Tanja Dückers, Der längste Tag des Jahres: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 15. Februar 2016, 13:33 Uhr

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Einleitung (bearbeitet von Ilse Noy)

Am 21. 06. 2003, dem astronomisch längsten Tag des Jahres, ist Paul Kadereit, Imker und ehemals Inhaber einer Zoohandlung in Fürstenfeldbruck, mit 62 Jahren überraschend gestorben. Die Handlung des Romans zeigt, wie seine fünf erwachsenen Kinder durch die Mutter die Todesnachricht erhalten. In den fünf Kapiteln des Romans werden nacheinander Bennie, Sylvia, Anna, David und Thomas in ihrer Reaktion auf den Tod des Vaters gezeigt. In ihrer Auseinandersetzung mit der unerwarteten Todesnachricht und in den dadurch wach gerufenen Erinnerungen werden die unterschiedlichen Beziehungen der Geschwister zu dem dominanten Vater und der in seinem Schatten stehenden Mutter, aber auch untereinander deutlich. Die Analysen der einzelnen Romanfiguren werden untersuchen, wie die Geschwister, aber auch die im Roman nur indirekt auftretenden Figuren von Vater und Mutter, jeweils ihre Position innerhalb des Familiengefüges gemäß einem genealogischen Generationenverständnis einnehmen, inwieweit sie synchron ihrer Generation zuzuordnen sind, welche Balance zwischen Bedingtheit durch Geschichte, Gesellschaft und Familie einerseits und Autonomie andererseits die jeweiligen Figuren bisher gefunden haben und wie sich dieses Gefüge möglicherweise in der Zukunft ändern wird.

Figurenanalyse von Bennie (bearbeitet von Monika Hartkopf)

Der als viertes Kind der Eheleute Kadereit geborene Sohn Bennie, der zum Zeitpunkt der Handlung ein Mann von Mitte 30 sein müsste, wird im 1. Kapitel in der Außensicht seiner Freundin Nana dargestellt, aus deren personaler Perspektive erzählt wird, er ist also anders als seine Geschwister in den übrigen Kapitel nicht Perspektivfigur. Der Grund für die Wahl dieser Perspektive könnte in der Expositions-Funktion des 1. Kapitels liegen, denn durch die außerhalb der Familie stehende Freundin Nana wird auch der Leser von außen an die Familie herangeführt statt sofort mit den Augen von Bennie in das Geschehen verwickelt zu werden. Da das 1.Kapitel gleichzeitig das kürzeste des Romans ist und Bennie darin keineswegs im Vordergrund steht, erfahren wir als Leser von ihm weniger als von den übrigen Geschwistern. Vor allem fehlt der Blick in sein Inneres, wir erleben ihn nur so, wie er auf andere Figuren wirkt. Während Nana und Bennie dabei sind, ihre gerade bezogene Wohnung einzurichten und den von Bennies Eltern geschickten alten Kleiderschrank neu zu streichen, erfahren wir durch Nanas Nachdenken über Bennie, dass er nach der Entlassung als Journalist einer großen deutschen Zeitung eine Galerie eröffnet hat, Malkurse in einem Jugendclub anbietet und ein Stadtteilmagazin gegründet hat. Nana schätzt an ihm, dass er „nicht zu Trübsal neigt[…]“, und seine „spielerische und phantasievolle Art“ (S. 24)<ref>Alle Seitenangaben beziehen sich auf Tanja Dückers, Der längste Tag des Jahres, Berlin 2007 (Taschenbuchausgabe)/ref>, zu der auch sein Luftballongeschäft passt, das „kurze Zeit boomte“ (vgl. S. 25), dann aber der billigeren Konkurrenz weichen musste. Bennie beschreibt selbst sein Verhältnis zur Familie als distanziert (vgl. S. 30), sein Wohnort Berlin scheint sowohl Ursache als auch Folge seiner Distanz zu sein. Nach dem Telefonat mit seiner Schwester Sylvia, die ihm die Nachricht vom Tod des Vaters übermittelt, tut er das, „was er in jeder schwierigen Situation als erstes tat: sich eine anzünden“ (S. 28), dann setzt er zunächst wortlos das Streichen des Kleiderschrankes fort, der sich damit wie ein roter Faden durch das 1. Kapitel zieht und gleichzeitig die Thematik des gesamten Romans symbolisieren kann. Der Kleiderschrank, den die Autorin auch dadurch betont, dass sie ihn als Kapitelüberschrift verwendet, verkörpert das Alte, das Familienerbe, das nun in den Besitz der nächsten Generation übergeht, die es aufnimmt, aber auch verändert, vor allem aber in das neue, eigene Leben integriert. Dazu passt, dass Bennie erst im weiteren Verlauf des Streichens schließlich Nana recht gefasst berichtet, was er durch den Anruf der Schwester erfahren hat. Die Tatsache, dass er nachts ruhig schläft, während Nana schlaflos grübelt und wieder aufsteht, kann ein Hinweis darauf sein, dass Bennie sein Leben nach dem Tod des Vaters unverändert fortsetzen wird und er kaum Trauer empfindet. Als Gründe für das distanzierte Verhältnis zum Vater nennt Bennie seiner Freundin eine Reihe von Fragen (S. 31), die sein Unverständnis und seine Missbilligung der Lebensweise des Vaters zeigen. Einer offenen Auseinandersetzung mit dem Vater ist Bennie aber aus dem Weg gegangen, stattdessen verhält er sich bei den seltenen Treffen der Familie angepasst und vermeidet gezielt Diskussionen. Nana erlebt ihn daher im „Kreis seiner Familie […] so anders […] viel unentschlossener, ausweichender, irgendwie passiver als zu Hause“ (S. 27). Die älteste Schwester Sylvia sieht in Bennie das Lieblingsgeschwister, sie mag ihn, weil er ihr anders als die übrigen Geschwister keine Vorwürfe macht, sondern „stets freundlich und gut aufgelegt war […] immer fiel ihm irgend etwas Nettes ein“ (S. 40). Auch sie stellt jedoch fest, dass seit seinem Weggang nach Berlin Entfremdung eingetreten ist und er „sich kaum noch für den Rest der Familie (interessierte)“ (S. 40). Außerdem missbilligt sie an ihm mangelndes Verantwortungsbewusstsein, das Fehlen von Selbstkritik und Schuldgefühlen (vgl. S.56). Anna, die zweite Schwester, hat Bennie gegenüber permanent ein schlechtes Gewissen, da sie ihn wegen seiner Geldsorgen und ungesicherten Arbeit bemitleidet (vgl. S. 76), praktische Konsequenzen haben ihre Gewissensbisse allerdings nicht, denn sie ruft ihn nicht an, geschweige denn dass sie ihn in Berlin besucht hätte. David beschäftigt sich so gut wie gar nicht mit seinem jüngeren Bruder, der offenbar für ihn wenig Bedeutung hat. Er sieht in ihm den auffallend gut aussehenden Mann und betrachtet ihn damit ganz äußerlich. Zwischen Bennie und seinem fünf Jahre jüngeren Bruder Thomas kann der Leser schon vor dem Kontakt der beiden die Parallele feststellen, dass sie sich mit Kunst beschäftigen. Thomas bewundert Bennie: „Der hatte wenigstens den Mut gehabt, nach Berlin zu ziehen“ (S. 158). Bei seinem ersten Kontakt zur Familie nach der schriftlichen Nachricht vom Tod des Vaters entscheidet sich Thomas für ein Telefonat mit Bennie, in dem er den „Luftikus, der immer nett war“ (S. 199) sieht. Außerdem erscheint ihm Bennie näher zu sein aufgrund seiner Ferne zur Familie, speziell zum Vater: „Der Zweitjüngste. Der zweitfernste Planet.“ (S. 199) Dass ihn sein spontanes Gefühl nicht getrogen hat, beweist dann das auf 8 Seiten dargestellte Telefongespräch zwischen den Brüdern, die sofort den richtigen Ton treffen und ins Gespräch kommen, ja sogar trotz des ernsten Anlasses miteinander lachen können. Schnell entsteht der Plan zu einem gemeinsamen Fotoprojekt und einem Wiedersehen, allerdings wegen der beiderseitigen Geldsorgen ohne konkrete Chance zur Realisierung.

Anmerkungen