Jenny Erpenbeck, Aller Tage Abend

Aus Literarische Altersbilder


Das Verhältnis von Historizität und Kontingenz in Jenny Erpenbecks Roman “Aller Tage Abend”


Die Rolle autonomer Entscheidungsmöglichkeiten im Lebenskontext

Jenny Erpenbeck entfaltet am Schicksal einer jüdischen Familie ein Panorama des 20. Jahrhunderts und vor allem seiner totalitären Systeme, die im Holocaust und stalinistischen Gulag ihren Gipfel erreichen.

Die zentrale Figur wird 1902 in Galizien (Ukraine) geboren und stirbt 1992 in Ostberlin, ihre Eltern und Großeltern gehören natürlich mit in den Familienkontext, so dass auch die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts mit in die Handlung einbezogen wird. Zu dem Ursprungsschauplatz Ukraine kommen die Stationen Wien, Moskau, Ural und Ostberlin.

Alle Figuren außer dem letztgeborenen Sohn scheinen sehr bestimmt durch die Herkunft und den Familienkontext; sie werden, außer in dem letzten Buch, statt mit Namen nur mit den Generationszuordnungen wie Großmutter, Mutter und ältere oder jüngere Tochter benannt.

Ihr Schicksal erwächst aus Zeit und Ort der Geburt, aus der Religion und dem Milieu, in die sie hineingeboren sind, und aus den historischen Umständen. Immer wieder bricht das Schicksal über sie herein und droht sie zu vernichten oder vernichtet auch einzelne Familienmitglieder. Der Kampf ums nackte Überleben ist mehrfach das zentrale Thema.

Es stellt sich die Frage, ob es bei so viel Determination überhaupt die Möglichkeit gibt, das Leben durch eigene Handlungen zu modifizieren, d.h. ob es eine autonome Entscheidungsmöglichkeit der Figuren gibt.

Im ersten Buch erscheint die Großmutter im Rückblick als eine Handelnde, die mehrfach Entscheidungen getroffen hat. Nachdem sie und ihr Baby das Pogrom knapp überlebt haben, bei dem ihr Ehemann, ein Kaufmann, auf schrecklichste Weise von Polen umgebracht wurde, sorgt sie tatkräftig für das Weiterleben: sie verkauft das Haus im Ghetto, zieht in die Innenstadt und führt das Geschäft ihres Mannes weiter, denn „ Am Ende eines Tages, an dem gestorben wurde, ist längst noch nicht aller Tage Abend.“ (S. 23)[1], d. h. auch nach den furchtbarsten Ereignissen geht das Leben weiter. Um ihre Tochter aus dem Teufelskreis des Antisemitismus herauszuholen, verheiratet sie sie mit einem katholischen Beamten und entfremdet sie damit dem Judentum und ihrer Herkunft. Die Ermordung des Vaters verschweigt sie der Tochter, um sie zu schützen, und sagt nur ausweichend, er sei weggegangen.

Das sind durchaus autonome rationale Entscheidungen, für die sie den Bruch mit ihren eigenen Eltern hinnimmt - ihr Vater erklärt sogar die Enkelin für tot - und ihrer Tochter die Wurzeln kappt. Aber ihre Entscheidung, die Schlimmes verhüten und der Tochter ein besseres Leben ermöglichen soll, bewirkt nicht das Gewünschte: In der Erzählgegenwart in Buch I – es ist das Jahr 1902 - trauert die Tochter, jetzt selber Mutter, um ihr totes Baby. Ihr nichtjüdischer Ehemann, ein kleiner Beamter, verlässt sie nach dem Tod des gemeinsamen Kindes und bricht mit der Mitgift nach Amerika auf. Sein Aufbruch scheint eine Flucht zu sein, weil er wegen seiner jüdischen Ehefrau nicht befördert wird und weil er den Tod seines Kindes nicht verkraftet, ausgeschlossen von den jüdischen Trauerritualen, die seiner Frau einen gewissen Halt geben. Er flieht regelrecht aus einem Leben, dem er sich nicht zugehörig fühlt (vgl. S.34) und fragt sich: „Zeugt es von Feigheit, wenn man sein eigenes Leben verlässt, oder von Charakter, wenn man die Kraft hat, neu zu beginnen?“ (S.34) Aber auch sein Versuch eines Neubeginns in Amerika ist nicht von Erfolg gekrönt.

Im zweiten Buch folgt die im Intermezzo vorbereitete Alternative: Der Säugling aus dem ersten Buch ist nicht gestorben, sondern hat weitergelebt, die junge Familie – inzwischen gibt es noch eine zweite Tochter – ist nach Wien gereist, ein Geschenk der Großmutter zum siebten Hochzeitstag, und ergreift die Chance der Umsiedlung, als dem Mann dort eine Stelle angeboten wird. Aber auch dieser Neubeginn endet im Desaster. Der Vater wird wegen seiner jüdischen Frau nicht befördert, er kann die Familie kaum ernähren und nach dem Ersten Weltkrieg wird die Versorgungslage immer katastrophaler.

Bezüglich der Ausweglosigkeit von Situationen fühlt man sich an die griechische Tragödie erinnert: der tragische Held versucht dem Dilemma zu entkommen, muss aber am Ende scheitern. Ödipus z.B. will der Prophezeiung, dass er seinen Vater töten und seine Mutter heiraten wird, entgehen, erfüllt aber gerade durch seine Vermeidungsversuche das Orakel, mit Blindheit geschlagen. Die Götter wollen sein Verderben. Aber versuchen muss es der antike Held, seinen Determinanten (Schicksal, Götter) zu entkommen, weil er sich als Handelnder versteht und Autonomie anstrebt. Diese menschliche Grunddisposition findet sich auch bei den Figuren Erpenbecks, nur geht es hier nicht mehr um Schuld, Strafe, Vorherbestimmung oder Neid der Götter, sondern um Zufälle oder historische Umstände, die die Figuren scheitern lassen.

Die Aufbrüche und Neuanfänge der Figuren haben teilweise Fluchtcharakter. Der nicht-jüdische Ehemann im ersten Buch, Vater des toten Säuglings, hofft auf ein neues Leben in Amerika; seine verlassene Frau, die wieder wie vor der Ehe im Laden ihrer Mutter arbeitet, verlässt, weil sie von einem vermeintlichen Liebhaber zur Prostitution erpresst wird, die Stadt und ihr altes Leben bei der Mutter. Beide fliehen aus einer als unerträglich erlebten Situation.

Autonomer ist später die Entscheidung der Hauptfigur, Schriftstellerin zu werden und alle Hoffnungen auf den Kommunismus zu setzen und nach Moskau zu gehen. Zwar wird sie Schriftstellerin, aber sie gerät zur Zeit der Schauprozesse in die Mühlen der stalinistischen Schreckensherrschaft. Ihr Ehemann wird denunziert und kommt im Lager um, sie selbst auch, nachdem sie bei Eiseskälte Gräber auf Vorrat, also auch ihr eigenes, graben musste. (vgl. S. 192f.)

Das dritte Intermezzo entfaltet die Möglichkeit des Überlebens. Fast parodistisch wird die willkürliche Bearbeitung von Anträgen dargestellt, darunter auch der der Hauptfigur. Die Akten werden nach persönlichen Motiven oder einfach nach dem Zufallsprinzip auf einen der beiden Stapel gelegt, die für Leben oder Tod stehen, und dann weitergereicht. (vgl. S. 197ff.) Obwohl „aussortiert“, entgeht die ältere Tochter der Verhaftung, weil sie zufällig in dieser Nacht bei einer Freundin übernachtet und so nicht zu Hause angetroffen wird.

Mit der Struktur des Romans, Wechsel von Handlung und der Entfaltung einer möglichen Alternative in den Intermezzi, verweist Erpenbeck immer wieder auf die wichtige Rolle des Zufalls: Winzige Abweichungen im Ablauf des Geschehens führen dazu, dass das Leben eine andere Wendung nimmt. Viermal stirbt die Protagonistin und viermal lässt Erpenbeck sie weiterleben, indem sie nur eine Kleinigkeit im Ablauf verändert.

Zufälle führen am Ende des zweiten Buchs zum Tod der Zentralfigur: Krank vor Liebeskummer will sie ihre Großmutter besuchen, die zufällig nicht zu Hause ist. Zufällig trifft sie einen jungen Mann, der zufällig an eine Pistole gekommen ist. Beide beschließen den gemeinsamen Suizid. (vgl. S. 110-127) Aber auch dieser Tod wird im folgenden Intermezzo zurückgenommen. „ Wäre die Großmutter aber nur eine halbe Stunde später von zu Hause fortgegangen … oder wäre die des Lebens müde junge Frau … nicht nach rechts in den Opernring eingebogen, auf dem sie ihrem Tod in Gestalt eines schäbigen jungen Mannes zufällig begegnete ...“ (S. 135) usw. usw.

Historie und banale Zufälle bestimmen das Leben, nicht reflektierte, autonome Entscheidungen. Die klassische Subjektvorstellung wird in diesem Roman infrage gestellt. Das autonom gedachte Ich wird vielen verschiedenen Einflüssen ausgesetzt, auf die es reagieren muss. Es erscheint als situativ schwankend, nicht als fest. Es wird durch die historischen Umstände in Situationen hineingeworfen und von Zufällen bestimmt.

Die Intermezzi - Leben im Konjunktiv

Die Floskel „Hätte, wäre, wenn …“ hat keinen guten Ruf und wird meist zur Ablehnung von müßigen Spekulationen verwendet, oft in entsprechend gereiztem Ton. Dieser schlechte Ruf des Konjunktivs bezieht sich insbesondere auf den Konjunktiv II, der auch Konditionalis genannt wird und stellvertretend für die irrealen Modi insgesamt steht, weshalb er manchmal auch als Irrealis bezeichnet wird. Das Irreale als solches ist mit dem Makel der fehlenden Realität versehen und damit als defizitär gebrandmarkt. Die Verwendung des Konjunktiv II zeigt an, dass ein Ereignis vom Eintritt eines anderen Ereignisses abhängt, das aber gerade nicht eingetreten ist, z. B. so: ‘Du hättest die Stelle bekommen, wenn du mehr gelächelt hättest'.

Ausgerechnet dieses problematischen Modus, nämlich des Konditionalis, bedient sich Erpenbeck in nicht unerheblichen Teilen des Romans, nämlich in den Intermezzi, die die fünf Bücher des Romans trennen. Der Begriff des Intermezzos gibt einen ersten Hinweis auf deren Inhalt und Funktion. Die wörtliche Bedeutung des Begriffs als Zwischenspiel verweist auf die Nachrangigkeit dieser Passagen im Verhältnis zu den Büchern. Dies bestätigt allein der geringe Umfang dieser Passagen. In Musik und Theater finden sich Intermezzi seit dem 16. Jahrhundert [2] als heitere Zwischenspiele, lustige Pausen in Tragödien. Diese Bedeutung lässt sich auf den Roman teilweise beziehen.

Nachdem das erste Buch vom plötzlichen Tod eines Mädchens im Säuglingsalter und der Trauer ihrer jüdischen Mutter im Jahre 1902 im galizischen Brody erzählt, entwickelt das 1. Intermezzo eine alternative Handlung. „Hätte aber zum Beispiel die Mutter oder der Vater in der Nacht das Fenster aufgerissen, hätte eine Handvoll Schnee […] dem Kind unters Hemd gesteckt, dann hätte das Kind vielleicht plötzlich wieder angefangen zu atmen …“ (S. 71). Das Kleinkind überlebt und zieht 1908 mit den Eltern nach Wien, wohin sich der Vater wegen einer vermeintlichen Verbesserung seiner beruflichen Position beworben hat. Die Handlung schließt also unmittelbar an das zentrale Ereignis des ersten Buches an. Allerdings wird die alternative Handlung durchgängig im Konjunktiv II erzählt, wodurch sie unwirklich, nicht real erscheint und der Eindruck entsteht, dass das Geschehen zwar damals vielleicht möglich war, aber in der Erzählgegenwart nicht mehr möglich ist. Damit zeigt der Intermezzo-Text also eine positive Variante: der Tod hätte verhindert werden können, das Leben wäre weiter gegangen und hätte einen besseren Verlauf genommen. Hier zeigt sich die positive Seite des Konjunktivs II, der auch in Gedankenspielen, Märchen, literarischen Phantasien verwendet wird so wie im Volkslied ‘Wenn ich ein Vöglein wär …’.

Genau diese irreale Handlungsvariante, dass das Kind nicht stirbt, bildet dann im zweiten Buch die Voraussetzung des Geschehens. Die Familie lebt 1919 in Wien und leidet wegen des Krieges und der unzureichenden Bezahlung des Vaters Not. Die inzwischen 17-jährige Tochter lässt sich aus Liebeskummer von einem ebenfalls den Selbstmord suchenden jungen Mann erschießen.

Im 2. Intermezzo werden wieder im Konjunktiv II zahlreiche Bedingungen aufgezählt, die dazu hätten führen können, dass die Tochter dem lebensmüden jungen Mann nicht begegnet und deshalb in die elterliche Wohnung zurückgekehrt wäre. Als Fazit dieser Alternativen heißt es dort: „Eine ganze Welt von Gründen gab es, warum ihr Leben nun an ein Ende gekommen sein könnte, wie es gleichzeitig eine ganze Welt aus Gründen gab, warum sie jetzt noch am Leben sein könnte und sollte.“(S. 137) In derselben Nacht wird ihr bei der Eintragung in ihr Tagebuch klar, dass sie Schriftstellerin werden will. Nachdem ihr Vater fünf Wochen später gestorben ist, schreibt die Tochter auf der Basis seiner „Aufzeichnungen über Erdbeben in der Steiermark“ (S. 138) ihren ersten Artikel.

Das dritte Buch nimmt das Motiv des Schreibens wieder auf, indem die Protagonistin 1939 in Moskau ihren Lebenslauf für den Antrag auf Einbürgerung in die Sowjetunion schreibt. Kaum hat sie den Lebenslauf fertiggestellt, wird sie wie vorher ihr Mann verhaftet und in ein Arbeitslager in Sibirien gebracht, wo sie 1941 stirbt.

Das 3. und längste Intermezzo schließt unmittelbar an die Verhaftung an, indem zunächst der von Zufall und Willkür bestimmte Weg ihrer Kaderakte von einem Schreibtisch auf den nächsten dargestellt wird bis zu dem Genossen, der schließlich die Entscheidung über die Lagerhaft trifft. Diese Passage ist im Indikativ Präsens geschrieben, so dass der Leser den Eindruck hat, hier die Entscheidung miterleben zu können. Mit dem Satz „Alles hätte aber auch anders kommen können“ (S. 199) schließt sich daran wiederum im Konjunktiv II eine alternative Handlung an, bei der sie der Ver-haftung entgeht, weil sie zum fraglichen Zeitpunkt bei einer Freundin übernachtet. Es gelingt ihr als Übersetzerin für sowjetische Lyrik und mit Beiträgen für Rundfunksendungen ihr Leben zu finanzieren. Wegen einer vermeintlichen Nierenbeckenentzündung wird sie nach Ufa evakuiert, wo ihre Schwangerschaft festgestellt wird. Sie bringt den in einer Liebesnacht mit einem russischen Dichter gezeugten Sohn dort zur Welt und zieht ihn groß, ohne je wieder Kontakt mit seinem Vater aufzunehmen. Nach dem Krieg zieht sie nach Berlin, wo sie bald ihre ersten literarischen Erfolge feiert.

Ähnlich wie der Lebenslauf das dritte Buch strukturiert, wird das vierte Buch, das 1961 in Berlin spielt, von den Nachrufen auf die Protagonistin eröffnet und strukturiert. Sie ist nach einem Treppensturz kurz vor ihrem 60. Geburtstag gestorben. Aus der Sicht des Sohnes wird ihre Beerdigung geschildert, zu der auch sein ihm unbekannter Vater gekommen ist. Dieser besucht den Sohn in der Wohnung der Mutter. Im folgenden 4. und letzten Intermezzo stürzt die Mutter nicht die Treppe hinunter, sondern lebt weiter und erlebt so den Mauerfall 1989. Sie ist zu diesem Zeitpunkt bereits 87 Jahre alt und stellt selbst Erinnerungslücken bei sich fest, wenn der Sohn sie sonntags besucht. Das Intermezzo endet damit, dass der Sohn seine Mutter suchen muss und sie im Nachthemd weinend auf dem Bordstein einer Straße findet. Dieses Intermezzo weist auffallende Unterschiede gegenüber den anderen Zwischenspielen auf. Hier gibt es keine alternative Handlungsführung und keinen Konjunktiv-Gebrauch. Außerdem wird ein großer Zeitraum in extremer Raffung zusammengefasst, nämlich ihr Weiterleben ab 1961, die entscheidende Veränderung 1989 und ihre Demenz im Alter.

Die Andersartigkeit des letzten Intermezzos könnte als Hinweis auf die mit dem Alter weniger werdenden Alternativen gedeutet werden. Der Lebenslauf wird enger, eingeschränkter, es bieten sich immer weniger Optionen. Andererseits kann man gerade im Alter bei der Rückschau auf das gelebte Leben dessen Abhängigkeit von vielen Faktoren erkennen: ‘Hätte ich mich damals anders entschieden, dann wäre mein Leben in eine ganz andere Bahn gelaufen …’. Der Roman endet im fünften Buch mit dem Tod der Mutter einen Tag nach ihrem 90. Geburtstag und erzählt vor allem ihr Leben im Altersheim in Berlin und die Besuche ihres Sohnes. Dieser Alterstod ist der einzige, der nicht aufzuhalten ist, ihm folgt kein Intermezzo mehr.

Durch den Wechsel zwischen den Büchern und den Intermezzi wird das Fiktionale des Textes auf eine höhere Ebene gehoben und besonders betont. „Der Leser / die Leserin wird explizit auf die Konstruiertheit des Textes hingewiesen, und diese Verweisstruktur erzeugt gleichzeitig Distanz zum Geschriebenen sowie eine kritische Sichtweise auf das, was vermittelt wird.“[3] Der Wechsel von Realitätsdarstellung und alternativen Möglichkeiten verdeutlicht im Roman die Kontingenz des Geschehens: das Leben hätte auch anders verlaufen können, der tatsächliche Verlauf hat von vielen kleinen Stellschrauben, von Umständen, Bedingungen, Entscheidungen abgehangen, von denen die wenigsten in der Macht des jeweiligen Individuums liegen. „Im Durchspielen unterschiedlicher Möglichkeiten für verschiedene Figuren wird die Idee gradliniger Lebensgeschichten per se als Fiktion entlarvt.“[4] Die Ereignisse haben keine zwingende Notwendigkeit, sie können geschehen, müssen es aber nicht. Dass die in den Intermezzi erzählten irrealen Alternativen im jeweils folgenden Kapitel als Tatsachen vorausgesetzt werden, beglaubigt im Nachhinein ihre Bedeutung und lässt umgekehrt das als real geschilderte Geschehen als eine bloße Möglichkeit erscheinen. Die Grenzen zwischen Realem und Irrealem werden fließend und das Leben erscheint in seinem Verlauf als offen, nicht planbar, schon gar nicht vorherbestimmt. So lässt sich der Roman verstehen als „Versuch, einen literarischen Einspruch gegen die Unerbittlichkeit des grausamen Todes vorzubringen, ihm, dem Tod, damit das letzte Wort zu nehmen, indem er zumindest fiktiv wieder aufgehoben wird.“[5] Diese These wird auch dadurch gestützt, dass sich im Roman Überlegungen darüber finden, wie das Schreiben dem Tod Widerstand entgegensetzt und damit seinen Schrecken verringert. Besonders deutlich wird dies im dritten Buch, in dem die Protagonistin in Moskau ihren Lebenslauf schreibt. Dort heißt es: „[…] vielleicht gelingt es ihr, sich mit dem Schreiben eine Rettung zu schreiben, […] sich durchs Schreiben ins Leben zurückzuschreiben.“ (S. 141 f.) Gisbertz bezieht sich bei der Analyse der Erzählstruktur des Romans auf Freuds Begriff des „Zauderrhythmus“, mit dem der Wechsel zwischen dem Vorwärtsstreben und dem Wiederholungsprinzip des Lebens gemeint ist und der auf „die Verarbeitung eines traumatischen Erlebnisses“ hinweist. „Dieses Zaudern wird […] offenbar thematisch als Wechsel zwischen Sterben und Wiederbelebung und stilistisch als eine Bewegung zwischen Indikativ und Konjunktiv sichtbar, wobei auch der Erzählaufbau diesem Rhythmus grob als Wechsel zwischen den Büchern und den Intermezzi folgt.“[6]

Bedrohung, Angst und Schweigen als bestimmende Erfahrungen

Das Phänomen der Bedrohung und der Angst durchzieht Jenny Erpenbecks Familiengeschichte von Anbeginn der Erzählung und verbindet sich mit der Erfahrung des Verschweigens, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. In dieser Untersuchung soll aufgezeigt werden, wo und wie Bedrohung und Angst im Ablauf der Geschichte von Bedeutung werden und das Handeln und Denken der Figuren bestimmen, auch wenn Angst erst gegen Ende des Romans als Gefühl direkt benannt wird. Das Phänomen soll an drei inhaltlichen Komplexen aufgezeigt und an bestimmten Figuren und ihrem Handeln überprüft werden:

  • Am Judentum der Familie und dem Umgang einzelner Figuren damit
  • Am Aufenthalt der älteren Tochter der Familie in Moskau und ihren Erfahrungen mit dem Stalin–Regime
  • An Alter und Sterben der Protagonistin

Der Roman beginnt mit der Erzählung vom Tod eines Säuglings. Nachdem die Mutter des Kindes sieben Tage um das Baby getrauert hat, trennt sich die Großmutter von der Wiege und Wäsche des toten Kindes und erinnert sich dabei: „Begonnen hatte das Unglück vor vielen Jahren, da war ihre Tochter selbst noch ein Säugling gewesen“ (S. 18) offenbar mit einem schrecklichen Pogrom. Nur die Figur des Mörders trägt einen individuellen Namen, alle anderen Figuren tragen die Bezeichnung ihrer Stellung in der Familie als Großmutter, Tochter oder Baby. Die Frau überlebt und zieht ihre Tochter auf.

Diese Urerfahrung von Ermordung und Verlust ihres Mannes im antisemitischen Umfeld bestimmt das Leben der Frau. Sie tut alles, um sich von dieser Gefährdung, Jüdin zu sein, zu entfernen und die Tochter zu schützen. Deshalb sucht sie gezielt einen ‘Goj’[7] als Mann für sie - ein Skandal in ihrer Familie, der dazu führt, dass der Großvater seine Enkelin für tot erklärt.

Nie erzählt sie der Tochter vom Mord an ihrem Vater, nie von der Bedrohung durch das Pogrom. Sie lässt eher im Vagen, ob er weggegangen oder tot ist. Die Angst gebiert hier ein bedrückendes Schweigen, das sich durch alle folgenden Generationen zieht und zu einer großen Belastung wird. „Aber hätte sie der Tochter das etwa sagen sollen, hätte sie ihr sagen sollen, dass auch sie, die Mutter, damals beinahe nur ein Stück Fleisch gewesen wäre, und die Tochter selbst auch […]?“ (S.120 f.)

Das Ergebnis ist die Erfahrung der Töchter und Söhne, dass über ihre Väter geschwiegen wird. Sie sind nicht eingebunden in die Generationenfolge der Familie. Die Kinder wissen nicht von ihren Vätern, über deren Herkunft und die Geschichte der Familie. Daher entsteht keine Nähe und herzliche Beziehung zwischen Müttern und Töchtern, es ist die Großmutter, die dem kleinen Mädchen das Laufen beibringt. „Erst nach dem Begräbnis erzählt ihr die Mutter, dass sie, die Tochter, die ersten Schritte an der Hand der Großmutter gegangen sei…. Ich habe den Umzug organisiert und den Laden trotzdem offengehalten.“ (S. 61) Statt dessen gibt es Misstrauen und Schuldzuweisungen, die Mutter beschimpft die Tochter als Hure.

Aus Angst lässt die Tochter ihre Kinder taufen und entfremdet sie der jüdischen Tradition. Sie hält sich von der eigenen Mutter fern, die als alte Frau aus Angst vor der Judenverfolgung ihre Heimat verlässt: „In Lemberg haben erst kürzlich die Polen […] das jüdische Viertel in Brand gesteckt. […] Jüdische Kinder, die weglaufen wollten, wurden von den Legionären in die brennenden Häuser hineingeworfen […] “ (S.121) Sie zieht auch nach Wien, um in der Nähe der Familie zu sein, aber ihre Tochter sorgt dafür, dass die Enkeltöchter die in Armut und Einsamkeit lebende Großmutter nicht besuchen.

Der gesellschaftliche Antisemitismus Österreichs vor und nach dem Ersten Weltkrieg wird nicht benannt, durchdringt aber das gesamte Leben der Familie. Da hilft auch der Übertritt zum Katholizismus nicht. Der katholische Ehemann wird, nur weil er mit einer Jüdin verheiratet ist, nie befördert, die Familie bleibt bettelarm und lebt von den Zuwendungen der jüdischen Großmutter, die noch mit Nahrungsmitteln handelt, bevor sie Lemberg verlässt. Der Krieg führt in der gesamten Bevölkerung zu bitterer Not. Es wird nie ausdrücklich von Angst gesprochen, aber dieser Überlebenskampf um die Existenzgrundlagen ist ohne Angst nicht denkbar.

Auf diesem Hintergrund tut sich die ältere Tochter mit widerständigen politischen Gruppen zusammen und entwickelt ein kritisch revolutionäres Bewusstsein; sie wird Mitglied der Kommunistischen Partei. Gleichzeitig hat sie begonnen, einen Roman mit dem Titel ‘Sisyphos’ zu schreiben und bindet sich an einen Mann, der im Text nur H. genannt wird und Theaterstücke schreibt. „Mit ihrem Eintritt in die Kommunistische Partei hatte sie sich mitten in dieses Leben katapultiert, auch sie gehörte nun zu denen, in deren Leib und Seele die Gegenwart nach Jahrhunderten der Reglosigkeit endlich bei sich selbst angekommen war und vorwärts zu jagen begann“ (S.159).

Die Angst der Protagonistin manifestiert sich in der das dritte Buch strukturierenden Arbeit an ihrem Lebenslauf, als sie in Moskau um das Leben ihres Mannes und um ihr eigenes bangen muss. Es ist der Lebenslauf, den sie zur Aufnahme in die KP schreibt und später, jedes Wort bedenkend, damit nichts Falsches gesagt wird, zum Erhalt ihrer Aufenthaltsverlängerung in Moskau braucht. Er wird zum qualvoll ständig sich ändernden Dokument, von dessen Akzeptanz ihr Leben abhängt. Bürgen müssen benannt werden, damit die ‘richtigen‘ Kontakte nachgewiesen werden, deren Benennung auf der Stelle eine Gefahr ist, wenn diese inzwischen den stalinistischen Säuberungen zum Opfer gefallen sind.

Der gesamte Aufenthalt in Moskau ist von Bedrohung begleitet. Die Genossen ringsum verschwinden im Gefängnis oder in der Verbannung nach Sibirien, im Gulag. Ihr eigenes Leben ist durchzogen von ständiger ängstlicher Selbstkritik. „War es besser, einen Fehler, den man eingesehen hatte, beim Namen zu nennen und ihm so die Kraft [...] zu nehmen? [...] schuf man sich selbst also das, was einen zu Fall brachte, ohne jedoch zu wissen, wann und wodurch?“ (S.171)

Nach der Verhaftung ihres Mannes 1938 fühlt sie sich als Fremde, wo sie sich nach der Ankunft mit ihrem Mann 1935 als „heimgekehrt in die Zukunft (sahen), die ihnen gehören sollte“. (S.172) Sie irrt von einer Behörde zur nächsten, um herauszufinden, wo man ihren Mann hingebracht hat. Sie stößt auf Schweigen, wird von allen Gefängnissen abgewiesen, hat keine Ahnung, ob er noch lebt, umgebracht oder in den Gulag verbannt wurde. Erst allmählich erkennt sie, dass sie in einem System lebt, das menschenverachtend alle verfolgt und ausrottet, die es vermeintlich bedrohen. Sie weiß um die stalinistischen Verbrechen und muss dennoch aus Überlebensangst um Aufnahme in diesem Land bitten.

Dabei war die Urangst, die sie seit der Kindheit begleitet hat, der Grund, sich den Kommunisten zuzuwenden. „Immer waren es Abhängigkeiten gewesen, immer war es die Angst, zu viel zu wünschen oder nicht zu genügen, die zur Lüge geführt hatte, [...] waren es die Stufen zwischen den Menschen, die Minderwertigkeiten, immer stieß einer einen anderen die Stufen hinab, einer fiel, stieß den nächsten.“(S.177) Dagegen gab es die Vision von einer kommunistisch geprägten Welt, in der das oben und unten nicht mehr existieren würde. „Waren gerade sie, die Kommunisten, nicht angetreten, das Gefälle einzuebnen, damit jeder frei stehen könne, ohne zu fallen, ohne zu schieben, stoßen, geschoben, gestoßen zu werden, frei – ohne Angst?“ (S.177)

In der positiven Version ihrer Lebensgeschichte entkommt die Protagonistin den Verbrechen der stalinistischen Ära und übersiedelt mit ihrem Sohn in die DDR, die sie als wichtiger Kader mit aufbaut. Das Schweigen zu ihrer Familiengeschichte, zu ihrem verschwundenen Mann H., zum Vater des Kindes, einem russischen Schriftsteller, der in Kasachstan lebt und von seinem Sohn nichts weiß, trägt sie in der Familientradition weiter und verschweigt ihrem Sohn seine Herkunft und seine ‘Väter’. Sie unterliegt dem selben Irrtum wie ihre Mutter und ihre Großmutter, dass man “Dem Kind all das ersparen“ (S.207) könne.

Für Sascha, den Sohn, ist mit dem Tod der Mutter „auch ihr Blick auf ihn gestorben und alles, was jenseits seiner eigenen Erinnerung liegt“ (S.223), er wird nie mehr erfahren, was sie ihm bisher nicht gesagt hat. Seine Fragen nach dem Vater wurden mit Lügen beantwortet: „Der ist bei Charkow gefallen.“ (S.220) Ihr Tod verriegelt den Zugang zu Türen, die nun endgültig verschlossen sind, und er wird sich durch Wien bewegen, an den Orten seiner Familiengeschichte vorbei, ohne zu ahnen und zuordnen zu können, was diese Geschichte für seine Mutter bedeutet hat und woher er kommt. Der Versuch, den Sohn zu schützen, führt dazu, dass es ihm nicht möglich ist, sein Leben an die Familiengeschichte anzuknüpfen. Dabei ist dieser Verlust der Familiengeschichte und der Zugehörigkiet zu einer Tradition und Gruppe das, vor dem Frau H. die größte Angst hat. In einem Gespräch mit ihrem Sohn wird deutlich, dass sie sich im Grunde ohne diese Einbindung verloren fühlt. „Weißt Du, sagt sie, ich habe Angst, dass alles verloren geht – dass die Spur verloren geht. [...] Ich weiß nicht mehr, woher und wohin.“ (S. 278) Dabei hat sie alles dazu getan, diese Verbindung selbst abzuschneiden, sich selbst und ihren Sohn in das fatale Familienschweigen einzubinden, mit dem sie selber von Kind an aufgewachsen ist. Diese Ambivalenz, die Angst vor der Auseinandersetzung mit dem Leid der Familie und des jüdischen Volkes einerseits und andererseits die Angst vor dem Verlust dieser Zugehörigkeit, belastet sie kurz vor ihrem Tod. Hinzu kommt ihre ganz persönliche Erfahrung von Angst als existentiellem Grundgefühl, „Der eiserne Vorrat, die Angst. Angst, ich mache wieder etwas falsch“ (S. 261), das sie ihr Leben lang bei allen Erfahrungen begleitet hat.

Und dennoch ist sie trotz aller Angst immer wieder aktiv geworden und hat die DDR kulturell mit aufgebaut. Sie hat für ihr Lebenswerk den „Nationalpreis Erster Klasse bekommen“ (S. 278) und lässt ihren Sohn wissen: „Es ist mein gutes, gutes schönes Lebewohl. [...] Ich habe [...] meine Angst vor dem Werdenden nicht gescheitert.“ (S.279) Dieser Satz scheint ein sprachliches Zeichen von Demenz, er eröffnet hier aber eine neue Dimension, die auf eine mögliche Überwindung ihrer Angst hinweist. Sie ist vor der Zukunft nicht gescheitert, sondern auf sie zugegangen und hat sie trotz der Angst mitgestaltet.

Bei aller Ambivalenz zwischen dem Totschweigen der grauenvollen Erfahrungen und dem damit verbundenen Verlust der „Spur“ eröffnet sie ihrem Sohn damit vielleicht die Befreiung zu einem angstfreien Leben. Es ist nicht eingebunden in die jüdische Tradition der Familie, die eben auch als ambivalent erfahren wird. Der Roman lässt dieses Verständnis als einen möglichen Blick auf Bedrohung und Angst offen.

Die Spur der Dinge am Beispiel der Goethe-Gesamtausgabe

Leitmotivisch tauchen im gesamten Roman immer wieder einzelne Gegenstände, z. B. die kleine Fußbank oder die Standuhr, Redeweisen wie etwa die Mahnung, nicht die Treppe herunterzufallen, oder Verhaltensweisen auf, die wie eine Spur wirken, die aus der Vergangenheit der Familie bis in die Gegenwart führt. Durch sie werden die aufeinander folgenden Generationen miteinander in Bezug gesetzt. Goethes Gesamtausgabe und in ihr besonders der 9. Band, der die „Iphigenie“ enthält, ist ein solches Leitmotiv, das exemplarisch im Folgenden genauer untersucht wird.

Die Gesamtausgabe letzter Hand (vgl. S. 268) von Goethe, 20 Bände, Ledereinband, ist dem jüdischen Kaufmann von seinen Eltern zum Schulabschluss geschenkt worden. Sie steht hinter Glas im Bücherschrank, als beim Pogrom Andrejs Stein durch das Glas hindurch den Ledereinband des 9. Bandes, der die „Iphigenie“ enthält, trifft und beschädigt. (S. 19) Es werden neue Scheiben in den Bücherschrank eingesetzt, die junge Frau führt das Geschäft weiter (vgl. S. 23). Sie verkuppelt ihre Tochter mit einem KUK-Beamten, einem Goj, als Mitgift verweist sie u. a. auf die Goethe-Gesamtausgabe (S. 52). Die Tochter und ihr Mann sind auf Betreiben der Mutter nach Wien gezogen, den Bücherschrank mit der Goethe-Ausgabe behält die Mutter aber (als Verweis auf gute und böse Zeiten) auch dann, als sie den Großteil des jetzt leerstehenden Hauses untervermietet. (vgl. S. 64/65)

Als die Mutter nach dem Tod ihrer Mutter im I. Weltkrieg nach Wien flüchtet, hat sie als Gepäck u. a. den schweren Koffer mit der Goethe-Gesamtausgabe. Die Tochter entdeckt sie auf dem Bücherregal, als sie nach dem Tod der Mutter zum ersten Mal deren Wohnung sieht. Sie begreift, dass die Mutter die Bücher nur für sie mitgebracht hat. (vgl. S. 131/142)

In einer anderen Version wird die Großmutter von den Nazis dazu gezwungen, sechs Mal in Wien umzuziehen, bevor sie deportiert wird. Zu ihren letzten Habseligkeiten gehört die Goethe-Ausgabe. Ein Vetter, der die letzte Unterkunft der Mutter ausräumt, kann sie der jüngeren Tochter, die in einer Sammelunterkunft für Juden wohnt, übergeben, bevor diese, nach weiteren zwei Umzügen, bei denen sie die Goethe-Ausgabe mitnimmt, nach Auschwitz deportiert wird. (vgl. S. 267 / S. 271).) Beim Ausräumen der jüdischen Sammelwohnung landet der Koffer mit der Goethe-Ausgabe in einer Gestapo-Verwertungsstelle.

An dieser Stelle wird der Koffer (mit seinem Inhalt) in einer Personifikation regelrecht lebendig: „Das Wochenende verbringen der Koffer und die Uhr zwischen all den anderen Dingen im Lager.“ (S. 272) Danach kommt die Abwertung: Er wird von offizieller Seite als wertlos eingestuft und ungeöffnet mit Inhalt für 2 RM gekauft. Die Käuferin, eine junge arische Frau, bzw. deren Mutter, stellt den Koffer mit dem für unnütz erachteten Inhalt in den Keller. Dort wird er nach dem Tod der Mutter von ihrer Tochter gefunden. Während sie den Koffer noch zum Aufbewahren von Stoffflicken nutzen kann, verkauft sie die für sie wertlose Goethe-Ausgabe („des Klumpert“) an einen Antiquitätenhändler, der ihr unerwartet viel Geld dafür zahlt (vgl. S. 273 f.). Nach ihrem Tod wirft ihre Tochter auch den alten Koffer auf den Müll. (vgl. S. 275)

Sascha entdeckt bei seinem Besuch in Wien in dem Antiquariat die vollständige Goethe-Ausgabe mit dem „abgeschabten“ 9. Band, die er sehr gerne hätte, in der er in der „Iphigenie“ blättert. Er entscheidet sich aus praktischen Gründen (Transportschwierigkeiten, mangelnde Zeit zum Lesen) dagegen (vgl. S. 268 f.), denkt aber kurz noch einmal daran, da im Zug ja doch Platz gewesen wäre zum Transport der Bücher. (vgl. S. 276)

Bedeutung der Goethe-Gesamtausgabe

Zunächst einmal besitzt die Ausgabe einen materiellen Wert, ist ein kostbares Geschenk der Eltern des jungen Kaufmanns zu seinem Schulabschluss (vgl. S. 19), wird dementsprechend im Bücherschrank ausgestellt und kann auf eine großzügige Mitgift verweisen (vgl. S. 52).

Darüber hinaus aber ist das Werk von Goethe ein Hinweis auf klassische Bildung (Schulabschluss) des Kaufmannssohns und der Tochter, die Goethes Texte z. T. in der Schule auswendig gelernt hat. (vgl. S. 40), verbunden mit der Hoffnung auf sozialen Aufstieg und ein bürgerliches Leben. Im antisemitischen Umfeld gelingt jedoch dieser Aufstieg nicht. Während des Pogroms trifft Andrejs Stein den 9. Band der Goethe-Ausgabe, die „Iphigenie“ mit ihrer Botschaft vom Sieg von Tugend und Menschlichkeit.

In der ideologisierten Welt der Nazis gilt Goethes Vorstellung von Humanität nichts, in der Sowjetunion wird klassische Bildung als belastender Hinweis auf einen bürgerlichen Familienhintergrund verstanden (vgl. S.142). Andererseits wird die DDR-Schriftstellerin mit dem Goethe-Preis ausgezeichnet (vgl. S. 217/S. 228). Goethe ist Bestandteil des Schulkanons: so schreibt Sascha in der einen Version des Romans, während seine Mutter stirbt, einen Schulaufsatz über Goethes Gedicht „Willkommen und Abschied“ (S. 215).


Bedeutung von Goethes Werk im Leben der Figuren

Die Tochter hat nie gesehen, dass die Mutter in der Goethe-Gesamtausgabe gelesen hätte (vgl. S. 131). Allerdings erscheint, als der Stein von Andrej beim Pogrom den Bücherschrank trifft, „Keine Luft von keiner Seite! / Todesstille fürchterlich! / In der ungeheuern Weite / Reget keine Welle sich!“ als Zitat aus „Meeresstille“ (S. 19) eingefügt, um die Todesangst der Mutter auszudrücken. Das Gedicht „Meeresstille“ bildet jedoch in Goethes Werk ein Paar mit „Glückliche Fahrt“, und so ist indirekt im Zitat auch der Hinweis enthalten, dass, so ausweglos und fürchterlich die gegenwärtige Situation auch sein mag, in Goethes Verständnis noch Hoffnung besteht, noch nicht „Aller Tage Abend“ ist. Im Kampf um das Überleben im Wien des Ersten Weltkriegs fällt der Tochter trotzig eine Zeile aus Goethes „Prometheus“ ein: „Übe, dem Knaben gleich, der Disteln köpft, an Eichen dich und Bergeshöh’n“ (S. 81). Gleichzeitig könnte hier auch ein Verweis auf die Kindheit der jungen Frau sein, als sie, ausgelassen und übermütig Disteln köpfend, über die galizischen Felder gelaufen ist.

Als die alte Mutter in ein Vernichtungslager der Nazis deportiert wird, tauchen, als sie ihre Wohnung verlässt und die Reise in den Tod antritt, unvermittelt zwei Verse aus Goethes „Auf dem See“ auf: „Morgenwind umflügelt / die beschattete Bucht“ (S. 269). Das wirkt im Kontrast zwischen der realen Situation, in der sie sich befindet, und der im Gedicht dargestellten Bootsfahrt wie eine Beschwörung, dass die Reise doch glücklich verlaufen könnte oder dass zumindest die Unmenschlichkeit nicht das letzte Wort haben dürfte.

Die Tochter selber kennt seit ihrer Schulzeit einige Werke Goethes auswendig, sie begleiten sie durch ihr Leben. Mit ihrem Mann hat sie in der ersten glücklichen Ehezeit in verteilten Rollen den „Faust“ gelesen (vgl. S. 94). Als sie zur Prostitution gezwungen wird, fällt ihr Goethes Gedicht „Der Gott und die Bajadere“ ein, das sie auswendig kann (vgl. S. 63). In der Handlung des Gedichts sieht sie ihre eigene Lebenssituation gespiegelt, indem das Gedicht von der zunächst käuflichen, dann aber wahren, echten Liebe der Tänzerin zum Gott, der sie besucht, handelt. Mit seinen Schlussversen, die ebenfalls als Zitat auftauchen, spendet das Gedicht der jungen Frau Trost und Selbstbestätigung „Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder; / Unsterbliche heben verlorene Kinder / Mit feurigen Armen zum Himmel empor.“ (S. 56).

Das Zitat aus „Meeresstille“ wiederholt sich, als die Tochter in der Wohnung der toten Mutter Abschied von ihr nimmt: "Keine Luft von keiner Seite! / Todesstille fürchterlich! / In der ungeheuern Weite / Reget keine Welle sich! (S. 131). Die Goethe-Ausgabe ist das Erbe der Mutter, das diese ihr auf der Flucht mitgebracht hat.

Der am Einband durch Andrejs Stein beschädigte 9. Band der Goethe-Ausgabe enthält die „Iphigenie“, die für die junge Frau eine besondere Bedeutung hat. Schon als junges Mädchen hat sie die „Iphigenie“ gelesen (vgl. S. 131) und vom ersten Gehalt ihres Mannes in Wien haben beide zusammen im Theater die Aufführung der „Iphigenie“ gesehen. Die Abschiedsworte von Thoas, als er Iphigenie abreisen lässt, „Lebt wohl“, erschüttern sie zutiefst. „Damals hatte sie geglaubt, dass sie besser als jeder andre im Saal in diesem letzten Moment, bevor der Vorhang sich schloss, verstand, was es hieß zu entsagen.“ (S. 130) Ihr eigenes Entsagen besteht im Verlust ihrer jüdischen Herkunft, von der sie sich auf das Drängen der Mutter hin hat loslösen müssen (vgl. S. 94, S. 98 f.). Als sie im Zimmer der toten Mutter sitzt und zur Bewältigung ihrer Trauer die „Iphigenie“ liest, taucht wieder dieses „Lebt wohl“ auf, mit Thoas‘ Worten nimmt die Tochter Abschied von der Mutter und versöhnt sich mit ihr.

Ein weiteres und letztes Mal erscheint als Zitat „Lebt wohl“, als Sascha im Antiquitätenladen in Wien die Goethe-Ausgabe entdeckt und den beschädigten 9. Band mit der „Iphigenie“ durchblättert (vgl. S. 268). Ihn überkommt jedoch allenfalls eine unbestimmte Sehnsucht nach dem Text, die sich gegen seine pragmatischen Gründe des schwierigen Transports, der dann gar nicht so schwierig gewesen wäre, weil im Zug noch Platz ist, oder der mangelnden Zeit zum Lesen nicht durchsetzen kann (S. 276). Ironisch verweist diese Szene auf die vielen bisherigen Transporte genau dieser Bücher im Lauf der Familiengeschichte, die unter allerschwierigsten Bedingungen fraglos durchgeführt wurden, solange in ihnen ein Wert erkannt wurde, wenn auch schließlich möglicherweise bloß noch im Sinne einer Beschwörung: „Vielleicht hat es mit diesen Hinterlassenschaften ja eine geheime Bewandtnis, so wie im Märchen, wo in größter Not aus einem Kamm, den man hinter sich wirft, ein Wald wächst.“ (S. 217) Goethes Werke mit ihrem Versprechen der Humanität versagen aber, die Hoffnung der jüngeren Tochter, vor der endgültigen Deportation bewahrt zu werden, erfüllen sich nicht. Die ehemals wichtigen Dinge, die die Spur in die Vergangenheit weisen und Identität stiften könnten, sind als Spur für Sascha nicht mehr erkennbar. Am Ledereinband des 9. Bandes der Goethe-Ausgabe kann er nur feststellen, dass er „leicht abgeschabt“ (S. 268) ist, den wirklichen, auch seine eigene Identität betreffenden Grund der Beschädigung kennt er nicht. Sascha kann Goethes Botschaft gelingender Humanität, die sich in Thoas‘ Abschiedsworten, dem „Lebt wohl“ an Iphigenie ausdrückt, nicht mehr auf sich und sein Leben beziehen. Wie seine Großmutter nach dem Tod ihrer Mutter wird auch er nach dem Tod seiner Mutter in der Küche sitzen, während jedoch sie Trost im Lesen der „Iphigenie“ finden konnte, „…wird er so weinen, wie er noch niemals geweint hat, und dennoch wird er sich, während ihm der Rotz aus der Nase läuft, und er seine eigenen Tränen verschluckt, fragen, ob diese merkwürdigen Laute und Krämpfe wirklich alles sind, was dem Menschen gegeben ist, um zu trauern.“ (S. 283) Mit dieser Frage hat er das Schlusswort des Romans.

Anmerkungen

  1. Alle Seitenangaben beziehen sich auf die 1. Auflage von Jenny Erpenbeck, Aller Tage Abend, München 2012
  2. vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Intermezzo_(Oper)
  3. Agnes C. Mueller, Die jüdische Mutter in: Wahrheit und Täuschung. Beiträge zum Werk Jenny Erpenbecks, herausgegeben von Friedhelm Marx und Julia Schöll, Göttingen 2014, S. 165
  4. Anke S. Biendarra, Jenny Erpenbecks Romane Heimsuchung (2008) und Aller Tage Abend (2012) als europäische Erinnerungsorte in: a.a.O., S. 141
  5. Iris Hermann, Heimsuchung in Jenny Erpenbecks Roman Aller Tage Abend in: a.a.O., S. 149
  6. Anna-Katharina Gisbertz, Zum Identitätszerfall nach 1989 in Jenny Erpenbecks „Aller Tage Abend“ in: Monika Wolting (Hg.), Identitätskonstruktionen in der deutschen Gegenwartsliteratur, Göttingen 2014, S. 123
  7. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Goi