Jenny Erpenbeck, Aller Tage Abend: Unterschied zwischen den Versionen

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===Die Intermezzi - Leben im Konjunktiv===
===Die Intermezzi - Leben im Konjunktiv===
Die Floskel „Hätte, wäre, wenn …“ hat keinen guten Ruf und wird meist zur Ablehnung von müßigen Spekulationen verwendet, oft in entsprechend gereiztem Ton. Dieser schlechte Ruf des Konjunktivs bezieht sich insbesondere auf den Konjunktiv II, der auch Konditionalis genannt wird und stellvertretend für die irrealen Modi insgesamt steht, weshalb er manchmal auch als Irrealis bezeichnet wird. Das Irreale als solches ist mit dem Makel der fehlenden Realität versehen und damit als defizitär gebrandmarkt. Die Verwendung des Konjunktiv II zeigt an, dass ein Ereignis vom Eintritt eines anderen Ereignisses abhängt, das aber gerade nicht eingetreten ist, z. B. so: ‘Du hättest die Stelle bekommen, wenn du mehr gelächelt hättest'.
Ausgerechnet dieses problematischen Modus, nämlich des Konditionalis, bedient sich Erpenbeck in nicht unerheblichen Teilen des Romans, nämlich in den Intermezzi, die die fünf Bücher des Romans trennen. Der Begriff des Intermezzos gibt einen ersten Hinweis auf deren Inhalt und Funktion. Die wörtliche Bedeutung des Begriffs als Zwischenspiel verweist auf die Nachrangigkeit dieser Passagen im Verhältnis zu den Büchern. Dies bestätigt allein der geringe Umfang dieser Passagen. In Musik und Theater finden sich Intermezzi seit dem 16. Jahrhundert <ref>vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Intermezzo_(Oper)</ref> als heitere Zwischenspiele, lustige Pausen in Tragödien. Diese Bedeutung lässt sich auf den Roman teilweise beziehen.
Nachdem das erste Buch vom plötzlichen Tod eines Mädchens im Säuglingsalter und der Trauer ihrer jüdischen Mutter im Jahre 1902 im galizischen Brody erzählt, entwickelt das 1. Intermezzo eine alternative Handlung. „Hätte aber zum Beispiel die Mutter oder der Vater in der Nacht das Fenster aufgerissen, hätte eine Handvoll Schnee […] dem Kind unters Hemd gesteckt, dann hätte das Kind vielleicht plötzlich wieder angefangen zu atmen …“ (S. 71). Das Kleinkind überlebt und zieht 1908 mit den Eltern nach Wien, wohin sich der Vater wegen einer vermeintlichen Verbesserung seiner beruflichen Position beworben hat. Die Handlung schließt also unmittelbar an das zentrale Ereignis des ersten Buches an. Allerdings wird die alternative Handlung durchgängig im Konjunktiv II erzählt, wodurch sie unwirklich, nicht real erscheint und der Eindruck entsteht, dass das Geschehen zwar damals vielleicht möglich war, aber in der Erzählgegenwart nicht mehr möglich ist. Damit zeigt der Intermezzo-Text also eine positive Variante: der Tod hätte verhindert werden können, das Leben wäre weiter gegangen und hätte einen besseren Verlauf genommen. Hier zeigt sich die positive Seite des Konjunktivs II, der auch in Gedankenspielen, Märchen, literarischen Phantasien verwendet wird so wie im Volkslied ‘Wenn ich ein Vöglein wär …’.
Genau diese irreale Handlungsvariante, dass das Kind nicht stirbt, bildet dann im zweiten Buch die Voraussetzung des Geschehens. Die Familie lebt 1919 in Wien und leidet wegen des Krieges und der unzureichenden Bezahlung des Vaters Not. Die inzwischen 17-jährige Tochter lässt sich aus Liebeskummer von einem ebenfalls den Selbstmord suchenden jungen Mann erschießen.
Im 2. Intermezzo werden wieder im Konjunktiv II zahlreiche Bedingungen aufgezählt, die dazu hätten führen können, dass die Tochter dem lebensmüden jungen Mann nicht begegnet und deshalb in die elterliche Wohnung zurückgekehrt wäre. Als Fazit dieser Alternativen heißt es dort: „Eine ganze Welt von Gründen gab es, warum ihr Leben nun an ein Ende gekommen sein könnte, wie es gleichzeitig eine ganze Welt aus Gründen gab, warum sie jetzt noch am Leben sein könnte und sollte.“(S. 137) In derselben Nacht wird ihr bei der Eintragung in ihr Tagebuch klar, dass sie Schriftstellerin werden will. Nachdem ihr Vater fünf Wochen später gestorben ist, schreibt die Tochter auf der Basis seiner „Aufzeichnungen über Erdbeben in der Steiermark“ (S. 138) ihren ersten Artikel.
Das dritte Buch nimmt das Motiv des Schreibens wieder auf, indem die Protagonistin 1939 in Moskau ihren Lebenslauf für den Antrag auf Einbürgerung in die Sowjetunion schreibt. Kaum hat sie den Lebenslauf fertiggestellt, wird sie wie vorher ihr Mann verhaftet und in ein Arbeitslager in Sibirien gebracht, wo sie 1941 stirbt.
Das 3. und längste Intermezzo schließt unmittelbar an die Verhaftung an, indem zunächst der von Zufall und Willkür bestimmte Weg ihrer Kaderakte von einem Schreibtisch auf den nächsten dargestellt wird bis zu dem Genossen, der schließlich die Entscheidung über die Lagerhaft trifft. Diese Passage ist im Indikativ Präsens geschrieben, so dass der Leser den Eindruck hat, hier die Entscheidung miterleben zu können. Mit dem Satz „Alles hätte aber auch anders kommen können“ (S. 199) schließt sich daran wiederum im Konjunktiv II eine alternative Handlung an, bei der sie der Ver-haftung entgeht, weil sie zum fraglichen Zeitpunkt bei einer Freundin übernachtet. Es gelingt ihr als Übersetzerin für sowjetische Lyrik und mit Beiträgen für Rundfunksendungen ihr Leben zu finanzieren. Wegen einer vermeintlichen Nierenbeckenentzündung wird sie nach Ufa evakuiert, wo ihre Schwangerschaft festgestellt wird. Sie bringt den in einer Liebesnacht mit einem russischen Dichter gezeugten Sohn dort zur Welt und zieht ihn groß, ohne je wieder Kontakt mit seinem Vater aufzunehmen. Nach dem Krieg zieht sie nach Berlin, wo sie bald ihre ersten literarischen Erfolge feiert.
Ähnlich wie der Lebenslauf das dritte Buch strukturiert, wird das vierte Buch, das 1961 in Berlin spielt, von den Nachrufen auf die Protagonistin eröffnet und strukturiert. Sie ist nach einem Treppensturz kurz vor ihrem 60. Geburtstag gestorben. Aus der Sicht des Sohnes wird ihre Beerdigung geschildert, zu der auch sein ihm unbekannter Vater gekommen ist. Dieser besucht den Sohn in der Wohnung der Mutter. Im folgenden 4. und letzten Intermezzo stürzt die Mutter nicht die Treppe hinunter, sondern lebt weiter und erlebt so den Mauerfall 1989. Sie ist zu diesem Zeitpunkt bereits 87 Jahre alt und stellt selbst Erinnerungslücken bei sich fest, wenn der Sohn sie sonntags besucht. Das Intermezzo endet damit, dass der Sohn seine Mutter suchen muss und sie im Nachthemd weinend auf dem Bordstein einer Straße findet. Dieses Intermezzo weist auffallende Unterschiede gegenüber den anderen Zwischenspielen auf. Hier gibt es keine alternative Handlungsführung und keinen Konjunktiv-Gebrauch. Außerdem wird ein großer Zeitraum in extremer Raffung zusammengefasst, nämlich ihr Weiterleben ab 1961, die entscheidende Veränderung 1989 und ihre Demenz im Alter.
Die Andersartigkeit des letzten Intermezzos könnte als Hinweis auf die mit dem Alter weniger werdenden Alternativen gedeutet werden. Der Lebenslauf wird enger, eingeschränkter, es bieten sich immer weniger Optionen. Andererseits kann man gerade im Alter bei der Rückschau auf das gelebte Leben dessen Abhängigkeit von vielen Faktoren erkennen: ‘Hätte ich mich damals anders entschieden, dann wäre mein Leben in eine ganz andere Bahn gelaufen …’. Der Roman endet im fünften Buch mit dem Tod der Mutter einen Tag nach ihrem 90. Geburtstag und erzählt vor allem ihr Leben im Altersheim in Berlin und die Besuche ihres Sohnes. Dieser Alterstod ist der einzige, der nicht aufzuhalten ist, ihm folgt kein Intermezzo mehr.
Durch den Wechsel zwischen den Büchern und den Intermezzi wird das Fiktionale des Textes auf eine höhere Ebene gehoben und besonders betont. „Der Leser / die Leserin wird explizit auf die Konstruiertheit des Textes hingewiesen, und diese Verweisstruktur erzeugt gleichzeitig Distanz zum Geschriebenen sowie eine kritische Sichtweise auf das, was vermittelt wird.“<ref>Agnes C. Mueller, Die jüdische Mutter
in: Wahrheit und Täuschung. Beiträge zum Werk Jenny Erpenbecks, herausgegeben von Friedhelm Marx und Julia Schöll, Göttingen 2014, S. 165</ref> Der Wechsel von Realitätsdarstellung und alternativen Möglichkeiten verdeutlicht im Roman die Kontingenz des Geschehens: das Leben hätte auch anders verlaufen können, der tatsächliche Verlauf hat von vielen kleinen Stellschrauben, von Umständen, Bedingungen, Entscheidungen abgehangen, von denen die wenigsten in der Macht des jeweiligen Individuums liegen. „Im Durchspielen unterschiedlicher Möglichkeiten für verschiedene Figuren wird die Idee gradliniger Lebensgeschichten per se als Fiktion entlarvt.“<ref>Anke S. Biendarra, Jenny Erpenbecks Romane Heimsuchung (2008) und Aller Tage Abend (2012) als europäische Erinnerungsorte in: a.a.O., S. 141</ref> Die Ereignisse haben keine zwingende Notwendigkeit, sie können geschehen, müssen es aber nicht. Dass die in den Intermezzi erzählten irrealen Alternativen im jeweils folgenden Kapitel als Tatsachen vorausgesetzt werden, beglaubigt im Nachhinein ihre Bedeutung und lässt umgekehrt das als real geschilderte Geschehen als eine bloße Möglichkeit erscheinen. Die Grenzen zwischen Realem und Irrealem werden fließend und das Leben erscheint in seinem Verlauf als offen, nicht planbar, schon gar nicht vorherbestimmt. So lässt sich der Roman verstehen als „Versuch, einen literarischen Einspruch gegen die Unerbittlichkeit des grausamen Todes vorzubringen, ihm, dem Tod, damit das letzte Wort zu nehmen, indem er zumindest fiktiv wieder aufgehoben wird.“<ref>Iris Hermann, Heimsuchung in Jenny Erpenbecks Roman Aller Tage Abend in: a.a.O., S. 149</ref> Diese These wird auch dadurch gestützt, dass sich im Roman Überlegungen darüber finden, wie das Schreiben dem Tod Widerstand entgegensetzt und damit seinen Schrecken verringert. Besonders deutlich wird dies im dritten Buch, in dem die Protagonistin in Moskau ihren Lebenslauf schreibt. Dort heißt es: „[…] vielleicht gelingt es ihr, sich mit dem Schreiben eine Rettung zu schreiben, […] sich durchs Schreiben ins Leben zurückzuschreiben.“ (S. 141 f.) Gisbertz bezieht sich bei der Analyse der Erzählstruktur des Romans auf Freuds Begriff des „Zauderrhythmus“, mit dem der Wechsel zwischen dem Vorwärtsstreben und dem Wiederholungsprinzip des Lebens gemeint ist und der auf „die Verarbeitung eines traumatischen Erlebnisses“ hinweist. „Dieses Zaudern wird […] offenbar thematisch als Wechsel zwischen Sterben und Wiederbelebung und stilistisch als eine Bewegung zwischen Indikativ und Konjunktiv sichtbar, wobei auch der Erzählaufbau diesem Rhythmus grob als Wechsel zwischen den Büchern und den Intermezzi folgt.“<ref>  Anna-Katharina Gisbertz, Zum Identitätszerfall nach 1989 in Jenny Erpenbecks „Aller Tage Abend“ in: Monika Wolting (Hg.), Identitätskonstruktionen in der deutschen Gegenwartsliteratur, Göttingen 2014, S. 123</ref>
 
===Bedrohung, Angst und Schweigen als bestimmende Erfahrungen===
===Bedrohung, Angst und Schweigen als bestimmende Erfahrungen===
===Die Spur der Dinge am Beispiel der Goethe-Gesamtausgabe===
===Die Spur der Dinge am Beispiel der Goethe-Gesamtausgabe===

Version vom 10. März 2020, 14:46 Uhr

Das Verhältnis von Historizität und Kontingenz in Jenny Erpenbecks Roman “Aller Tage Abend”

Die Rolle autonomer Entscheidungsmöglichkeiten im Lebenskontext

Jenny Erpenbeck entfaltet am Schicksal einer jüdischen Familie ein Panorama des 20. Jahrhunderts und vor allem seiner totalitären Systeme, die im Holocaust und stalinistischen Gulag ihren Gipfel erreichen.

Die zentrale Figur wird 1902 in Galizien (Ukraine) geboren und stirbt 1992 in Ostberlin, ihre Eltern und Großeltern gehören natürlich mit in den Familienkontext, so dass auch die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts mit in die Handlung einbezogen wird. Zu dem Ursprungsschauplatz Ukraine kommen die Stationen Wien, Moskau, Ural und Ostberlin.

Alle Figuren außer dem letztgeborenen Sohn scheinen sehr bestimmt durch die Herkunft und den Familienkontext; sie werden, außer in dem letzten Buch, statt mit Namen nur mit den Generationszuordnungen wie Großmutter, Mutter und ältere oder jüngere Tochter benannt.

Ihr Schicksal erwächst aus Zeit und Ort der Geburt, aus der Religion und dem Milieu, in die sie hineingeboren sind, und aus den historischen Umständen. Immer wieder bricht das Schicksal über sie herein und droht sie zu vernichten oder vernichtet auch einzelne Familienmitglieder. Der Kampf ums nackte Überleben ist mehrfach das zentrale Thema.

Es stellt sich die Frage, ob es bei so viel Determination überhaupt die Möglichkeit gibt, das Leben durch eigene Handlungen zu modifizieren, d.h. ob es eine autonome Entscheidungsmöglichkeit der Figuren gibt.

Im ersten Buch erscheint die Großmutter im Rückblick als eine Handelnde, die mehrfach Entscheidungen getroffen hat. Nachdem sie und ihr Baby das Pogrom knapp überlebt haben, bei dem ihr Ehemann, ein Kaufmann, auf schrecklichste Weise von Polen umgebracht wurde, sorgt sie tatkräftig für das Weiterleben: sie verkauft das Haus im Ghetto, zieht in die Innenstadt und führt das Geschäft ihres Mannes weiter, denn „ Am Ende eines Tages, an dem gestorben wurde, ist längst noch nicht aller Tage Abend.“ (S. 23)[1], d. h. auch nach den furchtbarsten Ereignissen geht das Leben weiter. Um ihre Tochter aus dem Teufelskreis des Antisemitismus herauszuholen, verheiratet sie sie mit einem katholischen Beamten und entfremdet sie damit dem Judentum und ihrer Herkunft. Die Ermordung des Vaters verschweigt sie der Tochter, um sie zu schützen, und sagt nur ausweichend, er sei weggegangen.

Das sind durchaus autonome rationale Entscheidungen, für die sie den Bruch mit ihren eigenen Eltern hinnimmt - ihr Vater erklärt sogar die Enkelin für tot - und ihrer Tochter die Wurzeln kappt. Aber ihre Entscheidung, die Schlimmes verhüten und der Tochter ein besseres Leben ermöglichen soll, bewirkt nicht das Gewünschte: In der Erzählgegenwart in Buch I – es ist das Jahr 1902 - trauert die Mutter um ihr totes Baby. Ihr nichtjüdischer Ehemann, ein kleiner Beamter, verlässt sie nach dem Tod des gemeinsamen Kindes und bricht mit der Mitgift nach Amerika auf. Sein Aufbruch scheint eine Flucht zu sein, weil er wegen seiner jüdischen Ehefrau nicht befördert wird und weil er den Tod seines Kindes nicht verkraftet, ausgeschlossen von den jüdischen Trau-erritualen, die seiner Frau einen gewissen Halt geben. Er flieht regelrecht aus einem Leben, dem er sich nicht zugehörig fühlt (vgl. S.34) und fragt sich: „Zeugt es von Feigheit, wenn man sein eigenes Leben verlässt, oder von Charakter, wenn man die Kraft hat, neu zu beginnen?“ (S.34) Aber auch sein Versuch eines Neubeginns in Amerika ist nicht von Erfolg gekrönt.

Im zweiten Buch folgt die im Intermezzo vorbereitete Alternative: Der Säugling aus dem ersten Buch ist nicht gestorben, sondern hat weitergelebt, die junge Familie – inzwischen gibt es noch eine zweite Tochter – ist nach Wien gereist, ein Geschenk der Großmutter zum siebten Hochzeitstag, und ergreift die Chance der Umsiedlung, als dem Mann dort eine Stelle angeboten wird. Aber auch dieser Neubeginn endet im Desaster. Der Vater wird wegen seiner jüdischen Frau nicht befördert, er kann die Familie kaum ernähren und nach dem Ersten Weltkrieg wird die Versorgungslage immer katastrophaler.

Bezüglich der Ausweglosigkeit von Situationen fühlt man sich an die griechische Tragödie erinnert: der tragische Held versucht dem Dilemma zu entkommen, muss aber am Ende scheitern. Ödipus z.B. will der Prophezeiung, dass er seinen Vater töten und seine Mutter heiraten wird, entgehen, erfüllt aber gerade durch seine Vermeidungsversuche das Orakel, mit Blindheit geschlagen. Die Götter wollen sein Verderben. Aber versuchen muss es der antike Held, seinen Determinanten (Schicksal, Götter) zu entkommen, weil er sich als Handelnder versteht und Autonomie anstrebt. Diese menschliche Grunddisposition findet sich auch bei den Figuren Erpenbecks, nur geht es hier nicht mehr um Schuld, Strafe, Vorherbestimmung oder Neid der Götter, sondern um Zufälle oder historische Umstände, die die Figuren scheitern lassen.

Die Aufbrüche und Neuanfänge der Figuren haben teilweise Fluchtcharakter. Der nicht-jüdische Ehemann im ersten Buch, Vater des toten Säuglings, hofft auf ein neues Leben in Amerika; seine verlassene Frau, die wieder wie vor der Ehe im Laden ihrer Mutter arbeitet, verlässt, weil sie von einem vermeintlichen Liebhaber zur Prostitution erpresst wird, die Stadt und ihr altes Leben bei der Mutter. Beide fliehen aus einer als unerträglich erlebten Situation.

Autonomer ist später die Entscheidung der Hauptfigur, Schriftstellerin zu werden und alle Hoffnungen auf den Kommunismus zu setzen und nach Moskau zu gehen. Zwar wird sie Schriftstellerin, aber sie gerät zur Zeit der Schauprozesse in die Mühlen der stalinistischen Schreckensherrschaft. Ihr Ehemann wird denunziert und kommt im Lager um, sie selbst auch, nachdem sie bei Eiseskälte Gräber auf Vorrat, also auch ihr eigenes, graben musste. (vgl. S. 192f.)

Das dritte Intermezzo entfaltet die Möglichkeit des Überlebens. Fast parodistisch wird die willkürliche Bearbeitung von Anträgen dargestellt, darunter auch der der Hauptfigur. Die Akten werden nach persönlichen Motiven oder einfach nach dem Zufallsprinzip auf einen der beiden Stapel gelegt, die für Leben oder Tod stehen, und dann weitergereicht. (vgl. S. 197ff.) Obwohl „aussortiert“, entgeht die ältere Tochter der Verhaftung, weil sie zufällig in dieser Nacht bei einer Freundin übernachtet und so nicht zu Hause angetroffen wird.

Mit der Struktur des Romans, Wechsel von Handlung und der Entfaltung einer möglichen Alternative in den Intermezzi, verweist Erpenbeck immer wieder auf die wichtige Rolle des Zufalls: Winzige Abweichungen im Ablauf des Geschehens führen dazu, dass das Leben eine andere Wendung nimmt. Viermal stirbt die Protagonistin und viermal lässt Erpenbeck sie weiterleben, indem sie nur eine Kleinigkeit im Ablauf verändert.

Zufälle führen am Ende des zweiten Buchs zum Tod der Zentralfigur: Krank vor Liebeskummer will sie ihre Großmutter besuchen, die zufällig nicht zu Hause ist. Zufällig trifft sie einen jungen Mann, der zufällig an eine Pistole gekommen ist. Beide beschließen den gemeinsamen Suizid. (vgl. S. 110-127) Aber auch dieser Tod wird im folgenden Intermezzo zurückgenommen. „ Wäre die Großmutter aber nur eine halbe Stunde später von zu Hause fortgegangen … oder wäre die des Lebens müde junge Frau … nicht nach rechts in den Opernring eingebogen, auf dem sie ihrem Tod in Gestalt eines schäbigen jungen Mannes zufällig begegnete ...“ (S. 135) usw. usw.

Historie und banale Zufälle bestimmen das Leben, nicht reflektierte, autonome Entscheidungen. Die klassische Subjektvorstellung wird in diesem Roman infrage gestellt. Das autonom gedachte Ich wird vielen verschiedenen Einflüssen ausgesetzt, auf die es reagieren muss. Es erscheint eher als fließend anstatt als fest. Es wird durch die historischen Umstände in Situationen hineingeworfen und von Zufällen bestimmt.

Die Intermezzi - Leben im Konjunktiv

Die Floskel „Hätte, wäre, wenn …“ hat keinen guten Ruf und wird meist zur Ablehnung von müßigen Spekulationen verwendet, oft in entsprechend gereiztem Ton. Dieser schlechte Ruf des Konjunktivs bezieht sich insbesondere auf den Konjunktiv II, der auch Konditionalis genannt wird und stellvertretend für die irrealen Modi insgesamt steht, weshalb er manchmal auch als Irrealis bezeichnet wird. Das Irreale als solches ist mit dem Makel der fehlenden Realität versehen und damit als defizitär gebrandmarkt. Die Verwendung des Konjunktiv II zeigt an, dass ein Ereignis vom Eintritt eines anderen Ereignisses abhängt, das aber gerade nicht eingetreten ist, z. B. so: ‘Du hättest die Stelle bekommen, wenn du mehr gelächelt hättest'.

Ausgerechnet dieses problematischen Modus, nämlich des Konditionalis, bedient sich Erpenbeck in nicht unerheblichen Teilen des Romans, nämlich in den Intermezzi, die die fünf Bücher des Romans trennen. Der Begriff des Intermezzos gibt einen ersten Hinweis auf deren Inhalt und Funktion. Die wörtliche Bedeutung des Begriffs als Zwischenspiel verweist auf die Nachrangigkeit dieser Passagen im Verhältnis zu den Büchern. Dies bestätigt allein der geringe Umfang dieser Passagen. In Musik und Theater finden sich Intermezzi seit dem 16. Jahrhundert [2] als heitere Zwischenspiele, lustige Pausen in Tragödien. Diese Bedeutung lässt sich auf den Roman teilweise beziehen.

Nachdem das erste Buch vom plötzlichen Tod eines Mädchens im Säuglingsalter und der Trauer ihrer jüdischen Mutter im Jahre 1902 im galizischen Brody erzählt, entwickelt das 1. Intermezzo eine alternative Handlung. „Hätte aber zum Beispiel die Mutter oder der Vater in der Nacht das Fenster aufgerissen, hätte eine Handvoll Schnee […] dem Kind unters Hemd gesteckt, dann hätte das Kind vielleicht plötzlich wieder angefangen zu atmen …“ (S. 71). Das Kleinkind überlebt und zieht 1908 mit den Eltern nach Wien, wohin sich der Vater wegen einer vermeintlichen Verbesserung seiner beruflichen Position beworben hat. Die Handlung schließt also unmittelbar an das zentrale Ereignis des ersten Buches an. Allerdings wird die alternative Handlung durchgängig im Konjunktiv II erzählt, wodurch sie unwirklich, nicht real erscheint und der Eindruck entsteht, dass das Geschehen zwar damals vielleicht möglich war, aber in der Erzählgegenwart nicht mehr möglich ist. Damit zeigt der Intermezzo-Text also eine positive Variante: der Tod hätte verhindert werden können, das Leben wäre weiter gegangen und hätte einen besseren Verlauf genommen. Hier zeigt sich die positive Seite des Konjunktivs II, der auch in Gedankenspielen, Märchen, literarischen Phantasien verwendet wird so wie im Volkslied ‘Wenn ich ein Vöglein wär …’.

Genau diese irreale Handlungsvariante, dass das Kind nicht stirbt, bildet dann im zweiten Buch die Voraussetzung des Geschehens. Die Familie lebt 1919 in Wien und leidet wegen des Krieges und der unzureichenden Bezahlung des Vaters Not. Die inzwischen 17-jährige Tochter lässt sich aus Liebeskummer von einem ebenfalls den Selbstmord suchenden jungen Mann erschießen.

Im 2. Intermezzo werden wieder im Konjunktiv II zahlreiche Bedingungen aufgezählt, die dazu hätten führen können, dass die Tochter dem lebensmüden jungen Mann nicht begegnet und deshalb in die elterliche Wohnung zurückgekehrt wäre. Als Fazit dieser Alternativen heißt es dort: „Eine ganze Welt von Gründen gab es, warum ihr Leben nun an ein Ende gekommen sein könnte, wie es gleichzeitig eine ganze Welt aus Gründen gab, warum sie jetzt noch am Leben sein könnte und sollte.“(S. 137) In derselben Nacht wird ihr bei der Eintragung in ihr Tagebuch klar, dass sie Schriftstellerin werden will. Nachdem ihr Vater fünf Wochen später gestorben ist, schreibt die Tochter auf der Basis seiner „Aufzeichnungen über Erdbeben in der Steiermark“ (S. 138) ihren ersten Artikel.

Das dritte Buch nimmt das Motiv des Schreibens wieder auf, indem die Protagonistin 1939 in Moskau ihren Lebenslauf für den Antrag auf Einbürgerung in die Sowjetunion schreibt. Kaum hat sie den Lebenslauf fertiggestellt, wird sie wie vorher ihr Mann verhaftet und in ein Arbeitslager in Sibirien gebracht, wo sie 1941 stirbt.

Das 3. und längste Intermezzo schließt unmittelbar an die Verhaftung an, indem zunächst der von Zufall und Willkür bestimmte Weg ihrer Kaderakte von einem Schreibtisch auf den nächsten dargestellt wird bis zu dem Genossen, der schließlich die Entscheidung über die Lagerhaft trifft. Diese Passage ist im Indikativ Präsens geschrieben, so dass der Leser den Eindruck hat, hier die Entscheidung miterleben zu können. Mit dem Satz „Alles hätte aber auch anders kommen können“ (S. 199) schließt sich daran wiederum im Konjunktiv II eine alternative Handlung an, bei der sie der Ver-haftung entgeht, weil sie zum fraglichen Zeitpunkt bei einer Freundin übernachtet. Es gelingt ihr als Übersetzerin für sowjetische Lyrik und mit Beiträgen für Rundfunksendungen ihr Leben zu finanzieren. Wegen einer vermeintlichen Nierenbeckenentzündung wird sie nach Ufa evakuiert, wo ihre Schwangerschaft festgestellt wird. Sie bringt den in einer Liebesnacht mit einem russischen Dichter gezeugten Sohn dort zur Welt und zieht ihn groß, ohne je wieder Kontakt mit seinem Vater aufzunehmen. Nach dem Krieg zieht sie nach Berlin, wo sie bald ihre ersten literarischen Erfolge feiert.

Ähnlich wie der Lebenslauf das dritte Buch strukturiert, wird das vierte Buch, das 1961 in Berlin spielt, von den Nachrufen auf die Protagonistin eröffnet und strukturiert. Sie ist nach einem Treppensturz kurz vor ihrem 60. Geburtstag gestorben. Aus der Sicht des Sohnes wird ihre Beerdigung geschildert, zu der auch sein ihm unbekannter Vater gekommen ist. Dieser besucht den Sohn in der Wohnung der Mutter. Im folgenden 4. und letzten Intermezzo stürzt die Mutter nicht die Treppe hinunter, sondern lebt weiter und erlebt so den Mauerfall 1989. Sie ist zu diesem Zeitpunkt bereits 87 Jahre alt und stellt selbst Erinnerungslücken bei sich fest, wenn der Sohn sie sonntags besucht. Das Intermezzo endet damit, dass der Sohn seine Mutter suchen muss und sie im Nachthemd weinend auf dem Bordstein einer Straße findet. Dieses Intermezzo weist auffallende Unterschiede gegenüber den anderen Zwischenspielen auf. Hier gibt es keine alternative Handlungsführung und keinen Konjunktiv-Gebrauch. Außerdem wird ein großer Zeitraum in extremer Raffung zusammengefasst, nämlich ihr Weiterleben ab 1961, die entscheidende Veränderung 1989 und ihre Demenz im Alter.

Die Andersartigkeit des letzten Intermezzos könnte als Hinweis auf die mit dem Alter weniger werdenden Alternativen gedeutet werden. Der Lebenslauf wird enger, eingeschränkter, es bieten sich immer weniger Optionen. Andererseits kann man gerade im Alter bei der Rückschau auf das gelebte Leben dessen Abhängigkeit von vielen Faktoren erkennen: ‘Hätte ich mich damals anders entschieden, dann wäre mein Leben in eine ganz andere Bahn gelaufen …’. Der Roman endet im fünften Buch mit dem Tod der Mutter einen Tag nach ihrem 90. Geburtstag und erzählt vor allem ihr Leben im Altersheim in Berlin und die Besuche ihres Sohnes. Dieser Alterstod ist der einzige, der nicht aufzuhalten ist, ihm folgt kein Intermezzo mehr.

Durch den Wechsel zwischen den Büchern und den Intermezzi wird das Fiktionale des Textes auf eine höhere Ebene gehoben und besonders betont. „Der Leser / die Leserin wird explizit auf die Konstruiertheit des Textes hingewiesen, und diese Verweisstruktur erzeugt gleichzeitig Distanz zum Geschriebenen sowie eine kritische Sichtweise auf das, was vermittelt wird.“[3] Der Wechsel von Realitätsdarstellung und alternativen Möglichkeiten verdeutlicht im Roman die Kontingenz des Geschehens: das Leben hätte auch anders verlaufen können, der tatsächliche Verlauf hat von vielen kleinen Stellschrauben, von Umständen, Bedingungen, Entscheidungen abgehangen, von denen die wenigsten in der Macht des jeweiligen Individuums liegen. „Im Durchspielen unterschiedlicher Möglichkeiten für verschiedene Figuren wird die Idee gradliniger Lebensgeschichten per se als Fiktion entlarvt.“[4] Die Ereignisse haben keine zwingende Notwendigkeit, sie können geschehen, müssen es aber nicht. Dass die in den Intermezzi erzählten irrealen Alternativen im jeweils folgenden Kapitel als Tatsachen vorausgesetzt werden, beglaubigt im Nachhinein ihre Bedeutung und lässt umgekehrt das als real geschilderte Geschehen als eine bloße Möglichkeit erscheinen. Die Grenzen zwischen Realem und Irrealem werden fließend und das Leben erscheint in seinem Verlauf als offen, nicht planbar, schon gar nicht vorherbestimmt. So lässt sich der Roman verstehen als „Versuch, einen literarischen Einspruch gegen die Unerbittlichkeit des grausamen Todes vorzubringen, ihm, dem Tod, damit das letzte Wort zu nehmen, indem er zumindest fiktiv wieder aufgehoben wird.“[5] Diese These wird auch dadurch gestützt, dass sich im Roman Überlegungen darüber finden, wie das Schreiben dem Tod Widerstand entgegensetzt und damit seinen Schrecken verringert. Besonders deutlich wird dies im dritten Buch, in dem die Protagonistin in Moskau ihren Lebenslauf schreibt. Dort heißt es: „[…] vielleicht gelingt es ihr, sich mit dem Schreiben eine Rettung zu schreiben, […] sich durchs Schreiben ins Leben zurückzuschreiben.“ (S. 141 f.) Gisbertz bezieht sich bei der Analyse der Erzählstruktur des Romans auf Freuds Begriff des „Zauderrhythmus“, mit dem der Wechsel zwischen dem Vorwärtsstreben und dem Wiederholungsprinzip des Lebens gemeint ist und der auf „die Verarbeitung eines traumatischen Erlebnisses“ hinweist. „Dieses Zaudern wird […] offenbar thematisch als Wechsel zwischen Sterben und Wiederbelebung und stilistisch als eine Bewegung zwischen Indikativ und Konjunktiv sichtbar, wobei auch der Erzählaufbau diesem Rhythmus grob als Wechsel zwischen den Büchern und den Intermezzi folgt.“[6]


Bedrohung, Angst und Schweigen als bestimmende Erfahrungen

Die Spur der Dinge am Beispiel der Goethe-Gesamtausgabe

  1. Alle Seitenangaben beziehen sich auf die 1. Auflage von Jenny Erpenbeck, Aller Tage Abend, München 2012
  2. vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Intermezzo_(Oper)
  3. Agnes C. Mueller, Die jüdische Mutter in: Wahrheit und Täuschung. Beiträge zum Werk Jenny Erpenbecks, herausgegeben von Friedhelm Marx und Julia Schöll, Göttingen 2014, S. 165
  4. Anke S. Biendarra, Jenny Erpenbecks Romane Heimsuchung (2008) und Aller Tage Abend (2012) als europäische Erinnerungsorte in: a.a.O., S. 141
  5. Iris Hermann, Heimsuchung in Jenny Erpenbecks Roman Aller Tage Abend in: a.a.O., S. 149
  6. Anna-Katharina Gisbertz, Zum Identitätszerfall nach 1989 in Jenny Erpenbecks „Aller Tage Abend“ in: Monika Wolting (Hg.), Identitätskonstruktionen in der deutschen Gegenwartsliteratur, Göttingen 2014, S. 123