Silvia Bovenschen, Nur Mut: Unterschied zwischen den Versionen

Aus Literarische Altersbilder
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Für Johannas weitere Entwicklung sind nicht nur ihre Erkenntnisse über die Gefahren des Internet ausschlaggebend, sondern auch die Verzweiflung Nadines, nachdem diese von dem neuerlichen Ausbruch ihrer Krankheit erfahren hat. Nadines kämpferische Ansage, dass es ihr in Zukunft egal ist, was andere über sie denken oder reden, (vgl. S. 64) hat Johanna tief erschüttert. Sie ist der Auslöser für ihre Erinnerung an den einzigen Mann, den sie wirklich liebte und den sie verlassen hat, weil ihr das luxuriöse und abwechslungsreiche Leben an der Seite ihres Mannes, sowie die Anerkennung ihrer Literatur wichtiger waren als die Liebe.
Für Johannas weitere Entwicklung sind nicht nur ihre Erkenntnisse über die Gefahren des Internet ausschlaggebend, sondern auch die Verzweiflung Nadines, nachdem diese von dem neuerlichen Ausbruch ihrer Krankheit erfahren hat. Nadines kämpferische Ansage, dass es ihr in Zukunft egal ist, was andere über sie denken oder reden, (vgl. S. 64) hat Johanna tief erschüttert. Sie ist der Auslöser für ihre Erinnerung an den einzigen Mann, den sie wirklich liebte und den sie verlassen hat, weil ihr das luxuriöse und abwechslungsreiche Leben an der Seite ihres Mannes, sowie die Anerkennung ihrer Literatur wichtiger waren als die Liebe.
Der Panzer, den Johanna um sich aufgebaut hatte, hat Risse bekommen. (vgl. S. 65 u. S. 107) Sie geht auf ihr Zimmer, um den letzten Satz ihres Romans zu schreiben, ein Hinweis darauf, dass sie sich mit ihrer Situation und im Grunde mit der Endlichkeit, mit dem Tod, abgefunden hat.
Der Panzer, den Johanna um sich aufgebaut hatte, hat Risse bekommen. (vgl. S. 65 u. S. 107) Sie geht auf ihr Zimmer, um den letzten Satz ihres Romans zu schreiben, ein Hinweis darauf, dass sie sich mit ihrer Situation und im Grunde mit der Endlichkeit, mit dem Tod, abgefunden hat.
Die hellsichtige Johanna ist die Erste, die die bevorstehende Veränderung ahnt, so orakelt sie „Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. [...] Da ist etwas im Gange!“ (S. 101). Ihr Versuch, die alarmistische Aussage durch weitere Übertreibung (Weltuntergang, Endzeit) zu parodieren, lässt Panik unter den Freundinnen entstehen. Auf Charlottes Bekenntnis, ihren Vermögensverwalter erschlagen zu haben, reagiert nur Johanna gefasst und fragt sachlich nach. Johanna solidarisiert sich sogleich mit Charlotte und verspricht mitzugehen, „[...w]ohin auch immer“ (S. 121). Bei der dann folgenden Abrechnung mit dem alten Leben und seinem Lebensraum ist Johanna „abgründig müde“ (S. 122) und gesteht, dass sie sich schon länger nicht mehr vorstellen konnte, dass ihr Roman in irgendeiner Weise von Bedeutung wäre, d.h. sie verabschiedet sich von ihrer Autoren-Rolle. Sie bleibt aber der Literatur verbunden, indem sie Hölderlin zitiert („‘April und Mai und Julius sind ferne/ Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne.‘“) (S. 123) Nach der Zerstörungsorgie formuliert Johanna deren Fazit ebenfalls mit literarischem Bezug im weiteren Sinne: „Jetzt ist die Zeit gekommen, da der Märchensatz ’Etwas Besseres als den Tod finden wir überall’ seine Trostmacht verloren hat“ (S. 130), es gibt nichts mehr zu hoffen.
Johanna ist im Finale als phantastische Figur der kleine rundliche Mann zugeordnet, den sie am Nachmittag erstmals unter ihrem Fenster promenierend sieht und der ihr bezüglich Kleidung und Gang  aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Sie ordnet ihn zuerst den 30er Jahren zu und der Croisette , dann findet sie ihn eher in den Bois de Bologne im Jahr 1913 passend. Als er sie grüßt, indem er seinen Hut zieht und „einen kleinen albernen Hopser“ (S. 59) macht, zweifelt Johanna an ihrer Wahrnehmung.
Besagter rundlicher Herr stellt sich abends beim Besuch der merkwürdigen Gäste als Monsieur Charlus vor (vgl. S. 142). Ein Baron Charlus kommt in Prousts „ Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ im 4. Band im Kapitel „Sodom und Gomorrha“ vor. Reales Vorbild soll Montesquieu gewesen sein.
Johanna kennt selbstverständlich diese literarische Figur und bemängelt als Kritikerin, die sie nun einmal ist: „Der wurde aber ganz anders beschrieben. Da ist keinerlei Ähnlichkeit mit den Bildvorgaben seines Schöpfers.“ (S. 142) Charlus kontert schlagfertig: „[…] ich tauche zu den inneren Bildern der Leser. Im Moment habe ich die Gestalt, die mir eine vierundachtzigjährige Leserin im Jahr 1953 gab. Und da sie auch schon sehr betagt sind ….“ (S. 142)
Als „Virtuose im Changieren zwischen dem Virtuellen und dem Realen“ (S.144) hat er in Johannas noch unveröffentlichtem Roman „herumgelesen“, wie er sagt, worauf sie – in einem Rückfall in „ganz weltliche Autoreneitelkeit“ (S. 144) – sein Urteil erbittet. Charlus äußert sich positiv, meint aber, sie hätte sich und die andern Frauen liebevoller darstellen können. Konkret wirft er Johanna vor, dass sie Liebe und Literatur verraten habe. Das bezieht sich darauf, dass sie dem einzigen Mann, den sie wirklich geliebt hat, nicht folgte. Der Verrat an der Literatur wird einerseits darauf bezogen, dass sie ihre hohen Ideale aufgegeben hat („Aufbruch ins Undenkbare“ S. 145), andererseits darauf, dass ihre Literatur und ihr Leben nicht zusammenpassten. Gegen letzteren Vorwurf wehrt sich Johanna, da man Leben und Werk nicht „verpantschen“ (S. 145) dürfe - was sie selbst aber in ihrem Roman über die alten Frauen in der Villa getan hat. Die allgemeine Aussage „In jedem Leben ist ein Verrat“ (S. 143) relativiert den Vorwurf gegenüber Johanna allerdings, da Verrat als im Leben unvermeidbar, als Teil jedes Lebens erscheint, ebenso wie Lieblosigkeit.
Johanna bereut ihre Lieblosigkeiten gegenüber ihren Mitbewohnerinnen, aber sie braucht offenbar doch Hilfe, um einzusehen, dass sie sich ein falsches Bild von sich selbst gemacht hat: „die knurrige Alte, die das Urteil der Welt nicht mehr braucht.“ (S.145) Was sie aber braucht, ist die Welt der Villa, d.h. ihre Mitmenschen, ihre Schicksalsgenossinnen. Ebenso benötigt sie offenbar Monsieur Charlus, ihr literarisches Alter Ego, für literaturwissenschaftliche Betrachtungen (z.B. über den Bezug Autor-Werk oder Autor-Leser, über das Wesen der Fiktion u.a.), aber auch für ihre Selbsterkenntnis, die schon vorher begonnen hatte. Er ist wie ein innerer Gesprächspartner, eine Kopfgeburt, ein Widerpart, der auch nicht immer Recht haben muss, aber Teil ihrer Reflexionen ist und sie dazu bringt, den ungelebten Teil ihres Lebens zu betrachten.
Sein und Johannas Lächeln am Schluss der Unterhaltung wecken Assoziationen zur Erlösung durch das Jüngste Gericht, erinnern an den Seelenführer, Psychopompos, der sie sanft lächelnd in den Tod geleitet. Religiöse Sehnsüchte und Hoffnung auf Hilfe und Begleitung auf der letzten Strecke werden in ihm persifliert. Vielleicht ist der Dialog mit ihm auch nur ein Bild für einen Zuwachs an Klarheit, Selbsterkenntnis und Selbstvergewisserung, die ihr Trost geben.


==Anmerkungen==
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<references />
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Version vom 17. August 2015, 18:22 Uhr

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Inhalt

Die Handlung des 2013 erschienenen relativ kurzen Romans erstreckt sich über etwa acht Stunden eines Tages und spielt in einer an einem Fluss gelegenen Villa. In diesem großbürgerlichen Ambiente leben vier ältere Damen (die Hausbesitzerin Charlotte und ihre drei Freundinnen Johanna, Nadine und Leonie), versorgt von der Haushälterin Janina. Vorübergehend wohnt außerdem die Enkelin Dörte im Haus, die am Tag des Geschehens Besuch von ihrem Freund Flocke hat. Die ersten drei der insgesamt sechs Kapitel zeigen die Ereignisse des Vormittags und der Mittagszeit, zum Beispiel die Vorbereitung des gemeinsamen Mittagessens, überwiegend die Gespräche der Hausbewohner in den verschiedenen Räumen. Nadine verlässt das Haus in der erklärten Absicht, beim Konditor Kuchen für den am Nachmittag erwarteten Besuch von Charlottes Finanzberater zu besorgen, sucht aber in Wirklichkeit ihren Arzt auf, von dem sie über den erneuten Ausbruch ihrer Krebserkrankung informiert wird. Nach Hause zurückgekehrt lenkt sie sich mit dem TV-Programm ab und nimmt daher auch nicht am Mittagessen der Freundinnen teil. Während sich Leonie nach dem Essen in ihr Zimmer zurückzieht, unterhalten sich (4. Kapitel) Charlotte, Johanna und Nadine beim Tee im Salon. Am späten Nachmittag (5. Kapitel) empfängt Charlotte ihren Finanzberater Dr. Theodor von Rungholt in der Bibliothek, aus der ihre Freundinnen im Salon nach einer Weile zunehmend laute Geräusche wie Schreien und Poltern vernehmen. Die Erklärung dafür ist, dass Charlotte den Mann mit dem Schürhaken erschlagen hat, nachdem dieser ihr mitgeteilt hat, dass er ihr gesamtes Vermögen veruntreut hat, so dass sie nun mittellos dasteht. Diese Mitteilung löst eine derartige Verzweiflung, Befreiung und Enthemmung aller drei Frauen aus, dass sie das Mobiliar und die Kunstschätze des Salons verwüsten, sie "feiern […] eine Art Abrissparty des Lebens" [1]. Danach sollen sie das Haus sorgfältig verschlossen haben und mit dem alten Benz auf und davon gefahren sein. Dies jedenfalls erfährt der Leser in der die Binnengeschichte umschließenden Rahmenhandlung, die im 3. Abschnitt genauer untersucht wird. Im 6. und letzten Kapitel der Binnenerzählung tauchen vier merkwürdige Gäste auf, nämlich „ein weißer Schwan, ein sehr alter Hund, ein rundlicher Herr und ein kleines Mädchen“ (S. 133)[2]. Diese Figuren sind vorher einzeln von den alten Frauen außerhalb des Hauses gesehen und bemerkt worden, ihnen also jeweils zugeordnet. Unter der Regie des kleinen Mädchens findet in der Folge eine Art Gerichtsverhandlung oder auch jüngstes Gericht über das Leben der Frauen statt, die mit der Aufforderung des Schwans „Nur Mut! […] Zeit zum Aufbruch. Macht euch frisch, […] jetzt ist die Zeit zu gehen…“ (S. 151f.) endet und damit durch die Nennung des Titels deutlich den Schlusspunkt der Binnenerzählung markiert.

Figuren

Charlotte

Als einzige der alten Frauen ist Charlotte, die in gewissem Sinne als Hauptfigur des Romans gesehen werden kann, in die oben bereits erwähnte Rahmenerzählung eingebunden. Sie wird dort als Großtante des Binnenerzählers familiär eingeordnet. Damit erhält die Erzählung über sie die historische Anbindung an einen Rahmen, der in dem Roman den Anspruch auf Realität und Verortung der Geschichte in Familienzusammenhängen aufrecht erhält. Wir erfahren über Charlotte, dass sie die Besitzerin des Hauses ist, in dem die Frauen leben, eine „hochgewachsene strenge Erscheinung. Imposant im Alter, in ihrer Jugend gravitätisch schön, [...] Aus reichem Hause kommend hatte sie von ihrem Mann zusätzlich ein beträchtliches Vermögen geerbt.“ (S. 8) Sie hat im Alter drei Freundinnen zu sich in die „große weiße Villa an einem Fluss“ (S. 8) geholt. Charlotte wird also schon im Rahmen als eine beeindruckende Persönlichkeit vorgestellt, die deutlich die Autorität im Haus hat. Ihre Enkelin Dörte charakterisiert sie mit dem Hinweis, dass sie die Villa, die Knete und das Sagen habe. (vgl. S. 20) Wir erfahren, dass sie Professorin für Paläontologie war und ein „Wissenschaftsfreak“ (S. 20) ist. Sie ist verwitwet, übernimmt die Verantwortung für Finanzierung und Wohlergehen der Hausbewohnerinnen und sorgt für das „Gerüst des Gemeinschaftslebens, [...] die geordneten Abläufe, [...] die alltäglichen Routinen, das unausgesprochene Regelwerk der Chefin.“ (S. 56f.) Zudem wacht sie über den Umgang der Frauen miteinander, weist z.B. Johanna auf ernste, aber sanfte Weise darauf hin, Nadine „nicht so hart anzugehen und auch die kleinen Spitzen gegen ihre Modeallüren zu unterlassen“ (S. 57), weil sie verstanden hat, dass Nadine sich vor den schlechten Nachrichten über ihre Erkrankung fürchtet. In ihrem Bestreben, eine freundliche Atmosphäre für das Miteinander im Haus zu schaffen, ist sie bei aller Rationalität doch fürsorglich. Sie betritt z.B. Johannas Zimmer leise, und berührt „sanft ihre Schulter“ (S. 18), weil sie wegen der Kopfhörer ihr Anklopfen nicht gehört hat, um darauf hinzuweisen, dass „Johanna die Ruferei irgendwann einstellen oder wenigstens reduzieren“ (S. 19) könnte, da sie alle Hausbewohnerinnen stört. Diese Fürsorge zeigt sich auch gegenüber Leonie, die sie „mit liebendem Zwang in die Villa geholt hatte“ (S. 32), um sie aus ihrer gewollten Einsamkeit in einer verdunkelten Wohnung herauszuholen. Gegenüber Dörte und Flocke, deren hoffnungslos verliebtem Freund, erweist sie sich als hellsichtige Person, die auf Anhieb erkennt, in welch blinde Abhängigkeit der Junge geraten ist und wie sehr ihre Enkelin diese Situation ausnutzt. Sie durchschaut das freche und egoistische Gebaren des Mädchens und analysiert es im Zusammenhang der Familiengeschichte, an der sie selbst beteiligt ist, als Ergebnis mangelnder Zuwendung. Ihre Klarsichtigkeit führt dazu, dass sie in natürlicher Autorität das Heft in der Hand hat, sich mit großer Wachheit durch die Räume der Villa bewegt und auf ihre Mitmenschen zugeht. Ihrer Enkelin setzt sie Grenzen und stellt Forderungen, die diese entgegen ihrer sonstigen Aufmüpfigkeit mit den Worten „Alles roger“ (S .21) akzeptiert. Auch ihre eindeutigen Verbote, z. B. fettige Pizza weder in der Bibliothek noch im Salon zu essen, werden trotz des beinahe autoritären Tones von Dörte befolgt. In der Gruppe der Frauen, die mit „ängstlichen Tieren“ (S. 105) verglichen werden, wirkt sie als Leitfigur. Dabei wahrt sie in allen Dingen Form und Haltung. Das Zimmer ihrer alle Formen missachtenden Enkelin betritt sie nur nach vorherigem Anklopfen und verliert keinen Ton über die höchst seltsame Dekoration, mit der das Mädchen das sonst gediegene Interieur verunstaltet hat. Die Forderung nach Haltung gilt auch für die anderen Bewohnerinnen der Villa. „Nimm dich zusammen: Disziplin, Haltung, Contenance“ (S. 32) verlangt sie von Leonie, die in ihrer Trauer versinkt. Ihre Autorität hat ein großbürgerliches Format, das sich auch in ihrem kulturellen Anspruch äußert. Sie besucht mit Leonie die Oper und anschließend ein Restaurant, das als „Traditionshaus“ (S. 27) ihren Vorstellungen von gehobener Küche genügt. Die in ein schlechtes Milieu abgerutschte Enkelin kann sie im örtlichen Gymnasium unterbringen, weil sie mit dem Schulleiter befreundet ist. Dieser anspruchsvolle Stil entspricht ihrem Lebenslauf als Professorin mit einer erfolgreichen Karriere. Dabei ist sie durchaus von Selbstreflexion geprägt und sieht die Situation der alten Frauen in der Villa mit selbstironischer Distanz. „Aber wahrscheinlich sind wir alle hier in der Villa auf diese oder jene Weise ermüdend. Erstarrt in unseren Schrullen.“ (S. 33) Das Nachdenken über Leben und Tod führt bei ihr zu selbstkritischen, auch bös-sarkastischen Einsichten über die Familie ihres Sohnes, die sie als geldgierig und undankbar darstellt, ungeduldig darauf bedacht, möglichst bald und viel von dem Erbe einzustecken, das sie von Charlotte erhoffen. Sie sind von der Angst besessen, Charlotte könnte vor ihrem Ableben noch ihr ganzes Geld verprassen. „Die würden mich, ohne mit der Wimper zu zucken, im Falle einer Demenz im kostengünstigsten Pflegeheim verenden lassen“ (S. 78) erklärt Charlotte sarkastisch. Aber sie erkennt auch klar ihren Anteil an der Entwicklung ihres Sohnes, den sie „zu einem Spießer verkrümmt“ (S. 78f.) sieht, der ihr „fremd geworden“ ist; sie weiß sehr wohl, dass sie, „als er jung war“, sich hätte „mehr um ihn kümmern müssen“, aber sie „war zu sehr mit [...] Wissenschaft beschäftigt.“ (S. 79) Gleiches gilt für ihre Enkelin Dörte, deren „künstliche Idiotensprache ebenso wie ihr idiotisches Benehmen“ sie als „Symptome einer Luxusverwahrlosung“ (S. 79) einordnet. Sie versteht sehr genau, dass dem Mädchen Zuneigung und liebevolle Begleitung fehlen, die sie aber meint, nicht geben zu können. „Man müsste sie mögen wollen. Aber auch mein Wollen kennt Grenzen.“ (S. 79) Man könnte dies schon als einen ersten Schritt im Loslassen von den Pflichten, der Verantwortung und Selbstdisziplin sehen, denen sich Charlotte ihr Leben lang unterworfen hat. Sich nicht in der Lage zu sehen, der Enkelin zu geben, was sie wirklich braucht, ist schon ein Hinweis auf die Veränderung Charlottes, die die festgefügte Form, in die sie sich ihr Leben lang gezwängt hat, aufbricht und sich endlich zu einer Güte gegen sich selber befreit, die sie vorher nicht gekannt hat. Als Besitzerin des Hauses und einer erheblichen Erbschaft hat sich Charlotte über lange Jahre auf die Vermögensverwaltung konzentriert und vertrauensvoll mit ihrem Finanzberater Rungholt zusammengearbeitet. Dabei hat sie allerdings in den letzten Jahren wegen großer anderer Belastungen dessen Aktivitäten weniger genau verfolgt. Nun erkennt sie mit Sorge die „Unstimmigkeiten in den Finanzen“ (S. 75), die sich als Betrug erweisen und zum finanziellen Ruin Charlottes und ihrer Gefährtinnen führen. „Der Kerl hat mein gesamtes Vermögen veruntreut, […] meine Unterschrift mehrfach gefälscht, mit den übelsten Tricks Unsummen in die eigene Tasche gewirtschaftet“ (S. 114f.). Das hat er ihr „kalt ins Gesicht gesagt. Da war ein Schlag fällig und nötig“ (S. 116) berichtet Charlotte ihren Freundinnen. Sie erschlägt den Mann, der sie und die Mitbewohnerinnen um ihre Lebensgrundlage gebracht hat, mit einem Schürhaken, gezielt und kühl geplant, nicht im Affekt. Sie nennt es eine „wohlüberlegte, böse, geplante Tat“ (S. 118), weil Rungholt mit seinem hinterlistigen Betrug und dem „hämisch vorgetragenen Geständnis“ (S. 119) ihre Menschlichkeit verbraucht habe. Dabei wird die Tat gleichsam weihevoll untermalt durch das Läuten der „tieftönenden Glocken des Doms zur sechsten Stunde“ (S. 119). Wegen ihres Handelns will Charlotte nur noch „im Düsteren […ihr] Wohlbehagen“ (S. 120) finden. Sie sieht sich als „eine Ausgestoßene“, die sich selbst „aus allen moralischen Verabredungen“ (S. 120), die sie auch für sich akzeptiert hatte, verabschiedet hat. Die Abgründigkeit ihrer Tat entspricht der Größe, zu der sie sich in ihrem Leben entwickelt hat, und sie überantwortet sich selbst „dem ägyptischen Gott der Auflösung der Finsternis und des Chaos“. (S. 120) Der Erzähler unterbricht nach dieser Wendung in mythische Größe zwei Absätze nur mit dem Wort „Pause“ (S. 120), was den Leser dazu veranlassen kann, die gesamte Überhöhung von Charlottes Tat in historische und mythische Größe als ironische Distanzierung zu begreifen. Zwar hat sie sich vom Korsett ihrer stets formvollendeten Haltung befreit und sagt ohne Reue von sich, dass sie noch nie so milde gegen sich selbst gestimmt gewesen und ganz bei sich angekommen sei - ein Gefühl, das sie nicht kannte (vgl. S. 117). In ihrer Selbsterkenntnis wird klar, dass sie sich selber nie wirklich geliebt hat, sie hat „immer nur getan, was getan werden musste, was ein klug gewähltes Ziel erforderlich machte“ (S. 117), so habe man sie erzogen. Aber sie sieht die Befreiung aus den Zwängen der Konvention auch als eine Richtungslosigkeit, der ihr Leben nun ausgeliefert ist. „Es gibt kein Ziel mehr. […] Jetzt bin ich für andere nur noch gefährlich.“ (S. 117) Die Zerstörung der Villa mit ihrem formvollendeten Lebensstil und ihren ästhetischen Schätzen sieht Charlotte als einen Moment der Explosion, in dem sie sich zum ersten Mal ganz lebendig und gegenwärtig fühlt. Sie erkennt, dass sie nie wirklich im Augenblick lebendig war, sondern immer nur „in den Figuren der Vorwegnahme“ (S. 129) gelebt hat. Charlottes Zerstörungswerk und ihre Selbsterkenntnis wird bedeutungsvoll überhöht, indem das von ihr verursachte Loch an der Wand mit dem „Sonnenemblem von Ludwig XIV“ (S. 129) verglichen wird. Von den mythischen Figuren ist Charlotte offenbar der Schwan zugeordnet, „seit alters eines der edelsten Tiere“ (S. 133), wie dieser von sich selbst sagt. Er verweist auf die Assoziationen, die von der Antike bis in die Neuzeit mit ihm verbunden sind und setzt sich als eine Art Alter Ego mit Charlottes Verfehlungen und missglückten Versuchen auseinander, das Leben als „Versuchsanordnung“ (S. 147) und „ständige Selbstüberprüfung unter dem Diktat der Pflichtgebote“ (S. 148) zu leben. Die Einsicht, dass sie weder sich selbst noch andere Menschen wirklich geliebt hat, ist als Resümee im Rückblick auf ein ganzes Leben, von dem Charlotte gedacht hatte, dass sie es eigentlich großartig im Griff gehabt habe, höchst bedauerlich. Dennoch verliert sie auch im Angesicht des Todes nicht ihre Haltung. Sie „stand aufrecht – erhobenes Haupt, vorgerecktes Kinn -, so wie sie gestanden hatte mit dem Schürhaken in der Hand“. (S. 151)

Johanna

Die Binnenerzählung wird eröffnet durch Johannas Figurenrede. Mit 82 Jahren ist sie wohl die älteste der Frauen, „weitgehend bettlägerig[ ]“, heißt es zu Beginn (S. 12), wobei sich später herausstellt, dass sie sehr wohl in der Lage ist, sich mit ihrem Rollator selbständig im Haus zu bewegen. Sie lebt schon seit ca. vier Jahren im Haus. Charlotte hat sie vor dem Pflegeheim gerettet (vgl. S. 19) Als ehemals berühmte, aber nun vergessene Schriftstellerin hat sie in der Villa noch einen Roman geschrieben, der bis auf den letzten Satz fertiggestellt ist.

Mit ihrem Ruf „Unerhört“ beginnt der eigentliche Roman. Durch ihre „scharfe Stimme“ (S. 11) ist es ein schneidender Ruf, „der zuweilen wie ein Fluch klang“ (S. 12). Dieses Rufen, mit dem sie den anderen Bewohnerinnen auf die Nerven geht, zeigt, dass Johanna durchaus noch nicht mit dem Leben abgeschlossen hat. Man hat vielmehr den Eindruck, sie will von ihrem Bett aus noch teilnehmen an der Welt, vor allem will sie gehört werden. Mit dem Rufen und ihrer Reaktion auf die Kritik daran erfüllt Johanna das Klischee der unzufriedenen, verbitterten Alten, die sich über alles aufregt, denn es ist ja nicht ersichtlich, wogegen sie gerade protestiert. Stattdessen belästigt und provoziert sie ihre Umgebung nicht nur mit den Rufen, sondern auch mit unpassenden und unsensiblen Bemerkungen rücksichtslos, sie „tat sich keinen Zwang mehr an“, (S. 12), sie will sich nicht mehr durch Normen und Konventionen einengen lassen.

Das Klischee der mürrischen, nörgeligen Alten wird auf der Ebene der Fiktion unterstützt durch die Reaktionen der Umwelt. Dörte sieht in ihr eine röhrende Furie, die immer rumkrakeelt, aber harmlos ist (vgl. S. 16 u. S. 20). Für Janina ist sie die Verrückte, der sie das Essen aufs Zimmer bringen muss, da sie sich von den anderen isoliert hat und ihr Zimmer kaum verlässt. Die Mitbewohnerinnen kritisieren das Rufen zum Teil stark, halten es aber aus, weil sie keinen Streit wollen. Auf Charlottes mahnende Worte reagiert Johanna ablehnend, (vgl. S. 19) auf Leonies Kritik mit Ironie. (vgl. S. 22)

Johanna will gehört werden und noch am Leben teilnehmen. Das geht vor allem aus der Verteidigung ihrer Aktivitäten im Internet gegenüber Charlotte hervor. Sie lässt sich zu einer euphorischen und geradezu pathetischen Beschreibung der Möglichkeiten hinreißen, die das Internet bietet. Es wird deutlich, dass sie ein Mittel gegen das Vergessenwerden sucht, sie sucht Öffentlichkeit und Anerkennung als Schriftstellerin. Bei ihren Aktivitäten im Internet hat sie das Gefühl, noch etwas bewirken zu können. So beschreibt sie z.B., wie sie sich verschiedene neue Identitäten im Internet verschafft. Dies bewirkt bei ihr das Gefühl: „Ich bin nur, wenn man mich wahrnehmen kann“ (S. 18). Das Internet scheint ihr sogar eine Möglichkeit des Weiterlebens nach dem Tod, eine Zukunft, zu bieten, wogegen sie das Leben in der Villa als „Vorform […ihres] Sarges“ sieht (S. 19). Johanna als Figur weist auf die Brüchigkeit des Stereotyps der mürrischen Alten hin und lässt den Leser ahnen, dass mehr und anderes hinter dem Protestruf „unerhört“ stecken könnte. Dafür spricht die satirische Übertreibung der Häufigkeit der Rufe zu Beginn. Auch Leonies Überlegungen, ob Johanna sich vielleicht mit dieser „elenden Ruferei irgendwie entlastete“ (S. 30) und es sich dabei um „eine verkürzte Schöpfungsanklage“ handelte, weisen in diese Richtung.

In dem Gespräch mit Charlotte wird deutlich, dass Johannas Aktivitäten im Internet eine Flucht vor der deprimierenden Gegenwart sind. Sie fühlt sich in der Villa eingeschlossen. Sie will sich nicht damit abfinden, dass es keine Zukunft mehr gibt, sie will sich nicht mit den Gedanken an den Tod befassen, sie will noch nicht sterben. Dies zeigt sich auch darin, dass sie den letzten Satz ihres Romans noch nicht schreiben will, denn solange dieser nicht geschrieben ist, kann sie nicht sterben, sagt sie gegenüber Leonie (S. 41). Indem sie so ihre Ängste vor dem Tod benennt, wird sie zur Philosophin für letzte Fragen.

Am Tag des Geschehens erscheint Johanna sehr zur Überraschung Leonies nach langer Zeit erstmals wieder auf ihre Gehhilfe gestützt im Salon. Sie sucht offensichtlich die Gesellschaft ihrer Mitbewohnerinnen. Diese Veränderung in ihrem Verhalten verweist auf einen inneren Wandel, sie beweist noch nicht, dass sie nun mitfühlender geworden wäre. Aber ihre Einstellung zum Internet hat sich verändert. Das zeigt sich in dem anschließenden Gespräch mit Leonie. Zwar erkennt sie nicht, dass Leonie an ihren Ausführungen nicht interessiert ist, sondern spricht erregt, dozierend und energisch auf sie ein. Sie geißelt die kritiklose Anpassung der Jugend an ein Schönheitsideal und den Maßstab der permanenten Leistungssteigerung und ist froh, nicht mehr an dem Konkurrenzkampf der Jungen teilnehmen zu müssen (vgl. S. 43f.) Sie will andererseits aber auch nicht alt sein. In den Gesprächen zeigt sich Johanna als sehr bewusste und genau beobachtende Analystin ihrer Zeit. Sie sieht das Internet plötzlich kritisch und erkennt, wie es das Leben der Menschen beschleunigt, so dass keine Zeit zum Atemholen und Nachdenken bleibt. (vgl. S. 46f.) Sie hat nun beschlossen, da nicht mehr mit zu machen. Die Zeiten, in denen sie sich das Zeitverlieren gestattet habe, erkennt sie nun als ihre besten Zeiten. Als Zeitverlieren (vgl. S. 48) sieht sie ziellos verbrachte Zeiten, die nicht einer bestimmten zweckgerichteten Aktivität gewidmet sind. Sie hat es jetzt aufgegeben, irgendetwas hinterher zu rennen, und kehrt in die Gemeinschaft der Frauen zurück.

Ihre Stimmung bessert sich durch diese Einsicht jedoch nicht. Sie sitzt finster, bissig, zusammengesunken in ihrem Sessel, heißt es. (vgl. S. 48) In einem Rückblick auf ihr Leben erfährt der Leser, dass in ihrer Literatur die hellen, schwebenden Töne vorherrschten, eine „Elfenprosa“ (S. 48), die jedoch nicht zu ihrem unruhigen, von Streit und Drogen beherrschten früheren Leben gepasst hatte. Es stellt sich die Frage: Wollte sie mit ihrer Literatur einen Gegenentwurf zu ihrem Leben schaffen, oder hat sie eine Rolle gespielt, um Anerkennung zu gewinnen? Für Johannas weitere Entwicklung sind nicht nur ihre Erkenntnisse über die Gefahren des Internet ausschlaggebend, sondern auch die Verzweiflung Nadines, nachdem diese von dem neuerlichen Ausbruch ihrer Krankheit erfahren hat. Nadines kämpferische Ansage, dass es ihr in Zukunft egal ist, was andere über sie denken oder reden, (vgl. S. 64) hat Johanna tief erschüttert. Sie ist der Auslöser für ihre Erinnerung an den einzigen Mann, den sie wirklich liebte und den sie verlassen hat, weil ihr das luxuriöse und abwechslungsreiche Leben an der Seite ihres Mannes, sowie die Anerkennung ihrer Literatur wichtiger waren als die Liebe. Der Panzer, den Johanna um sich aufgebaut hatte, hat Risse bekommen. (vgl. S. 65 u. S. 107) Sie geht auf ihr Zimmer, um den letzten Satz ihres Romans zu schreiben, ein Hinweis darauf, dass sie sich mit ihrer Situation und im Grunde mit der Endlichkeit, mit dem Tod, abgefunden hat.

Die hellsichtige Johanna ist die Erste, die die bevorstehende Veränderung ahnt, so orakelt sie „Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. [...] Da ist etwas im Gange!“ (S. 101). Ihr Versuch, die alarmistische Aussage durch weitere Übertreibung (Weltuntergang, Endzeit) zu parodieren, lässt Panik unter den Freundinnen entstehen. Auf Charlottes Bekenntnis, ihren Vermögensverwalter erschlagen zu haben, reagiert nur Johanna gefasst und fragt sachlich nach. Johanna solidarisiert sich sogleich mit Charlotte und verspricht mitzugehen, „[...w]ohin auch immer“ (S. 121). Bei der dann folgenden Abrechnung mit dem alten Leben und seinem Lebensraum ist Johanna „abgründig müde“ (S. 122) und gesteht, dass sie sich schon länger nicht mehr vorstellen konnte, dass ihr Roman in irgendeiner Weise von Bedeutung wäre, d.h. sie verabschiedet sich von ihrer Autoren-Rolle. Sie bleibt aber der Literatur verbunden, indem sie Hölderlin zitiert („‘April und Mai und Julius sind ferne/ Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne.‘“) (S. 123) Nach der Zerstörungsorgie formuliert Johanna deren Fazit ebenfalls mit literarischem Bezug im weiteren Sinne: „Jetzt ist die Zeit gekommen, da der Märchensatz ’Etwas Besseres als den Tod finden wir überall’ seine Trostmacht verloren hat“ (S. 130), es gibt nichts mehr zu hoffen.

Johanna ist im Finale als phantastische Figur der kleine rundliche Mann zugeordnet, den sie am Nachmittag erstmals unter ihrem Fenster promenierend sieht und der ihr bezüglich Kleidung und Gang aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Sie ordnet ihn zuerst den 30er Jahren zu und der Croisette , dann findet sie ihn eher in den Bois de Bologne im Jahr 1913 passend. Als er sie grüßt, indem er seinen Hut zieht und „einen kleinen albernen Hopser“ (S. 59) macht, zweifelt Johanna an ihrer Wahrnehmung.

Besagter rundlicher Herr stellt sich abends beim Besuch der merkwürdigen Gäste als Monsieur Charlus vor (vgl. S. 142). Ein Baron Charlus kommt in Prousts „ Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ im 4. Band im Kapitel „Sodom und Gomorrha“ vor. Reales Vorbild soll Montesquieu gewesen sein. Johanna kennt selbstverständlich diese literarische Figur und bemängelt als Kritikerin, die sie nun einmal ist: „Der wurde aber ganz anders beschrieben. Da ist keinerlei Ähnlichkeit mit den Bildvorgaben seines Schöpfers.“ (S. 142) Charlus kontert schlagfertig: „[…] ich tauche zu den inneren Bildern der Leser. Im Moment habe ich die Gestalt, die mir eine vierundachtzigjährige Leserin im Jahr 1953 gab. Und da sie auch schon sehr betagt sind ….“ (S. 142) Als „Virtuose im Changieren zwischen dem Virtuellen und dem Realen“ (S.144) hat er in Johannas noch unveröffentlichtem Roman „herumgelesen“, wie er sagt, worauf sie – in einem Rückfall in „ganz weltliche Autoreneitelkeit“ (S. 144) – sein Urteil erbittet. Charlus äußert sich positiv, meint aber, sie hätte sich und die andern Frauen liebevoller darstellen können. Konkret wirft er Johanna vor, dass sie Liebe und Literatur verraten habe. Das bezieht sich darauf, dass sie dem einzigen Mann, den sie wirklich geliebt hat, nicht folgte. Der Verrat an der Literatur wird einerseits darauf bezogen, dass sie ihre hohen Ideale aufgegeben hat („Aufbruch ins Undenkbare“ S. 145), andererseits darauf, dass ihre Literatur und ihr Leben nicht zusammenpassten. Gegen letzteren Vorwurf wehrt sich Johanna, da man Leben und Werk nicht „verpantschen“ (S. 145) dürfe - was sie selbst aber in ihrem Roman über die alten Frauen in der Villa getan hat. Die allgemeine Aussage „In jedem Leben ist ein Verrat“ (S. 143) relativiert den Vorwurf gegenüber Johanna allerdings, da Verrat als im Leben unvermeidbar, als Teil jedes Lebens erscheint, ebenso wie Lieblosigkeit.

Johanna bereut ihre Lieblosigkeiten gegenüber ihren Mitbewohnerinnen, aber sie braucht offenbar doch Hilfe, um einzusehen, dass sie sich ein falsches Bild von sich selbst gemacht hat: „die knurrige Alte, die das Urteil der Welt nicht mehr braucht.“ (S.145) Was sie aber braucht, ist die Welt der Villa, d.h. ihre Mitmenschen, ihre Schicksalsgenossinnen. Ebenso benötigt sie offenbar Monsieur Charlus, ihr literarisches Alter Ego, für literaturwissenschaftliche Betrachtungen (z.B. über den Bezug Autor-Werk oder Autor-Leser, über das Wesen der Fiktion u.a.), aber auch für ihre Selbsterkenntnis, die schon vorher begonnen hatte. Er ist wie ein innerer Gesprächspartner, eine Kopfgeburt, ein Widerpart, der auch nicht immer Recht haben muss, aber Teil ihrer Reflexionen ist und sie dazu bringt, den ungelebten Teil ihres Lebens zu betrachten. Sein und Johannas Lächeln am Schluss der Unterhaltung wecken Assoziationen zur Erlösung durch das Jüngste Gericht, erinnern an den Seelenführer, Psychopompos, der sie sanft lächelnd in den Tod geleitet. Religiöse Sehnsüchte und Hoffnung auf Hilfe und Begleitung auf der letzten Strecke werden in ihm persifliert. Vielleicht ist der Dialog mit ihm auch nur ein Bild für einen Zuwachs an Klarheit, Selbsterkenntnis und Selbstvergewisserung, die ihr Trost geben.

Anmerkungen

  1. Marie Schmidt, Weibersterben, in: DIE ZEIT N°32 vom 10.08.2013
  2. Alle Seitenangaben beziehen sich auf: Silvia Bovenschen, Nur Mut, Frankfurt/M. 2013 (S.Fischer Verlag)