Robert Menasse, Die Hauptstadt

Aus Literarische Altersbilder

Achtung: Diese Seite befindet sich im Aufbau.


Analyse des Romans „Die Hauptstadt“ von Robert Menasse

Robert Menasse zeichnet in seinem Roman „Die Hauptstadt“ ein Vexierbild, das changiert zwischen dem drohenden Scheitern der EU und der EU als anzustrebendes humanes Ideal. Die Motive und Antriebskräfte der Gründungsgeneration kommen in der Gegenwart kaum noch an. Der Roman zeigt das Ideal bzw. die Utopie des geeinten Europa einerseits als Dystopie, da die Egoismen der beteiligten Nationen und das Karrieredenken der Bürokraten die EU massiv bedrohen. Andererseits werden auch Hoffnungen auf ein friedlich vereintes Europa und den Zusammenhang der Nationen und Generationen vermittelt.

Zu diesem Ergebnis, das im Folgenden dargestellt und begründet werden soll, hat die Analyse des Textes in der Projektgruppe geführt. Dabei bildet die Untersuchung der Protagonisten hinsichtlich ihrer Aktionen und den zugrundeliegenden Überzeugungen und Wertvorstellungen im Hinblick auf Europa das Zentrum. Die Zusammenhänge zwischen den Überzeugungen und der Generationenzugehörigkeit und Biographie der Protagonisten gilt es nachzuweisen. Als Voraussetzung für das Verständnis der Hauptfiguren soll zunächst ein Überblick über Aufbau und Handlung des Romans gegeben werden.


Titel und Struktur

Die Struktur des Romans ist komplex und vielschichtig. Im Prolog werden die Protagonisten bereits eingeführt und Handlungsstränge angedeutet, die erst allmählich verbunden werden.

Die Handlung beginnt in Brüssel, das den zentralen Schauplatz des Romans bildet, so dass der Leser den Titel sofort auf Brüssel als vermeintliche Hauptstadt der EU bezieht. Erst später erweist sich diese Vermutung als zu kurz gedacht, der Autor lässt eine tiefere Dimension des Titels erkennen, der damit die Leseerwartungen täuscht. Bestätigt wird dagegen die Erwartung, dass es um die EU geht, denn viele der zahlreichen Figuren des Romans arbeiten für die EU und stehen in Kontakt miteinander.

In 11 Kapiteln werden die Ereignisse, die sich über einen Zeitraum weniger Monate abspielen, in mehreren, teilweise miteinander verflochtenen Handlungssträngen erzählt. Der zentrale Handlungsstrang ergibt sich aus der Planung zur Feier des 50. Geburtstages der EU-Kommission im Januar 2008, woraus sich schließen lässt, dass es sich bei der erzählten Zeit um die Wintermonate des Jahres 2006 handeln müsste.

An der Planung sind zahlreiche Figuren des Romans beteiligt, allen voran Fenia Xenopolou (genannt Xeno), ihre Mitarbeiter Martin Susman, Bohumil und Kassandra, die in der Hierarchie über ihr stehende Mrs. Atkinson, Romulo Strozzi, Attila Hidegkuti und Lars Eklöf sowie Xenos Geliebter und Förderer Kai-Uwe Frigge (genannt Fridsch).

Im Zentrum des zweiten Handlungsstrangs steht Prof. Alois Erhart, der Mitglied der Reflection Group „New pact for Europe“ ist und zu den Sitzungen jeweils in Brüssel anreist, aber zu keiner der Figuren des 1. Stranges Kontakt hat, sondern sich nur an denselben Orten aufhält, mindestens einmal auch zur selben Zeit.

Der dritte Erzählstrang betrifft die Aufklärung eines im 1. Kap. geschehenden Mordes im Hotel Atlas in Brüssel durch Kommissar Emile Brunfaut.

Der vierte Handlungsstrang hat den geringsten Umfang. Hier geht es um einen polnischen Killer namens Richard oder Mateusz Oswiecki (genannt Matek), den der Leser unweigerlich mit dem o.g. Mord in Verbindung bringt, obwohl dies an keiner Stelle explizit gesagt wird, wie auch das Opfer ungenannt und der Fall ungelöst bleiben.

Besondere Bedeutung hat der 5. Handlungsstrang, dessen Protagonist David de Vriend ein Überlebender des KZ Auschwitz ist, als erster und letzter im Roman auftritt, zu den übrigen Erzählsträngen seinerseits keinerlei Beziehung außer der räumlichen Nähe hat, für das geplante Projekt aber eine wesentliche Rolle spielt.

Gerahmt wird das erzählte Geschehen von Prolog und Epilog, in denen es um ein in Brüssel zu Beginn der Handlung frei umher laufendes Schwein geht, das später auch in der Binnenhandlung mehrfach erwähnt wird und einen Medienrummel entfacht, der im Epilog sein Ende findet. Die im Roman erzählten Ereignisse eines relativ eng begrenzten Zeitraums beziehen durch die Figuren auf vielfältige Weise die Vergangenheit mit ein. Die Lebens- und Familiengeschichten der Protagonisten reichen zurück bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Auch die Handlungsschauplätze erstrecken sich sowohl durch erzählte Aktivitäten der Figuren als auch durch ihre Erinnerungen über Brüssel hinaus. So kommen z. B. Auschwitz, Wien und Prag vor.

Aufgrund der dargestellten Themen ist erklärlich, dass Menasses Werk von der Kritik[1] als erster EU-Roman gefeiert worden ist und dem Genre des politischen Romans zuzurechnen ist. Gleichzeitig weist er aber auch Elemente des Kriminalromans bzw. Polit-Thrillers auf. Seine nicht unerhebliche Spannung bezieht der Roman allerdings nicht aus diesem Handlungsstrang.


Figuren

Für die eingangs formulierte Problemstellung unserer Analyse, nämlich die Frage nach den Zielen und Chancen der EU, spielen die Lebensentwürfe, Wertvorstellungen und Erfahrungen vor allem der agierenden Figuren eine wesentliche Rolle. Diese Figuren hat die Projektgruppe daher näher untersucht.

David de Vriend

Die Figur des David de Vriend steht hier am Anfang, weil seine Rolle im Roman auch vom Autor dadurch hervorgehoben wird, dass er als erster und letzter auftritt, somit einen Rahmen bildet, obwohl oder gerade weil er zur EU-Bürokratie keinen Bezug hat und keinen der übrigen Protagonisten kennt. De Vriend beschäftigt sich nicht mit der EU, er kämpft aber gegen das Vergessen, sowohl das gesellschaftliche hinsichtlich der Geschichte als auch sein eigenes in Form der Demenz.

De Vriends Leben ist kein Leben im üblichen Sinn. Sein Leben wird vielmehr vom Erzähler als Überleben definiert. (vgl. S. 222[2]) Er hat sein Schicksal als Auschwitz-Überlebender vergessen wollen, hat aber als alter Mann „das Gefühl, selbst vergessen worden zu sein, völlig vergessen von allen Menschen und sogar vom Tod.“ (S. 154) Sein Überleben liegt vor Europa. Zwar wurde er Lehrer, weil er nicht nur Zeitzeuge sein wollte. „Er wollte nicht Zeuge, er wollte Erzieher sein.“ (S. 355) Aber Zweifel, ob ihm das gelungen ist, bleiben (vgl. S. 155). Wenn er auf einen Friedhof geht, und er geht gern auf Friedhöfe, und auf die Gräber schaut mit ihren Grabsteinen und den Namen darauf, denkt er an seine Familie, denn: „Seine Eltern, sein Bruder, seine Großeltern hatten Gräber in der Luft[3].“ (S. 85).

Was von de Vriends Leben bzw. Überleben am Ende bleibt, ist trotz ständigen Putzens nur Dreck, das denkt er (vgl. S. 73f.), als er zum letzten Mal in seiner leeren Wohnung steht, in der er am Place du Vieux Marché aux Grains sechzig Jahre lang gewohnt hat (vgl. S. 9). Diese Wohnung hat eine Feuertreppe, also eine Möglichkeit zur Flucht. Auch deshalb hatte er sie seinerzeit genommen. Denn seiner Flucht aus einem Deportationszug nach Auschwitz im April 43 (vgl. S. 354) verdankt er, dass er überhaupt überleben konnte. Geblieben ist ihm seitdem das Schuldgefühl, die Rufe seiner Eltern „Bleib da!“ (S. 447), als er aus dem Zug springt, hat er immer noch im Ohr. Es hilft ihm nicht, dass er weiß: „Er hätte sie nicht retten können, wenn er nicht aus dem Zug gesprungen, wenn er bei ihnen geblieben wäre.“ (S. 449)

Einen Schutz beim Überleben bieten seine maßgeschneiderten Anzüge aus feinstem Stoff. Sie sind eine Art Panzerung, soweit wie möglich von der fadenscheinigen Kleidung des Lageralltags entfernt. Zu diesem Schutz gehört auch das Fehlen einer Kopfbedeckung: „Wer im Lager gewesen war, wusste, was es hieß: keine Mütze. Das war der Tod. Darum hieß es danach: Leben. Freiheit. Bester Stoff und ein freier Kopf.“ (S. 324) Jetzt ist er im Altenheim, lebt zusammen mit Menschen, „die aus seiner Generation waren, aber nie seine Zeitgenossen gewesen sind, weil sie seine Erfahrungen nicht teilen mussten, ihr Unglück war das Alter, sein Unglück war das Leben.“ (S. 155)

Es ist eine Ironie des Schicksals, dass eine EU-Beamtin David de Vriend als in Brüssel lebenden Auschwitz-Überlebenden entdeckt und ihn in bester Absicht wieder auf die Opfer-Funktion reduziert, die sein ganzes Überleben bestimmt hat. In dieser Funktion bildet er zugleich die Personifikation für den Grundgedanken des Romans: als Ursprungsereignis der EU, woran in dem Jubilee-Projekt erinnert werden soll. Die Beamten der Generaldirektion für Kommunikation halten ihn für den idealen Mittelpunkt der zu planenden Jubelfeier zum 50. Geburtstag der EU-Kommission: „Da haben wir alles: ein Opfer des Rassismus, einen Widerstandskämpfer[4], ein Opfer von Kollaboration und Verrat[5], einen Zeugen des Vernichtungslagers, einen Visionär des nachnationalen Europas auf der Basis der Menschenrechte, die Geschichte und die Lehre aus der Geschichte in einer Person, in der Person dieses Lehrers.“ (S.355) Zur Verwirklichung dieses Projektes kommt es im Roman auch deshalb nicht, weil de Vriend wie mehrere andere Protagonisten im letzten Kapitel durch ein Bombenattentat in der Brüsseler Metro stirbt.

Aber etwas bleibt doch: Als Joséphine, seine Betreuerin im Altenheim, nach seinem Tod sein Zimmer ausräumt, findet sie einen Zettel, auf dem er Überlebende notiert hat. Der letzte Name auf dem Zettel ist sein eigener, im Unterschied zu allen anderen nicht durchgestrichen. Sie steckt den Zettel in die Tasche ihres Arbeitsmantels und denkt: „Solange sein Name nicht durchgestrichen ist, so lange - “ (S. 453). Der Zettel mit dem nicht durchgestrichenen Namen eines Überlebenden entfaltet seine eigene Dynamik: Er soll, er muss weiterleben, auch wenn er individuell schon tot ist.

Trotz der isolierten Stellung der Figur des David de Vriend schafft der Autor durch Orte Verbindungen zu anderen Figuren. Dies wird einerseits über die Lage seiner Wohnung erreicht, die in unmittelbarer Nähe der Wohnung von Martin Susman und des Hotel Atlas liegt, in dem Erhart während seiner Brüssel-Besuche wohnt. Andererseits hat der Schauplatz des Friedhofs eine verbindende Funktion im Roman. Neben seiner allgemeinen Bedeutung als in den Tod hineindeutende Dimension ist er ein ästhetischer und ruhiger Ort des Rückzugs und Gedenkens im Anblick von Soldatengräbern, normalen Gräbern und dem Erinnerungsmal der ewigen Liebe, das Prof. Erhart besucht. Für Kommissar Brunfaut und seinen Freund und Kollegen Philippe ist der Friedhof ein versteckter konspirativer Ort.

Prof. Alois Erhart

Alois Erhart dürfte in ähnlichem Alter sein wie David de Vriend, diese beiden Figuren gehören als einzige im Roman der Generation der Alten an. Erhart ist emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre aus Wien. Er nimmt in Brüssel an dem Think-Tank „New Pact for Europe“ teil und hält dort das Eingangsreferat. Die Schilderungen der Sitzungen dieser Gruppe konzentrieren sich auf die Abläufe, an denen Erhart beteiligt ist. Dieser Handlungsstrang hat, abgesehen davon, dass im Referat von Erhart die Bedeutung von Auschwitz betont wird, keine Verbindung zu anderen Handlungssträngen des Romans.

Prof. Erhart wird als älterer Herr mit traurigem, besorgtem Gesicht (vgl. S. 13) eingeführt. Als er vor dem Hotel Atlas Blaulicht sieht, denkt er sofort an einen Selbstmord: „Die Seele als schwarzes Loch, das alle Erfahrungen, die er ein Leben lang gemacht hatte, aufsaugte und verschwinden ließ, bis sich nur noch das Nichts ausdehnte, absolute Leere“ (S. 26). Im Gegensatz zu diesem momentanen Gefühl, hat er die Einladung zur Teilnahme am <New Pact for Europe> angenommen, weil er hofft, dort dazu beizutragen, die Gründungsideen der EU in Erinnerung zu rufen. Erhart ist als unsportlicher Sohn des Inhabers eines Sportartikelgeschäfts in Wien aufgewachsen. Zwei prägende Ereignisse seiner Jugend sind für seine Auftritte in Brüssel von besonderer Bedeutung. Sein Vater hat ihm erfolgreich Verlässlichkeit als extrem wichtige Tugend eingebläut. So hält er aus dem Gefühl, Zusagen einhalten zu müssen, an seinem Referat fest , obwohl er schon bei der ersten Sitzung erkannt hat, dass er mit seiner Position auf verlorenem Posten steht. Sein Studium und sein späterer Werdegang haben sich an Prof. Armand Moens orientiert, der bereits in den sechziger Jahren aus volkswirtschaftlichen Gründen auf „die Notwendigkeit [...] eine Vereinte Europäische Republik zu gründen“ (S. 89) hingewiesen hat. Erhart referiert in seinem Vortrag Positionen von Moens und bekräftigt seine Argumentation sowohl durch empirische Belege als auch durch die Schilderung persönlicher Begegnungen mit Moens. Erhart hat dessen Aufforderung, seine Meinung mit existentiellem Einsatz zu vertreten, verinnerlicht. Sein Vortrag orientiert sich an dem Leitsatz von Moens, so zu schreiben, als wäre es der letzte Beitrag im Leben.

Bereits bei der einleitenden Diskussion im Think-Tank muss Erhart feststellen, dass sich die anderen Teilnehmer überwiegend an nationalen Interessen orientieren und die bestehende Krise der EU durch eine konsequentere Fortsetzung bisheriger Ansätze lösen wollen. Erhart geht angesichts dieser vorherrschenden Meinung auf Konfrontationskurs: „Das war ja das Gespenstische, dass in dieser Runde von Anfang an der Konsens geherrscht hatte, dass die Krise Europas nur mit eben den Methoden gelöst werden könne, die zu dieser Krise geführt hatte. More of the same“. (S. 258) Erhart äußert seine Kritik in heftigen Zwischenrufen. Nachträglich stellt er selbstkritisch fest: „Er hatte sich aufgeführt wie einer dieser antiautoritären Studenten, mit denen er vor vielen Jahren zu tun bekommen hatte.“ (S. 257)

Nach der Erkenntnis beim ersten Treffen der Reflection Group, „Nie und nimmer würde er einen aus diesem Kreis überzeugen können“ (S. 301) hat Erhart das Konzept seines Vortrags bewusst so geändert, dass der Vortrag als Provokation aufgefasst werden muss. Er sieht seinen Vortrag als Vermächtnis, da er danach seine Mitgliedschaft in der Gruppe aufkündigen will. Menasse lässt den Erzähler in auffallender Weise diesen Vortrag von Erhart bewerten als den „Vortrag, der im Grunde eine Rede über die Freiheit war. Über Befreiung. Zumindest eine Rede der Selbstbefreiung.“ (S. 342) Erhart beginnt sein Referat damit, die Vorstellungen seines Lehrers Armand Moens zur EU zu erläutern. Dessen Konzept fasst er wie folgt zusammen: „dass wir etwas völlig Neues brauchen, eine nachnationale Demokratie, um eine Welt gestalten zu können, in der es keine Nationalökonomie mehr gibt.“ (S. 389) Erhart sieht sich als jemand, der die Wahrheit sucht und glaubt, sie gefunden zu haben. Aus dieser Position greift er die vorherrschende Meinung, die sich aus seiner Sicht an nationalen Interessen orientiert, frontal an: „Sie suchen nicht nach der Wahrheit, weil sie den Mainstream für den letzten Stand der Wahrheit halten.“ (S. 387).

Als er schon gedrängt wird, seinen Vortrag zu beenden, begründet er seine Empfehlung an den Präsidenten der Kommission. Er plädiert dabei für „die Herstellung von Rahmenbedingungen, die aus dem Europa konkurrierender Kollektive ein Europa souveräner, gleichberechtigter Bürger machen würde.“( S 392) Gleichzeitig benennt er die gegen dieses Ziel stehenden Widerstände: „Aber das alles ist nicht durchsetzbar, solange das Nationalbewusstsein gegen alle historischen Erfahrungen weiter geschürt wird und solange der Nationalismus weitgehend konkurrenzlos ist als Identifikationsangebot an die Bürger.“ (S. 392) Als Identifikationsangebot und als „starkes Symbol für den Zusammenhalt“ (S. 392) fordert Erhart:“ Die Europäische Union muss eine Hauptstadt bauen, muss sich eine neue, eine geplante, eine ideale Hauptstadt schenken. […] Es muss ein Ort sein, wo die Geschichte spürbar und erlebbar bleibt“ (S. 393f.). Erst mit seinen letzen Sätzen lässt Erhart die Katze aus dem Sack: „In Auschwitz muss die neue europäische Hauptstadt entstehen, geplant und errichtet als Stadt der Zukunft, zugleich die Stadt, die nie vergessen kann. <<Nie wieder Auschwitz>> ist das Fundament, auf dem das Europäische Einigungswerk errichtet wurde.“ (S. 394)

Die von der Figur des Prof. Erhart im Roman vertretene Vorstellung des zukünftigen Europa stimmt weitgehend überein mit der Position, für die der Autor Robert Menasse in Essays und Vorträgen wirbt. In seinem Essay „Der europäische Landbote“ von 2012 hat Robert Menasse seine Positionen in Bezug auf die Fehlentwicklungen und Konflikte der EU dargelegt. Grundlage für seinen Essay ebenso wie für seinen Roman über Europa, den Menasse schon länger plante, ist sein einjähriger Aufenthalt in Brüssel, wo er die Arbeit der Europäischen Kommission kennen lernte. Er kommt zu dem Fazit, dass die Beamten der Kommission eine glänzende Arbeit abliefern. Zu Konflikten komme es durch den Europäischen Rat, d. h. durch die Versammlung der Regierungschefs der Länder, die nur ihre nationalen Interessen vertreten und nur bedingt zu Kompromissen bereit sind, die ein gemeinsames Handeln aller EU-Staaten ermöglichen. Für Menasse ist der Europäische Rat nicht demokratisch legitimiert im Gegensatz zum Europäischen Parlament, das aber nur wenig rechtlichen Einfluss hat.

Wir brauchen eine Demokratie, die in der EU funktioniert, sagt Menasse. „Entweder geht das Europa der Nationalstaaten unter, oder es geht das Projekt der Überwindung der Nationalstaaten unter. So oder so, die EU ist <unser> Untergang.“[6]. Die EU muss seiner Meinung nach auf ihre Grundidee zurückgeführt werden, wie sie bei der Gründung der OECD, (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) 1961 und ihren Vorläufern schon 1947/48 und der Montanunion 1951 formuliert wurde. In diesen ersten Bündnissen nach den Erfahrungen des zweiten Weltkrieges geht es ausdrücklich um die Überwindung des Nationalismus und die Kontrolle militärischer Aufrüstung.

Der Essay „Der Europäische Landbote“ kann im Sinne Georg Büchners als Streitschrift gegen den aufblühenden Nationalismus verstanden werden. Zugleich ist er ein Appell, sich für die Idee eines nachnationalen Europas einzusetzen, eine Idee, die ihren Ursprung in den Erfahrungen der Weltkriege und des Holocaust hat. Eine Rückbesinnung auf diesen Ursprung wird sichtbar in der Tatsache, dass jeder Kommissionspräsident zu Beginn seiner Amtszeit eine Reise nach Auschwitz antritt.

Fenia Xenopoulou

Die überaus ehrgeizige und karrierebewusste Fenia gehört mit Ende 30 zur Gruppe der jüngeren EU-Beamten. Ihre Herkunft aus armen Verhältnissen gibt ihr die „glühende Energie, die oft jenen Menschen eigen ist, denen die Misere ihrer Herkunft ewig in der Seele brennt“ (S. 48). Als zypriotische Griechin gelingt es ihr aufgrund guter Schulleistungen und durch die Unterstützung ihrer Eltern, vor allem der Mutter, die Insel zu verlassen und in Athen zu studieren. Im Gegenzug erwartet die Familie finanzielle Zuwendungen durch den erhofften beruflichen Erfolg. Diese Erfahrungen führen schon früh bei ihr zu der Erkenntnis: „Liebe ist eine Fiktion“. (S. 143) Merkantiles Denken bestimmt auch ihre Ehe mit einem Athener Anwalt, der ihr ein sorgenfreies Studium ermöglicht (vgl. S. 148), während sie aufgrund ihres attraktiven Äußeren und ihres gewinnenden Charmes sein Prestige steigert, so dass für beide ein Nutzen entsteht. Als ihr Mann ihr lästig wird, lässt sie sich scheiden und widmet sich ganz der Karriere. Auch dabei setzt sie ihre weiblichen Reize gezielt ein, so denkt ihr Mitarbeiter Martin Susman während einer dienstlichen Besprechung: "sie hatte einen schwarzen Rock an, mit einem diagonal verlaufenden Reißverschluss. Martin dachte: als wäre ihr Schoß durchgestrichen! Und doch mit einem Mechanismus versehen, um ihn blitzschnell öffnen zu können!" (S. 183)

Nach dem Abschluss ihres Ökonomie-Studiums in London und Stanford (vgl. S.33) fällt sie „als hervorragender Teil eines perfekt funktionierendes Büros“ (S. 32) der Generaldirektion für Wettbewerb auf. Sie steigt auf ins Kabinett des Kommissars für Handel und wird von dort zur Leiterin einer Abteilung in der Generaldirektion für Kultur befördert, was sie selbst wegen der Bedeutungslosigkeit dieser Organisationseinheit als Karriereknick empfindet. Sie setzt alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel ein für einen Wechsel zum wichtigen Handels-Department. Zunächst hofft sie auf Hilfe durch Frigge, ihren Geliebten, der die Generaldirektion für Handel leitet und damit sehr einflussreich ist. Auch in dieser Beziehung zeigt sich ihr Nützlichkeits-Maßstab: “Er täuschte Begehren vor, sie täuschte einen Orgasmus vor. Die Chemie stimmte.“ (S. 35)

Im „Jubilee Project“ zum 50. Geburtstag der EU, das sie „rasch an sich zog“, sieht sie die „Chance, auf die sie gewartet hatte, um visibilité zu zeigen“. (S. 62) Allerdings schiebt sie die konkrete Arbeit an dem Projekt, das sie inhaltlich nicht wirklich interessiert, ihrem „Sherpa“ (S.62) Martin Susmann zu. Als dieses Projekt grandios scheitert, zeigt ihr Frigge einen Ausweg aus ihrer Misere; durch den Austausch ihres griechischen Passes gegen einen zypriotischen kann sie den Aufstieg in eine wichtigere Position erreichen, weil Zypern nicht genügend qualifizierte Leute hat, um die ihnen in der EU-Kommission zustehenden Posten zu besetzen. Dieser Vorschlag stürzt Fenia zunächst in Verwirrung; sie, die sich selbst als Pragmatikerin sieht und keine nationale Bindung an Griechenland oder Zypern hat, entwickelt Skrupel (vgl. S.427). Um ihrer Karriere willen entscheidet sie sich dann aber doch für den Wechsel, obwohl sie die Nationalität als Beschränkung ihrer Freiheit empfindet, gewissermaßen als den Appell: „Bleib, wo du bist!“ (S. 427) Ihre vorübergehenden Skrupel verdanken sich also nicht einem spät erkannten Nationalgefühl, sondern sind Ausdruck ihrer Aufsteigermentalität.

Fenia erscheint die Arbeit in der EU durchaus als wichtig: „Sie glaubte wirklich, dass die Karriere, die sie vor sich sah, ihr Lohn dafür sein werde, dass sie an einer Verbesserung der Welt Anteil hatte.“ (S. 32f.) Dabei denkt sie an die Beseitigung von Handelsschranken und den fairen Welthandel. Mit ihren Vorstellungen ist Fenia weit entfernt von den Ideen der Gründerväter der EU, sie ist keine Idealistin oder Europa-Ideologin, sondern Pragmatikerin mit Aufsteigermentalität, die Herkunft und Generationenbindung hinter sich gelassen hat. Ihre Ablehnung des Nationalen verdankt sich ihrer Vorstellung von Europa als Reich der Freiheit, das durch Leistung entsteht.

Martin Susman

Der 38-jährige (vgl. S. 121) Österreicher entstammt einer katholischen Bauernfamilie, er ist der jüngere Bruder von Florian, der den Hof übernommen und zu einem florierenden Betrieb für Schweineproduktion ausgebaut hat. Seine katholische Sozialisation führt dazu, dass er sein Lachen am Tag, an dem sein Vater gestorben war, als 16-Jähriger beichtet, um seine Schuld vergeben zu bekommen. Im Gegensatz dazu sieht er als Erwachsener in der Existenz von Motten, die ins Licht fliegen, einen „Beweis, dass es keinen Gott gab, keinen Sinn in der Schöpfung, also keine Schöpfung.“ (S. 245) Martin galt als Kind als närrisch, lebensuntüchtig und ungeschickt, ihn beschäftigte die Literatur (vgl. S. 19). Nach dem Tod des Vaters kann er mit seinem Erbteil das Studium der Archäologie finanzieren, ein archäologischer Blick auf Spuren und Schichten bleibt ihm davon. Martin verlässt seine ihm fremd gewordene Heimat und findet wie seine Chefin Fenia Xenopoulou ohne nationale Quote eine Stellung bei der EU-Kommission; sie macht ihn für das Jubilee Project „zu ihrem Sherpa, der die Last des Projektes schleppen sollte“ (S. 62).

In seinem Wesen und seiner Lebensführung erscheint Martin leicht depressiv, entscheidungsschwach und in praktischen Dingen ohne jede Initiative. So gestaltet er z.B. die Wohnung, in der er in Brüssel lebt, nicht zu einem wirklichen Zuhause, sondern sinniert über die merkwürdiger Weise im ungenutzten Kamin vom Vorgänger zurückgelassenen Bücher. Er „verachtete sich dafür [gemeint ist seine Gewichtszunahme], aber ohne Vorsätze zu fassen“ (S. 245). Er legt keinen Wert auf Äußerlichkeiten, sondern trägt Tag für Tag einen einfachen grauen Anzug, den Fenia in Gedanken „Maus-Kostüm“ (S. 181) nennt. Da ihn die Fahrt mit der Metro zur Arbeit deprimiert, schließt er sich der EU-Cycling-Group an und trifft seinen Kollegen und Freund Bohumil und die Büroleiterin Kassandra meist auf der gemeinsamen Fahrt ins Büro (vgl. S. 50).

Sein Bruder Florian, mit dem Martin sich notgedrungen bei dessen regelmäßigen Besuchen in Brüssel trifft, versucht ihn für seine Lobby-Arbeit zugunsten der europäischen Schweineproduzenten einzuspannen und verweist dazu auf seine Familienpflichten. Er nimmt den jüngeren Bruder nicht ernst, was dieser klaglos hinnimmt.

Mit seiner Dienstreise nach Auschwitz aus Anlass der jährlichen Gedenkfeier setzt eine Art Metamorphose ein, ihn schockiert die dort erfahrene Normalität (vgl. S. 135 f.), er kehrt mit einer schweren Erkältung nach Brüssel zurück und entwickelt während seiner Genesung zu Hause die Idee für das Projekt. Am ersten Arbeitstag verstößt er gegenüber den ihn nach seinem Befinden fragenden Kollegen gegen die Konvention und gibt zu, dass es ihm nicht gut geht. Seine Projektidee vertritt er kämpferisch und wird dabei zum Sprachrohr des Autors Menasse, der in seinen Essays exakt die von Martin formulierten Grundsätze vertreten hat (vgl. S. 184 ff.)[7]. Eine weitere Verwandlung zeigt sich im Rollentausch mit seinem Bruder, der nach einem Unfall von Martin verantwortungsvoll versorgt wird, wozu dieser seinen gesamten Urlaub investiert, um bei ihm in Wien zu sein, und von dort aus außerdem weiter für sein Projekt arbeitet.

Kai-Uwe Frigge

Kai Uwe Frigge gehört zu den ranghohen Beamten der Europäischen Kommission. Er ist Kabinettschef in der Generaldirektion für Handel und „damit der einflussreiche Büroleiter von einem der mächtigsten Kommissare der Union“. (S.29) Schon im Prolog erfährt der Leser wichtige Charakterzüge seines Wesens. Er kommt z. B. nicht gern zu spät zu einem Termin, weil er sein Äußeres noch vorher auf der Toilette überprüfen und in Ordnung bringen will.

Frigge ist ein schlaksiger, wendiger Mann Mitte 40. Er stammt aus einer Lehrerfamilie aus Hamburg (vgl. S. 131). "Hamburger Internationalismus" hat ihn geprägt, ebenso wie die Werte, die in seinem Elternhaus wichtig waren. Dazu gehörte „Einsicht in die historische deutsche Schuld und ein großer abstrakter Anspruch auf Friede und Gerechtigkeit in der Welt, persönlicher Fleiß und Anstand, Misstrauen gegen Moden und Mainstream – das waren die Pflöcke, die seine Eltern eingeschlagen hatten“ (S. 131), heißt es im Roman und ist damit eine Betonung seiner Wertvorstellungen. Frigge ist schon seit 10 Jahren in Brüssel und lebt dort ohne eigene Familie mit einer Haushälterin.

Bei der Neuordnung der Europäischen Kommission hat er einen gewaltigen Karrieresprung gemacht, wobei der Erzähler offen lässt, ob das dem Zufall oder der geschickten Strategie von Seiten Frigges zu verdanken war. Wahrscheinlich war es beides, wie man aus der anschließenden fragmentarischen Darstellung seines beruflichen Werdegangs schließen kann, der mit einer Fahrt auf Schienen verglichen wird (vgl. S. 35). Er braucht nicht über sein Leben nachzudenken, es hat immer alles funktioniert, d.h. er hat immer funktioniert. Er hat den Ruf eines knallharten Pragmatikers, findet aber originelle Lösungen, damit der Aufwand, den er betreiben muss, um aus jeder Situation das Optimale herauszuholen, möglichst effizient und effektiv ist - „um beim Mitlaufen etwas weniger zu schwitzen oder beim Mitschwimmen etwas weniger nass zu werden.“ (S. 110) Auch die Tatsache, dass er montags seinen Dresscode für jeden Anlass der Woche durch seine Sekretärin festlegen läßt, aber selbst genau kontrolliert, was sie vorschlägt, und die Liste dann an seine Haushälterin weiter gibt, zeigt, wie wichtig es ihm ist, in jeder Situation passend aufzutreten. (vgl. die Anekdote einer Kommilitonin S.110).

Spätestens hier wird die satirische Überzeichnung der Figur durch den Autor deutlich. Es drängt sich das Klischee des überkorrekten, pflichtbewussten Deutschen auf, was gleichzeitig zu einer gewissen Distanz des Lesers zu der Figur führt, obschon sie offensichtlich dem Anspruch des glänzend arbeitenden europäischen Beamten entspricht, wie Menasse ihn im „Europäischen Landboten“[8] beschrieben hat. Beispielhaft wird an dem Verhalten Frigges die Arbeit der einzelnen Ressorts der Kommission dargestellt. Frigge versucht mit seinem Kollegen von der DG Agri (Directorate General forAgriculture und Rural Developement) George Morland, einem Briten, den Konflikt um den Schweinehandel zu lösen. Die DG Agri will die Subventionen für die Schweinemast kürzen, um den Preisverfall im Binnenmarkt zu stoppen (vgl. S. 128). Sie will den Binnenmarkt regulieren, bilaterale Verträge mit Drittstaaten, also den Außenhandel, aber in der Souveränität der einzelnen Staaten belassen. Die DG Trade, also Frigge, will die Schweineproduktion fördern und ein Mandat der EU erreichen, um für alle Mitglieder der EU den Export der Schweinefleischproduktion mit Drittländern, z. B. mit China, verhandeln zu können (vgl. S. 130).

In diesem Konflikt zeigt sich Frigge als überzeugter Europäer. Er bleibt dabei Pragmatiker und versucht mit Morland zu einem Kompromiss zu kommen. Er geht auf ihn ein und versucht ihn zu überzeugen. Dabei ist Frigge kein Idealist oder Visionär, hat aber feste Überzeugungen und seine Logik folgt den Grundsätzen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in denen der gemeinsame Außenhandel zu den Grundprinzipien gehört. Er ist der Überzeugung, dass durch Einzelhandelsverträge der Nationen z.B. mit China, es nicht nur zu einem größeren Preisverfall kommen würde, sondern auch die Konkurrenz zwischen den europäischen Staaten wachsen und Europa auseinander dividiert würde. „Es ist doch absurd, wenn die europäischen Staaten einen gemeinsamen Markt bilden, aber im Außenhandel keine Gemeinsamkeit herstellen.“ (S. 133.) Zum Schluss des Gesprächs deutet Frigge gegenüber dem britischen Kollegen jedoch an, dass Deutschland in der nächsten Zeit einen bilateralen Vertrag mit China abschließen wird, wodurch England ins Hintertreffen geraten könnte. Frigge setzt sich für den gemeinsamen Außenhandel der EU ein, kann aber in dem genannten Beispiel offensichtlich nicht viel erreichen. Das gemeinsame Handeln der EU-Staaten scheitert an nationalistischen Beamten und nicht zuletzt an den nationalen Interessen des Europa-Rats.

Romolo Strozzi

An dem Scheitern des Jubilee Projects ist der Italiener Romolo (Augusto Massimo) Strozzi maßgeblich beteiligt. Er kann als Gegenbild zu dem korrekten, angepassten Deutschen Kai Uwe Frigge angesehen werden. Als Kabinettschef des Kommissionspräsidenten gehört auch er zu den ranghohen Beamten und sitzt an herausragender Stelle im Machtgefüge der Kommission.

Er ist der letzte kinderlose Spross einer alten italienischen Adelsfamilie. In seiner unangepassten Art gilt er in der Kommission als <bunter Hund>, was, wie Fenia feststellt, schon in seiner Kleidung sichtbar wird (S. 278). Seine Rede unterstreicht er wie ein Operettendirigent mit großer Gestik. Trotzdem wirkt er ehrfurcht- und respektgebietend. Er spricht mehrere Sprachen, so empfängt er Fenia z. B. in Altgriechisch (vgl. S. 279), ist sehr belesen und kennt sich bestens in seinem Berufsfeld in Brüssel aus (vgl. S. 321).

Auch bei Strozzi kann man von einer satirischen Überzeichnung bestimmter Merkmale seiner Persönlichkeit sprechen. Er entspricht dem Klischee eines etwas sprunghaften, undurchsichtigen und theatralischen Südländers und erinnert Fenia an einen „barocken italienischen Grafen“ (S. 278). Mit ihm findet der komödiantische Ton, der den Roman z.B. auch mit der Schweinemetapher durchzieht, seine Fortsetzung. Strozzi ist mit dem Adel von Halbeuropa verwandt, und unter seinen Vorfahren befinden sich Vertreter aller politischen Richtungen. Während sein Großvater als faschistischer Kriegsverbrecher 1941/42 an Massenerschießungen beteiligt war, gehörte sein Vater dem Verhandlungsteam der italienischen Regierung an, die den Fusionsvertrag der Europäischen Gemeinschaft vorbereitete. Strozzi wird das Zitat „L’Europe, c’est moi!“ (S. 280) zugeschrieben. Er fühlt sich als Nachfahre einer schillernden Familientradition und berechtigt, die Macht, die er in seiner Position hat, in seinem Sinne einzusetzen. Ein europäischer Visionär oder Idealist ist er sicher nicht, aber ein Pragmatiker, der sich, wie das Zitat zeigt, als Europäer fühlt, und das, was ihm daran gefällt, zu nutzen weiß.

Erfahrung und Menschenkenntnis befähigen Strozzi dazu, sofort zu erkennen, dass es Fenia bei dem Jubilee Project vor allem um ihre eigene Karriere geht, und es ist für ihn von Anfang an klar, dass er dieses Projekt zu Fall bringen wird. Strozzi kennt sich in Brüssel bestens aus und ist gut vernetzt. Um gegen das Projekt zu intervenieren, trifft er sich mit seinem Freund, dem Protokollchef des Präsidenten des Europäischen Rates, dem Ungarn Attila Hidegkuti. Bewusst umgehen die beiden die Zuständigkeit von Lars Ekelöf, dem Kabinettschef des Ratspräsidenten , „ein Hardcore-Lutheraner aus Schweden, dem der barocke italienische Graf naturgemäß unheimlich war. [...] und der jeden Kompromiss als Verrat an seiner Moral empfindet“ (S. 328). Auch bei dieser Figur finden wir eine klischeehafte satirische Übertreibung, wobei nicht immer klar ist, ob die Bewertung aus Strozzis Sicht oder aus der Sicht des Erzählers erfolgt.

Strozzi und Hidegkuti „hatten schon viele Probleme zwischen Kommission und Rat in feiner Abstimmung miteinander gelöst“. (S. 328) Sie sind beide der Ansicht, dass das Jubilee Konzept zu Konflikten vor allem mit dem Europäischen Rat führen würde, und setzen, um es zu stoppen, das Gerücht in die Welt, dass die Kommission unter dem Vorwand von Jubiläumsfeierlichkeiten einen Prozess einleiten wolle, der die Abschaffung der europäischen Nationen zum Ziele habe (vgl. S. 331). Dass auf dieser Basis kein Land dem Jubilee Project zustimmt, ist verständlich und die Idee damit gestorben.

Fazit: Durch die satirisch klischeehafte Darstellung der einzelnen europäischen Beamten werden einerseits die Schwächen des Systems der EU-Kommission beleuchtet, die nicht zuletzt durch persönliche Prägungen und Eigeninteressen entstehen, gleichzeitig wird aber auch die Vielschichtigkeit, Komplexität und Internationalität der Behörde sichtbar und es zeigt sich, dass trotz aller Unterschiede in Kultur und Selbstverständnis die Idee eines gemeinsamen Europas als Basis der Arbeit und als Zusammenhalt noch existiert. Dass aber alle Anstrengungen, diese Idee zu fördern und wieder zu beleben, scheitern, unterstreicht die Krise, in der das Projekt Europa steht.

Ryszard Oswiecki

Der Pole Oswiecki - im Roman meist Matek genannt - begegnet dem Leser erstmals im Prolog beim schnellen, aber zugleich bewusst unauffälligen Verlassen des Hotels Atlas, in dem kurz zuvor ein Mord geschehen ist. Obwohl sich keine explizite Textstelle finden lässt, muss der Leser Matek für den Mörder halten, der offenbar im Auftrag gehandelt hat.

Oswiecki hat weder seinen Großvater noch seinen Vater kennen gelernt. Sein Großvater starb vor der Geburt seines Vaters, so dass auch sein Vater seinen Vater nie kennen lernte. Die Väter waren jeweils Widerstandskämpfer, die Opfer ihrer Mission bzw. verraten wurden. Der Großvater kämpfte 1940 im polnischen Widerstand gegen die deutschen Besatzer, der Vater erlebte 1956 den von sowjetischen Truppen niedergeschlagenen Aufstand, ging in den antikommunistischen Widerstand und wurde nach einer Sabotageaktion 1964 verraten, gefoltert und schließlich hingerichtet. Matek und sein Vater haben also ihre Väter nur indirekt durch Erzählungen oder eher noch durch Haltungen der Mütter den jeweiligen Kindsvätern gegenüber kennengelernt. „Die Polen, das war Mateks Lehre, hatten immer für die Freiheit Europas gekämpft, jeder, der in den Kampf eintrat, war im Schweigen aufgewachsen und kämpfte, bis er ins Schweigen einging.“ (S.23)

Mateks Mutter "vertraute auf den Schutz, den die Kirche gewähren konnte. [...]" und brachte ihren Sohn schließlich "bei den Schulbrüdern in Poznań unter“. (S. 23) Dort wurde er mit teilweise drakonischen Erziehungsmethoden (vgl. S. 23-25) sozialisiert. Seine religiösen Vorstellungen sind daher geprägt von Leiden mit masochistischen Zügen (vgl. S. 207), Opfer und Lebensabgewandtheit bzw. Todesnähe. Das geht bis zur völligen Verkehrung: „Im Grunde beneidete Meteusz Oswiecki seine Opfer. Sie hatten es hinter sich.“ (S. 25) Auch seine Religiosität ist geprägt von sexuellen bzw. erotischen Assoziationen (vgl. S. 116f.).

Mateks Weg von den Schulbrüdern zu den konspirativen Geheimdienstkreisen, denen er offenbar zur Zeit der Romanhandlung angehört, bleibt wie das meiste Wesentliche in diesem Zusammenhang im Dunkel von Andeutungen und Verschwörungstheorien. Nach einer abenteuerlichen Katz-und-Maus-Episode zwischen Brüssel, Krakau, Warschau und Istanbul verliert sich seine Spur ebenso mysteriös wie sein Auftauchen im Hotel Atlas.

Vielleicht ist dieser Plot eine mehr oder weniger stimmige Metapher für das Unverständnis des Westens gegenüber den Befindlichkeiten der ost- und mitteleuropäischen EU-Mitglieder. Es begegnen uns hier wie dort Klischees, fantastisch-abenteuerliche Vorstellungen und aufgeblasene Verschwörungstheorien. Überhaupt gibt es im Roman keinen authentischen Repräsentanten der östlichen EU, außer vielleicht den Tschechen Bohumil, der allerdings österreichischer Staatsbürger ist. Auch bei diesem ist die Generationenfolge von Widerstand gegen Unterdrücker gekennzeichnet.

Seine Sehnsucht nach einer geborgenen Kindheit erfüllt sich ganz kurz, als er im Flugzeug nach Krakau in die Augen einer Frau sieht, die die Abschiebung eines Asylbewerbers verhindern will. Er empfindet "das Gefühl einer Geborgenheit, das er gekannt, aber vergessen hatte" (S. 125). Osiecki stirbt bei einem Zugunglück auf dem Weg in die Zentrale nach Poznań, just nachdem Pater Szymon ihm die Angst genommen hat, wegen Versagens bestraft zu werden: „Es ging etwas schief. [...] Es war nicht deine Schuld. Du wirst erwartet. Du hast nichts zu befürchten.“ (S. 375) Sein Sterben wird von ihm als etwas Schönes ("Frauenstimme [...], Gefühl von Geborgenheit“ (S. 398) erlebt. Vor seinem inneren Auge sieht er sich mit einem Drachen, den er steigen lässt und gegen Angreifer verteidigt und festhält, bis er seine applaudierende Mutter sieht und loslässt, „der Drachen stieg hinein in die Sonne, dorthin wo sie nicht mehr blendete, sondern tiefrot und schließlich schwarz wurde.“ (S. 399) Dieses Bild kann man deuten als Sterbeprozess, als Loslassen des Lebens.

Zur Frage nach der Funktion dieser Figur und des allein durch sie bestehenden Erzählstrangs mit Krimielementen und kruder Verschwörungstheorie ist darauf hinzuweisen, dass Matek für die Tradition des polnischen Widerstands steht, ein polnisches Narrativ verkörpert, aber auch die generationale Tradition, ähnlich wie bei den Figuren de Vriend und Brunfaut. Durch Matek wird die extreme Fremdheit des polnischen Nationalismus und Katholizismus und die irritierende Verbindung von Religion und Politik verdeutlicht. Die sowohl hier als auch im Erzählstrang des Brunfaut angesprochene Vernetzung des Vatikans über die ganze Welt wird vom Leser als unheimlich empfunden, kann aber auch als satirische Übertreibung der katholischen Kirche zum weltweiten Bespitzelungsnetzwerk verstanden werden. In der hierarchischen Struktur der katholischen Kirche und ihren undemokratischen Elementen zeigen sich Gemeinsamkeiten mit dem Islam, der als Gottesstaat bekämpft wird: „der Feind heute heißt Islam.“ (S. 369)


Rezensionen (Auswahl)


Fußnoten

  1. vgl. die Angaben zu Rezensionen
  2. Alle Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf: Robert Menasse, Die Hauptstadt, Berlin 2017
  3. Vgl. Paul Celan, Die Todesfuge – „wir schaufeln ein Grab in den Lüften … läßt schaufeln ein Grab in den Lüften“
  4. „Er schloss sich im Juni 44 als Jüngster der Widerstandsgruppe <Europe libre> an, das war die Gruppe um Jean-Richard Brunfaut“. (S. 355) Hierdurch wird ein Zusammenhang zu Kommissar Emile Brunfaut, dem Sohn dieses Widerstandskämpfers, hergestellt.
  5. „David de Vriend wurde im August 44 verraten, verhaftet und nach Auschwitz deportiert.“ (S. 355)
  6. Robert Menasse, Der europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas, Freiburg im Breisgau (Herder) 2015, S. 107
  7. a.a.O., S. 102 und 107
  8. a.a.O. S. 21 ff.