (Nebel, Nässe, Kälte, Schnee) und Geräuschen (Ticken der Standuhr, Gekläff der Blässhühner), gibt er dem Haus und dem Hof eine bedrückende Atmosphäre, der der Leser sich nicht entziehen kann. Die allgegenwärtige Leere in Helmers Leben könnte nach der Entrümpelung und mit der Reise nach Dänemark eine Bedeutungsverschiebung erfahren: als Freiraum für neue Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung.


Zeit

Was ist Zeit? Auch Einstein hat vor dieser Frage kapituliert, wenn er sagt: „Zeit ist das, was man an der Uhr abliest.“ Die Uhr misst die Zeit, sie erklärt sie nicht. „Zeit“ als Konstrukt scheint weniger fassbar als „Raum“, dessen materiale Gegebenheiten sie braucht, um sich auszudrücken. Wir sprechen von den Spuren der Zeit etwa im Gesicht eines Menschen, im baulichen Zustand eines Hauses, in der Abnutzung von Gebrauchsgegenständen. Diese enge Verknüpfung von Raum und Zeit wird besonders deutlich, wenn Helmer mit seinem Umzug innerhalb des Hauses die Vergangenheit (der alte Vater, die Standuhr, Fotos, die Sticklappen) nach oben bringt – zeitlich Vergangenes wird räumlich ent-fernt – und die Gegenwart (Zimmer des „neuen“ Helmer, frischer Anstrich, neue Möbel) unten einzieht. Einzelnen Gegenständen, wie zum Beispiel der Standuhr, aber natürlich auch den Fotos, den Sticklappen, kommt als Requisiten, Relikten und Trägern der Vergangenheit eine symbolische Bedeutung zu: Die alte Uhr tickt träge , sie muss öfter aufgezogen werden , sie „füllt das Zimmer mit Zeit, mit langsam wegpochender Zeit“ , sie wird von Helmer angehalten, als der Vater gestorben ist , als – um im assoziierten symbolischen Bezug zu bleiben – seine Uhr ¬– seine Zeit – abgelaufen ist. Erzählzeit und erzählte Zeit stehen in krassem Ungleichverhältnis. Während erstere etwa ein Dutzend Stunden umfassen wird, bezieht sich letztere auf einen Zeitraum von über 50 Jahren, wenn man die durch Rückschau und Erinnerung in den Gegenwartsbericht des Protagonisten – er dauert von November bis Ende April, also ein halbes Jahr – aufgenommene Zeit berücksichtigt.

Der Ich-Erzähler Helmer erzählt nicht linear, also der chronologischen Abfolge der Ereignisse entsprechend, sondern nicht-linear/diskontinuierlich – sein Erzählfluss ist ständig von rückwärtsgewandten Anachronien (chronologisch abweichenden Stellen; hier Rückschau/Erinnerung) unterbrochen. So entwickelt sich puzzleartig nach und nach das Bild, das der Leser sich vom Vergangenen macht – ein allerdings bewegtes Bild, da jedes neu gesetzte Teilchen die Ordnung der schon gesetzten unter Umständen wieder verändert, was stark dazu beiträgt, Interesse, Neugier und Spannung beim Leser aufrechtzuerhalten. Diese Anachronien ergeben sich häufig assoziativ aus den Gedankengängen einzelner Figuren – „[…] nach einer Weile setzt sie sich aufs Bett. [Absatz] Dann sehe ich sie nicht mehr, sie ist ganz unter Henk verschwunden,[…]“  ; „Gemessen daran, wie Vater mit dem Knecht umzugehen pflegte,[…]. [Absatz] ,Hier hab ich das Sagen, verdammt noch mal!‘ “ –‚ sind also subjektiv geprägt und, z. B. im Falle von Henks Tod oder der Kanufahrer, auch repetitiv: Das gleiche Ereignis wird in der Rückschau/Erinnerung derselben oder verschiedener Personen vergegenwärtigt. Unter dem Einfluss dieser Anachronien verändert sich die Relation zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit immer wieder – der dem Leser abverlangte Gang durch die Erzählung gleicht oft einer Springprozession. Am stärksten ist die Zeitraffung vertreten, was natürlich dem bereits erwähnten krassen Ungleichverhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit geschuldet ist. Interessanterweise klafft innerhalb der in der Vergangenheit liegenden Ereignisse eine große Lücke, eine Leerstelle: Wir erfahren zwar einiges über Kindheit und Jugend des Protagonisten, aber es fehlt weitgehend seine Erwachsenen-Zeit, mithin ca. 35 Jahre! Diese enorme Aussparung, unter der der Leser allerdings nicht „leidet“, weil er via Rückschau genügend Informationen erhält, um sich eine Vorstellung vom Ausgesparten zu machen, gibt eben diesen Informationen ein stärkeres Gewicht und bewirkt eine Bedeutungsverdichtung des Erzählten. Während – auf der Ebene der „histoire“ – die Bedeutungslosigkeit des Ausgesparten vom Ich-Erzähler selbst thematisiert und bestätigt wird, wenn er feststellt: „Plötzlich interessiert mich die Zeit zwischen seinem [Jaaps] Weggang und seiner Rückkehr nicht mehr. Nicht einmal die Zeit, bevor er zu uns kam. Was spielt das alles schon für eine Rolle?“ , ist die Wirkung dieser Feststellung – auf der Ebene des „discours“ – eine völlig andere: nämlich die einer Fokussierung auf das Hier und Jetzt, die räumliche und zeitliche Gegenwart des Protagonisten.

Auch für Zeitdeckung finden sich im Text Belege, vor allem bei den Dialogen, die auf „Inquit-Formeln“ (die Rede begleitende formelhafte Wendungen wie „sagte er“, „fragte sie“ etc.) verzichten und dadurch den Leser unmittelbar an der Unterhaltung teilhaben lassen ; auch wenn der Autor den Ich-Erzähler seine Tätigkeiten „aufzählen“ lässt , nähern Erzählzeit und erzählte Zeit sich an, und es wird – zusammen mit der Verwendung des Präsens – auch hier beim Leser eine starke Unmittelbarkeit erzeugt, ein Gefühl des Ganz-nah-am-Geschehen-Seins. Zeitdehnung findet sich, wo dem Protagonisten in einer extremen Situation, als er nämlich unter der Last des zu rettenden Schafes in kürzester Zeit zu ertrinken droht , viele Gedanken durch den Kopf schießen, die relativ ausführlich wiedergegeben werden, was die erzählte Situation emotional auflädt und den Leser ebenfalls mit ins Geschehen hineinzieht. Zu den die Rezeption des Textes stark beeinflussenden Zeitstrukturen gehört auch die Erzählfrequenz, bei der es um das Verhältnis von Erzähl- und Ereignishäufigkeit geht. Henks Unfalltod, ein natürlich einmaliger Vorgang, wird mehrfach und auch aus der Sicht verschiedener Personen erzählt (s.o.) – im Frequenzmodell von S. Stra- sen würde er unter „repetitiv“ fallen; Helmers Schlittschuhlaufen mit Jaap unter „multi-singulativ“: Ein häufiger vorkommendes Ereignis wird auch häufiger erzählt. Auch die wiederholte Schilderung vieler Routinearbeiten, die der Betrieb des Bauernhofs Helmer abverlangt, gehört hierher. Während im ersten Beispiel, Henks Unfalltod, die Betonung auf der unheilvollen Verkettung bestimmter Umstände liegt und Helmers sachliche Schilderung gerade die sinnlose Zufälligkeit dieses Todes betont, das mehrfach erinnerte Schlittschulaufen mit Jaap vor allem die Beziehung Helmer-Jaap/Mutter-Jaap beleuchtet, unterstreicht letzteres, die immer wiederkehrenden Arbeiten auf dem Bauernhof, vor allem deren Mühsal und teilweise auch den damit verbundenen Verdruss. Bei einem weiteren Aspekt der Zeitgestaltung, der Erzählgenauigkeit, bei der es darum geht, ob und wie zeitlich genau die Ereignisse dargestellt werden, lassen sich einige Unterschiede feststellen. Mit genauem Datum, dem 19. April 1967 , wird mehrfach nur ein Ereignis vermerkt: Henks Tod. Auch dadurch wird deutlich, welche Bedeutung dieses Ereignis im Roman hat. Ein weiteres, banal anmutendes Ereignis, nämlich das Nikolaus-Geschenkpäckchen mit einem „nichtssagend[en]“ Gedicht, das Helmer von Riet am 5. Dezember 1966 erhält, wird einmal erwähnt. Dass Helmer dies so genau erinnert, sagt viel über die damit verbundene Kränkung aus. Der Tod des Vaters kann aufgrund verschiedener sich darauf beziehender Textstellen auf einen Karfreitag datiert werden – ein Zufall? Andere Begebenheiten wie die Geburt der Zwillinge Helmer und Henk, Ereignisse der Kindheit der beiden, Beginn der Beziehung Henk-Riet, Jaaps Kündigung, Helmers Studium, Tod der Mutter sind aufgrund großzügigerer Zeitangaben nur mehr oder weniger genau zeitlich einzuordnen – ganz offensichtlich ist eine genauere Datierung dieser Ereignisse aus der Sicht des Ich-Erzählers nicht notwendig, auch würde eine gleichmäßig verteilte Datierung die Bedeutung von Henks Tod schmälern. Auf fällt weiterhin die unterschiedliche Handhabung der grammatischen Zeit, des Tempus. Während Helmers Bericht (récit) mit Perfekt und Präteritum beginnt —„Ich habe Vater nach oben geschafft“ –, wird er kurz darauf im Präsens fortgeführt: „Jetzt sitze ich […]“ Damit wird das Nach-oben-Schaffen des Vaters als etwas Unabänderliches, Er-ledigtes hingestellt, ein Faktum, von dem aus alles Weitere sich ergibt. Von den gedanklichen Ausflügen in die Vergangenheit abgesehen, bleibt das Präsens auch das vorherrschende Tempus, was beim Leser den Eindruck unmittelbarer Teilhabe weckt, ihn zu einem fast gleichrangigen Begleiter des Erzähler-Ichs macht, mit dem er – jetzt! – von Aktion zu Aktion schreitet. Während das vom Ich-Erzähler verwendete Präteritum zwischen geschildertem Ereignis und Leser (zeitliche) Distanz schafft, wird diese im Präsens nahezu aufgegeben, was neben der schon erwähnten unmittelbareren Miteinbeziehung des Lesers auch als Perspektivenverlust gesehen werden kann und, wie in folgendem Beispiel, beim Leser Verunsicherung hervorruft, wie eine Szene zu interpretieren sei: „Ich sehe mich neben dem Bett knien […], und ich sehe Vaters alte Hand,[…] Er hebt die Hand, […] und legt mir die Hand auf den Kopf. […] Ich öffne die Tür […]. […] und gehe hinaus.“

Dient das Präsens hier nur der geistigen Vergegenwärtigung eines intensiv erlebten Geschehens, gibt es ein Jetzt-Geschehen wieder, rückt es etwas Ersehntes, aber Uneingestandenes, ein Wunschgeschehen, in den Rang einer Vision – ? Wie auch immer die Antwort des Lesers aussehen mag, lässt sich auf jeden Fall festhalten, dass auch die grammatische Zeit wie die anderen erwähnten Zeitstrukturen einen direkten Einfluss auf das Verständnis und die Interpretation eines Textes haben und insofern erheblich zur Aufrechterhaltung von Spannung und Interesse des Lesers beitragen.

Helmers Bericht setzt im November ein und endet im April. Der Vater möchte vor seinem Tod noch einen Frühling erleben , was auch so geschieht. Während dieser Frühling für Helmer den Aufbruch „zu neuen Ufern“ (Dänemark) bringt, im Unterschied zu den vorangegangenen, die ihm eher eine wiederkehrende Last wa-ren – „Beim Gedanken an Lämmer […] werden mir fast die Arme schlapp“ –, endet hier das Leben des Vaters; Anfang und Ende werden jahreszeitlich verknüpft – vielleicht auch eine Spiegelung vergehenden bäuerlichen Lebens, das eng mit den Jahreszeiten verbunden war.