Tanja Dückers, Der längste Tag des Jahres

Aus Literarische Altersbilder

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Einleitung (bearbeitet von Ilse Noy)

Am 21. 06. 2003, dem astronomisch längsten Tag des Jahres, ist Paul Kadereit, Imker und ehemals Inhaber einer Zoohandlung in Fürstenfeldbruck, mit 62 Jahren überraschend gestorben. Die Handlung des Romans zeigt, wie seine fünf erwachsenen Kinder durch die Mutter die Todesnachricht erhalten. In den fünf Kapiteln des Romans werden nacheinander Bennie, Sylvia, Anna, David und Thomas in ihrer Reaktion auf den Tod des Vaters gezeigt. In ihrer Auseinandersetzung mit der unerwarteten Todesnachricht und in den dadurch wach gerufenen Erinnerungen werden die unterschiedlichen Beziehungen der Geschwister zu dem dominanten Vater und der in seinem Schatten stehenden Mutter, aber auch untereinander deutlich. Die Analysen der einzelnen Romanfiguren werden untersuchen, wie die Geschwister, aber auch die im Roman nur indirekt auftretenden Figuren von Vater und Mutter, jeweils ihre Position innerhalb des Familiengefüges gemäß einem genealogischen Generationenverständnis einnehmen, inwieweit sie synchron ihrer Generation zuzuordnen sind, welche Balance zwischen Bedingtheit durch Geschichte, Gesellschaft und Familie einerseits und Autonomie andererseits die jeweiligen Figuren bisher gefunden haben und wie sich dieses Gefüge möglicherweise in der Zukunft ändern wird.

Figurenanalyse von Bennie (bearbeitet von Monika Hartkopf)

Der als viertes Kind der Eheleute Kadereit geborene Sohn Bennie, der zum Zeitpunkt der Handlung ein Mann von Mitte 30 sein müsste, wird im 1. Kapitel in der Außensicht seiner Freundin Nana dargestellt, aus deren personaler Perspektive erzählt wird, er ist also anders als seine Geschwister in den übrigen Kapitel nicht Perspektivfigur. Der Grund für die Wahl dieser Perspektive könnte in der Expositions-Funktion des 1. Kapitels liegen, denn durch die außerhalb der Familie stehende Freundin Nana wird auch der Leser von außen an die Familie herangeführt statt sofort mit den Augen von Bennie in das Geschehen verwickelt zu werden. Da das 1.Kapitel gleichzeitig das kürzeste des Romans ist und Bennie darin keineswegs im Vordergrund steht, erfahren wir als Leser von ihm weniger als von den übrigen Geschwistern. Vor allem fehlt der Blick in sein Inneres, wir erleben ihn nur so, wie er auf andere Figuren wirkt. Während Nana und Bennie dabei sind, ihre gerade bezogene Wohnung einzurichten und den von Bennies Eltern geschickten alten Kleiderschrank neu zu streichen, erfahren wir durch Nanas Nachdenken über Bennie, dass er nach der Entlassung als Journalist einer großen deutschen Zeitung eine Galerie eröffnet hat, Malkurse in einem Jugendclub anbietet und ein Stadtteilmagazin gegründet hat. Nana schätzt an ihm, dass er „nicht zu Trübsal neigt[…]“, und seine „spielerische und phantasievolle Art“ (S. 24)[1], zu der auch sein Luftballongeschäft passt, das „kurze Zeit boomte“ (vgl. S. 25), dann aber der billigeren Konkurrenz weichen musste. Bennie beschreibt selbst sein Verhältnis zur Familie als distanziert (vgl. S. 30), sein Wohnort Berlin scheint sowohl Ursache als auch Folge seiner Distanz zu sein. Nach dem Telefonat mit seiner Schwester Sylvia, die ihm die Nachricht vom Tod des Vaters übermittelt, tut er das, „was er in jeder schwierigen Situation als erstes tat: sich eine anzünden“ (S. 28), dann setzt er zunächst wortlos das Streichen des Kleiderschrankes fort, der sich damit wie ein roter Faden durch das 1. Kapitel zieht und gleichzeitig die Thematik des gesamten Romans symbolisieren kann. Der Kleiderschrank, den die Autorin auch dadurch betont, dass sie ihn als Kapitelüberschrift verwendet, verkörpert das Alte, das Familienerbe, das nun in den Besitz der nächsten Generation übergeht, die es aufnimmt, aber auch verändert, vor allem aber in das neue, eigene Leben integriert. Dazu passt, dass Bennie erst im weiteren Verlauf des Streichens schließlich Nana recht gefasst berichtet, was er durch den Anruf der Schwester erfahren hat. Die Tatsache, dass er nachts ruhig schläft, während Nana schlaflos grübelt und wieder aufsteht, kann ein Hinweis darauf sein, dass Bennie sein Leben nach dem Tod des Vaters unverändert fortsetzen wird und er kaum Trauer empfindet. Als Gründe für das distanzierte Verhältnis zum Vater nennt Bennie seiner Freundin eine Reihe von Fragen (S. 31), die sein Unverständnis und seine Missbilligung der Lebensweise des Vaters zeigen. Einer offenen Auseinandersetzung mit dem Vater ist Bennie aber aus dem Weg gegangen, stattdessen verhält er sich bei den seltenen Treffen der Familie angepasst und vermeidet gezielt Diskussionen. Nana erlebt ihn daher im „Kreis seiner Familie […] so anders […] viel unentschlossener, ausweichender, irgendwie passiver als zu Hause“ (S. 27). Die älteste Schwester Sylvia sieht in Bennie das Lieblingsgeschwister, sie mag ihn, weil er ihr anders als die übrigen Geschwister keine Vorwürfe macht, sondern „stets freundlich und gut aufgelegt war […] immer fiel ihm irgend etwas Nettes ein“ (S. 40). Auch sie stellt jedoch fest, dass seit seinem Weggang nach Berlin Entfremdung eingetreten ist und er „sich kaum noch für den Rest der Familie (interessierte)“ (S. 40). Außerdem missbilligt sie an ihm mangelndes Verantwortungsbewusstsein, das Fehlen von Selbstkritik und Schuldgefühlen (vgl. S.56). Anna, die zweite Schwester, hat Bennie gegenüber permanent ein schlechtes Gewissen, da sie ihn wegen seiner Geldsorgen und ungesicherten Arbeit bemitleidet (vgl. S. 76), praktische Konsequenzen haben ihre Gewissensbisse allerdings nicht, denn sie ruft ihn nicht an, geschweige denn dass sie ihn in Berlin besucht hätte. David beschäftigt sich so gut wie gar nicht mit seinem jüngeren Bruder, der offenbar für ihn wenig Bedeutung hat. Er sieht in ihm den auffallend gut aussehenden Mann und betrachtet ihn damit ganz äußerlich. Zwischen Bennie und seinem fünf Jahre jüngeren Bruder Thomas kann der Leser schon vor dem Kontakt der beiden die Parallele feststellen, dass sie sich mit Kunst beschäftigen. Thomas bewundert Bennie: „Der hatte wenigstens den Mut gehabt, nach Berlin zu ziehen“ (S. 158). Bei seinem ersten Kontakt zur Familie nach der schriftlichen Nachricht vom Tod des Vaters entscheidet sich Thomas für ein Telefonat mit Bennie, in dem er den „Luftikus, der immer nett war“ (S. 199) sieht. Außerdem erscheint ihm Bennie näher zu sein aufgrund seiner Ferne zur Familie, speziell zum Vater: „Der Zweitjüngste. Der zweitfernste Planet.“ (S. 199) Dass ihn sein spontanes Gefühl nicht getrogen hat, beweist dann das auf 8 Seiten dargestellte Telefongespräch zwischen den Brüdern, die sofort den richtigen Ton treffen und ins Gespräch kommen, ja sogar trotz des ernsten Anlasses miteinander lachen können. Schnell entsteht der Plan zu einem gemeinsamen Fotoprojekt und einem Wiedersehen, allerdings wegen der beiderseitigen Geldsorgen ohne konkrete Chance zur Realisierung.

Figurenanalyse von Sylvia (bearbeitet von Barbara Maubach)

Die in der Erzählgegenwart 41-jährige Sylvia (ältestes Kind der Familie) erhält die Nachricht vom Tod des Vaters durch einen Anruf ihrer Mutter, während sie im Auto mit ihrer Tochter Miriam am Steuer unterwegs ist, in einer höchst angespannten Situation also, da Miriam noch nicht den Führerschein hat, sondern ihrer Mutter diese illegale Übungsstunde abgerungen hat. Die Szene zeigt Sylvia als eine unfähige Mutter, die sich gegen ihre spätpubertierende Tochter nicht durchsetzen kann und ihr gegenüber Verachtung und Aggression empfindet. Trotzdem überlegt Sylvia, wie sie der Tochter den Tod des Großvaters mitteilen soll, wozu es aber nicht kommt. Sie ahnt, dass Miriam dieser Tod nicht sehr nahe gehen wird, und hat „Angst vor Miriams mangelnder emotionaler Anteilnahme“ (S.40). Sylvia braucht aber in dieser für sie sehr schmerzlichen Situation einen Menschen, der sie tröstet. Denn sie ist von den Kadereit-Kindern diejenige, die wirklich an ihrem Vater hängt, an den sie in ihrer Erinnerung immer als „Vati“ (z.B. S.43) denkt und der „der wichtigste Mensch in ihrem Leben“ (S.40) war. In einem Erinnerungsrückblick erfährt der Leser von Sylvias besonderer Beziehung zum Vater aufgrund seiner besonderen Zuwendung ihr gegenüber in Kindheit und Jugend. Sie litt als Kind an einem Pfeifferschen Drüsenfieber, das sie lange Zeit ans Bett fesselte und sich später zu chronischem Asthma entwickelte, von dem sie weiß, dass es psychosomatische Anteile hat. „Natürlich war ihre Mutter für sie da, aber sie war immer nett zu allen […] Vater war da ganz anders, der sparte sich seine Nettigkeit auf […] hielt […] ihre Hand und legte ein kühles Tuch auf ihre heiße Stirn.“(S.42) Sylvia gewinnt über ihre Krankheit eine besondere Nähe zu ihren Eltern, sie steht im Mittelpunkt und zieht in der Konkurrenzsituation mit den Geschwistern die Aufmerksamkeit, besonders die des Vaters, auf sich. Im Gegenzug dazu sind ihre Geschwister dann gar nicht nett zu ihr, sondern nutzen ihre aus der Krankheit resultierende Schwäche aus, indem sie sie z.B. im Schwimmbad ins Becken ins Becken stoßen. Die angespannte Beziehung zu den Geschwistern hat sich bis ins Erwachsenenalter durchgehalten. Sylvia kann außer Bennie, dem sogar zu Miriam etwas Nettes einfällt (vgl. S.40) und den sie deswegen schätzt, keines ihrer Geschwister leiden. „Die machten ihr nur Vorhaltungen über ihre Ehe oder über Miriam“ (S.41), während Sylvia im Gegenzug in ihnen „Ignoranten, Dumpfbacken, allesamt“ (S.59) sieht. Sylvia hat während ihrer Krankheit manipulative Tendenzen entwickelt, die sie ihr Leben lang einsetzt. Um den Vater an ihr Bett zu holen, trinkt sie z. B. die notwendige Flüssigkeit nur, wenn er sie bringt. Sie gewinnt ihn auch dazu, sich an ihr Bett zu setzen und ihr „stundenlang von der Wüste und ihren geheimnisvollen Bewohnern“ (S.43) zu erzählen. Die Zuwendung des Vaters hat letztlich zur Folge, dass das Kind „nicht zurück in die Schule, zu den anderen Kindern, weg von ihrem Vater, fort von diesen geheimnisvollen Zwiegesprächen, nicht erwachsen werden wollte.“(S.44) Die daraus erwachsende Einsamkeit durchzieht wohl auch ihr ganzes Leben. Beim Tod des Vaters sehnt sie sich nach Trost, ohne einen Menschen zu haben, der ihn ihr geben würde. Wie in patriarchalischen Gesellschaften üblich tauscht Sylvia früh die Rolle der den Vater bewundernden Tochter gegen die Rolle der sich am Ehemann orientierenden Frau und Mutter. Sie wird bereits mit 19 Jahren erstmals schwanger und heiratet ihren ersten Freund Jan, aus dem ein gut verdienender Immobilienhändler wird. Sylvia blickt zu ihm auf und möchte von ihm beschützt werden. Daher mag sie es nicht, wenn er sie manchmal nicht „Kleines“ nennt, sondern ihrem angstfreien Umgang mit Vogelspinnen Bewunderung entgegenbringt. Ihrem Ehemann gegenüber entwickelt Sylvia völlige Anpassung und Unterwürfigkeit. Sie akzeptiert seine ständige Untreue und übernimmt die dienende Hausfrauenrolle, um ihn bei Laune zu halten. Die Beschreibung des samstäglichen Rituals – Schlemmerfrühstück mit anschließendem Beischlaf –, zu dem sie von der Fahrstunde mit der Tochter nach Hause zurückkehrt, wirkt wie eine Karikatur. Während Jan in sich wiederholendem Rhythmus eine Reihe von stimulierenden Übungen abspult, steuert Sylvia mit Distanz und emotionslos den Ablauf des ehelichen Verkehrs. „Sie wusste, dass es ihr nicht schwer fallen würde, ihn ausgerechnet heute zu bedienen“, wohl wissend, dass „andere Frauen sich von ihrem Mann [...] verwöhnen lassen würden.“(S.49 f.) Sie manipuliert ihren Mann vom Frühstück bis zum Beischlaf und fühlt sich dabei durchaus stark, „nicht auf seine Unterstützung angewiesen.“(S.50)

Die früh erworbene Fähigkeit, ihre Schwäche und Kindhaftigkeit manipulativ einzusetzen, um Macht auszuüben, durchzieht auch Sylvias Verhalten den Geschwistern gegenüber, wenn sie taktiert, in welcher Reihenfolge sie ihnen den Tod des Vaters mitteilen soll. Gleichzeitig ist der Versuch, das Weitersagen der traurigen Botschaft hinauszuzögern oder gar zu vermeiden ein von ihr selbst durchschauter Verdrängungsmechanismus, den sie schon seit ihrer Kindheit und Jugend kennt. „Als sie schwanger wurde: niemandem etwas davon erzählen, niemanden einweihen, damit es nicht ‚wirklich wahr ist’“. (S.61) Dabei ist Sylvias Reaktion auf den Tod des Vaters ambivalent. Einerseits empfindet sie wirklich Trauer und ist erschrocken beim Anruf der Mutter. Ihre Sehnsucht nach Trost in dieser Situation ist glaubwürdig und das Weinen gemeinsam mit ihrer Mutter am Telefon ein Zeichen für den Schmerz über den Verlust des Vaters. Parallel dazu laufen andererseits ihre Überlegungen, bei wem die Mutter den Lebensabend verbringen wird mit allen Konsequenzen auch finanzieller Belastung, die das mit sich bringen würde. Sylvia ist im Grunde nicht erwachsen geworden und unfähig, ihre eigenen Wünsche klar zu erkennen und authentische Gefühle zu entwickeln. Ihr Schmerz um den Verlust des Vaters hat Anteile von Trauer und wird zugleich genährt von den Kleinmädchen – Erinnerungen an die schönste Zeit in ihrem Leben. Ihrer Tochter gegenüber ist sie unsicher, konfliktscheu, nicht in der Lage Grenzen zu setzen. Und da sie kein ausgeprägtes Selbstbewusstsein hat, kann sie ihr auch kein Vorbild sein. In der Geschwisterreihe fühlt sie sich zurückgesetzt, ist aber auf steter Suche nach Liebe, die sie auch auf manipulative Weise zu gewinnen sucht. Sie bleibt in ihrer Kleinmädchen – Pose, flieht ins Infantile und lebt in einer Scheinwelt. So endet denn auch ihr Versuch, sich an den Vater zu erinnern und seine Gesichtszüge ins Gedächtnis zu rufen, damit, dass „alles, was sich vor ihren Lidern ausbreitete, [...] ein dichter , schweinchenfarbener Teppich“(S.61) war, mit dem sie ihren Flur ausgelegt hat. Die Figur der Sylvia, die teilweise an eine Karikatur erinnert, erlaubt dem Leser kaum Identifikation, sie provoziert allenfalls ambivalente Gefühle, die zwischen Ablehnung und Mitgefühl schwanken, das sich aber kaum durchhält. In der Geschwisterreihe der Kadereits, bei der in allen Figuren ähnliche Spannungen angelegt sind, kommt sie am schlechtesten weg. Sie erscheint als die am wenigsten sympathische und am meisten familiengeschädigte Figur; im Sinne Markus Neuschäfers[2] ein sehr bedingtes Selbst.


Anmerkungen

  1. Alle Seitenangaben beziehen sich auf Tanja Dückers, Der längste Tag des Jahres, Berlin 2007 (Taschenbuchausgabe)
  2. vgl. Markus Neuschäfer, Das bedingte Selbst: Familie, Identität und Geschichte im zeitgenössischen Generationenroman, Berlin 2013