Tanja Dückers, Der längste Tag des Jahres

Aus Literarische Altersbilder

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Einleitung (bearbeitet von Ilse Noy)

Am 21. 06. 2003, dem astronomisch längsten Tag des Jahres, ist Paul Kadereit, Imker und ehemals Inhaber einer Zoohandlung in Fürstenfeldbruck, mit 62 Jahren überraschend gestorben. Die Handlung des Romans zeigt, wie seine fünf erwachsenen Kinder durch die Mutter die Todesnachricht erhalten. In den fünf Kapiteln des Romans werden nacheinander Bennie, Sylvia, Anna, David und Thomas in ihrer Reaktion auf den Tod des Vaters gezeigt. In ihrer Auseinandersetzung mit der unerwarteten Todesnachricht und in den dadurch wach gerufenen Erinnerungen werden die unterschiedlichen Beziehungen der Geschwister zu dem dominanten Vater und der in seinem Schatten stehenden Mutter, aber auch untereinander deutlich. Die Analysen der einzelnen Romanfiguren werden untersuchen, wie die Geschwister, aber auch die im Roman nur indirekt auftretenden Figuren von Vater und Mutter, jeweils ihre Position innerhalb des Familiengefüges gemäß einem genealogischen Generationenverständnis einnehmen, inwieweit sie synchron ihrer Generation zuzuordnen sind, welche Balance zwischen Bedingtheit durch Geschichte, Gesellschaft und Familie einerseits und Autonomie andererseits die jeweiligen Figuren bisher gefunden haben und wie sich dieses Gefüge möglicherweise in der Zukunft ändern wird.

Figurenanalyse von Bennie (bearbeitet von Monika Hartkopf)

Der als viertes Kind der Eheleute Kadereit geborene Sohn Bennie, der zum Zeitpunkt der Handlung ein Mann von Mitte 30 sein müsste, wird im 1. Kapitel in der Außensicht seiner Freundin Nana dargestellt, aus deren personaler Perspektive erzählt wird, er ist also anders als seine Geschwister in den übrigen Kapitel nicht Perspektivfigur. Der Grund für die Wahl dieser Perspektive könnte in der Expositions-Funktion des 1. Kapitels liegen, denn durch die außerhalb der Familie stehende Freundin Nana wird auch der Leser von außen an die Familie herangeführt statt sofort mit den Augen von Bennie in das Geschehen verwickelt zu werden. Da das 1.Kapitel gleichzeitig das kürzeste des Romans ist und Bennie darin keineswegs im Vordergrund steht, erfahren wir als Leser von ihm weniger als von den übrigen Geschwistern. Vor allem fehlt der Blick in sein Inneres, wir erleben ihn nur so, wie er auf andere Figuren wirkt.

Während Nana und Bennie dabei sind, ihre gerade bezogene Wohnung einzurichten und den von Bennies Eltern geschickten alten Kleiderschrank neu zu streichen, erfahren wir durch Nanas Nachdenken über Bennie, dass er nach der Entlassung als Journalist einer großen deutschen Zeitung eine Galerie eröffnet hat, Malkurse in einem Jugendclub anbietet und ein Stadtteilmagazin gegründet hat. Nana schätzt an ihm, dass er „nicht zu Trübsal neigt[…]“, und seine „spielerische und phantasievolle Art“ (S. 24)[1], zu der auch sein Luftballongeschäft passt, das „kurze Zeit boomte“ (vgl. S. 25), dann aber der billigeren Konkurrenz weichen musste.

Bennie beschreibt selbst sein Verhältnis zur Familie als distanziert (vgl. S. 30), sein Wohnort Berlin scheint sowohl Ursache als auch Folge seiner Distanz zu sein. Nach dem Telefonat mit seiner Schwester Sylvia, die ihm die Nachricht vom Tod des Vaters übermittelt, tut er das, „was er in jeder schwierigen Situation als erstes tat: sich eine anzünden“ (S. 28), dann setzt er zunächst wortlos das Streichen des Kleiderschrankes fort, der sich damit wie ein roter Faden durch das 1. Kapitel zieht und gleichzeitig die Thematik des gesamten Romans symbolisieren kann. Der Kleiderschrank, den die Autorin auch dadurch betont, dass sie ihn als Kapitelüberschrift verwendet, verkörpert das Alte, das Familienerbe, das nun in den Besitz der nächsten Generation übergeht, die es aufnimmt, aber auch verändert, vor allem aber in das neue, eigene Leben integriert. Dazu passt, dass Bennie erst im weiteren Verlauf des Streichens schließlich Nana recht gefasst berichtet, was er durch den Anruf der Schwester erfahren hat. Die Tatsache, dass er nachts ruhig schläft, während Nana schlaflos grübelt und wieder aufsteht, kann ein Hinweis darauf sein, dass Bennie sein Leben nach dem Tod des Vaters unverändert fortsetzen wird und er kaum Trauer empfindet.

Als Gründe für das distanzierte Verhältnis zum Vater nennt Bennie seiner Freundin eine Reihe von Fragen (S. 31), die sein Unverständnis und seine Missbilligung der Lebensweise des Vaters zeigen. Einer offenen Auseinandersetzung mit dem Vater ist Bennie aber aus dem Weg gegangen, stattdessen verhält er sich bei den seltenen Treffen der Familie angepasst und vermeidet gezielt Diskussionen. Nana erlebt ihn daher im „Kreis seiner Familie […] so anders […] viel unentschlossener, ausweichender, irgendwie passiver als zu Hause“ (S. 27).

Die älteste Schwester Sylvia sieht in Bennie das Lieblingsgeschwister, sie mag ihn, weil er ihr anders als die übrigen Geschwister keine Vorwürfe macht, sondern „stets freundlich und gut aufgelegt war […] immer fiel ihm irgend etwas Nettes ein“ (S. 40). Auch sie stellt jedoch fest, dass seit seinem Weggang nach Berlin Entfremdung eingetreten ist und er „sich kaum noch für den Rest der Familie (interessierte)“ (S. 40). Außerdem missbilligt sie an ihm mangelndes Verantwortungsbewusstsein, das Fehlen von Selbstkritik und Schuldgefühlen (vgl. S.56). Anna, die zweite Schwester, hat Bennie gegenüber permanent ein schlechtes Gewissen, da sie ihn wegen seiner Geldsorgen und ungesicherten Arbeit bemitleidet (vgl. S. 76), praktische Konsequenzen haben ihre Gewissensbisse allerdings nicht, denn sie ruft ihn nicht an, geschweige denn dass sie ihn in Berlin besucht hätte. David beschäftigt sich so gut wie gar nicht mit seinem jüngeren Bruder, der offenbar für ihn wenig Bedeutung hat. Er sieht in ihm den auffallend gut aussehenden Mann und betrachtet ihn damit ganz äußerlich.

Zwischen Bennie und seinem fünf Jahre jüngeren Bruder Thomas kann der Leser schon vor dem Kontakt der beiden die Parallele feststellen, dass sie sich mit Kunst beschäftigen. Thomas bewundert Bennie: „Der hatte wenigstens den Mut gehabt, nach Berlin zu ziehen“ (S. 158). Bei seinem ersten Kontakt zur Familie nach der schriftlichen Nachricht vom Tod des Vaters entscheidet sich Thomas für ein Telefonat mit Bennie, in dem er den „Luftikus, der immer nett war“ (S. 199) sieht. Außerdem erscheint ihm Bennie näher zu sein aufgrund seiner Ferne zur Familie, speziell zum Vater: „Der Zweitjüngste. Der zweitfernste Planet.“ (S. 199) Dass ihn sein spontanes Gefühl nicht getrogen hat, beweist dann das auf 8 Seiten dargestellte Telefongespräch zwischen den Brüdern, die sofort den richtigen Ton treffen und ins Gespräch kommen, ja sogar trotz des ernsten Anlasses miteinander lachen können. Schnell entsteht der Plan zu einem gemeinsamen Fotoprojekt und einem Wiedersehen, allerdings wegen der beiderseitigen Geldsorgen ohne konkrete Chance zur Realisierung.

Figurenanalyse von Sylvia (bearbeitet von Barbara Maubach)

Die in der Erzählgegenwart 41-jährige Sylvia (ältestes Kind der Familie) erhält die Nachricht vom Tod des Vaters durch einen Anruf ihrer Mutter, während sie im Auto mit ihrer Tochter Miriam am Steuer unterwegs ist, in einer höchst angespannten Situation also, da Miriam noch nicht den Führerschein hat, sondern ihrer Mutter diese illegale Übungsstunde abgerungen hat. Die Szene zeigt Sylvia als eine unfähige Mutter, die sich gegen ihre spätpubertierende Tochter nicht durchsetzen kann und ihr gegenüber Verachtung und Aggression empfindet. Trotzdem überlegt Sylvia, wie sie der Tochter den Tod des Großvaters mitteilen soll, wozu es aber nicht kommt. Sie ahnt, dass Miriam dieser Tod nicht sehr nahe gehen wird, und hat „Angst vor Miriams mangelnder emotionaler Anteilnahme“ (S.40). Sylvia braucht aber in dieser für sie sehr schmerzlichen Situation einen Menschen, der sie tröstet. Denn sie ist von den Kadereit-Kindern diejenige, die wirklich an ihrem Vater hängt, an den sie in ihrer Erinnerung immer als „Vati“ (z.B. S.43) denkt und der „der wichtigste Mensch in ihrem Leben“ (S.40) war.

In einem Erinnerungsrückblick erfährt der Leser von Sylvias besonderer Beziehung zum Vater aufgrund seiner besonderen Zuwendung ihr gegenüber in Kindheit und Jugend. Sie litt als Kind an einem Pfeifferschen Drüsenfieber, das sie lange Zeit ans Bett fesselte und sich später zu chronischem Asthma entwickelte, von dem sie weiß, dass es psychosomatische Anteile hat. „Natürlich war ihre Mutter für sie da, aber sie war immer nett zu allen […] Vater war da ganz anders, der sparte sich seine Nettigkeit auf […] hielt […] ihre Hand und legte ein kühles Tuch auf ihre heiße Stirn.“(S.42) Sylvia gewinnt über ihre Krankheit eine besondere Nähe zu ihren Eltern, sie steht im Mittelpunkt und zieht in der Konkurrenzsituation mit den Geschwistern die Aufmerksamkeit, besonders die des Vaters, auf sich. Im Gegenzug dazu sind ihre Geschwister dann gar nicht nett zu ihr, sondern nutzen ihre aus der Krankheit resultierende Schwäche aus, indem sie sie z.B. im Schwimmbad ins Becken ins Becken stoßen. Die angespannte Beziehung zu den Geschwistern hat sich bis ins Erwachsenenalter durchgehalten. Sylvia kann außer Bennie, dem sogar zu Miriam etwas Nettes einfällt (vgl. S.40) und den sie deswegen schätzt, keines ihrer Geschwister leiden. „Die machten ihr nur Vorhaltungen über ihre Ehe oder über Miriam“ (S.41), während Sylvia im Gegenzug in ihnen „Ignoranten, Dumpfbacken, allesamt“ (S.59) sieht.

Sylvia hat während ihrer Krankheit manipulative Tendenzen entwickelt, die sie ihr Leben lang einsetzt. Um den Vater an ihr Bett zu holen, trinkt sie z. B. die notwendige Flüssigkeit nur, wenn er sie bringt. Sie gewinnt ihn auch dazu, sich an ihr Bett zu setzen und ihr „stundenlang von der Wüste und ihren geheimnisvollen Bewohnern“ (S.43) zu erzählen. Die Zuwendung des Vaters hat letztlich zur Folge, dass das Kind „nicht zurück in die Schule, zu den anderen Kindern, weg von ihrem Vater, fort von diesen geheimnisvollen Zwiegesprächen, nicht erwachsen werden wollte.“(S.44) Die daraus erwachsende Einsamkeit durchzieht wohl auch ihr ganzes Leben. Beim Tod des Vaters sehnt sie sich nach Trost, ohne einen Menschen zu haben, der ihn ihr geben würde.

Wie in patriarchalischen Gesellschaften üblich tauscht Sylvia früh die Rolle der den Vater bewundernden Tochter gegen die Rolle der sich am Ehemann orientierenden Frau und Mutter. Sie wird bereits mit 19 Jahren erstmals schwanger und heiratet ihren ersten Freund Jan, aus dem ein gut verdienender Immobilienhändler wird. Sylvia blickt zu ihm auf und möchte von ihm beschützt werden. Daher mag sie es nicht, wenn er sie manchmal nicht „Kleines“ nennt, sondern ihrem angstfreien Umgang mit Vogelspinnen Bewunderung entgegenbringt. Ihrem Ehemann gegenüber entwickelt Sylvia völlige Anpassung und Unterwürfigkeit. Sie akzeptiert seine ständige Untreue und übernimmt die dienende Hausfrauenrolle, um ihn bei Laune zu halten. Die Beschreibung des samstäglichen Rituals – Schlemmerfrühstück mit anschließendem Beischlaf –, zu dem sie von der Fahrstunde mit der Tochter nach Hause zurückkehrt, wirkt wie eine Karikatur. Während Jan in sich wiederholendem Rhythmus eine Reihe von stimulierenden Übungen abspult, steuert Sylvia mit Distanz und emotionslos den Ablauf des ehelichen Verkehrs. „Sie wusste, dass es ihr nicht schwer fallen würde, ihn ausgerechnet heute zu bedienen“, wohl wissend, dass „andere Frauen sich von ihrem Mann [...] verwöhnen lassen würden.“(S.49 f.) Sie manipuliert ihren Mann vom Frühstück bis zum Beischlaf und fühlt sich dabei durchaus stark, „nicht auf seine Unterstützung angewiesen.“(S.50)

Die früh erworbene Fähigkeit, ihre Schwäche und Kindhaftigkeit manipulativ einzusetzen, um Macht auszuüben, durchzieht auch Sylvias Verhalten den Geschwistern gegenüber, wenn sie taktiert, in welcher Reihenfolge sie ihnen den Tod des Vaters mitteilen soll. Gleichzeitig ist der Versuch, das Weitersagen der traurigen Botschaft hinauszuzögern oder gar zu vermeiden ein von ihr selbst durchschauter Verdrängungsmechanismus, den sie schon seit ihrer Kindheit und Jugend kennt. „Als sie schwanger wurde: niemandem etwas davon erzählen, niemanden einweihen, damit es nicht ‚wirklich wahr ist’“. (S.61)

Dabei ist Sylvias Reaktion auf den Tod des Vaters ambivalent. Einerseits empfindet sie wirklich Trauer und ist erschrocken beim Anruf der Mutter. Ihre Sehnsucht nach Trost in dieser Situation ist glaubwürdig und das Weinen gemeinsam mit ihrer Mutter am Telefon ein Zeichen für den Schmerz über den Verlust des Vaters. Parallel dazu laufen andererseits ihre Überlegungen, bei wem die Mutter den Lebensabend verbringen wird mit allen Konsequenzen auch finanzieller Belastung, die das mit sich bringen würde.

Sylvia ist im Grunde nicht erwachsen geworden und unfähig, ihre eigenen Wünsche klar zu erkennen und authentische Gefühle zu entwickeln. Ihr Schmerz um den Verlust des Vaters hat Anteile von Trauer und wird zugleich genährt von den Kleinmädchen – Erinnerungen an die schönste Zeit in ihrem Leben. Ihrer Tochter gegenüber ist sie unsicher, konfliktscheu, nicht in der Lage Grenzen zu setzen. Und da sie kein ausgeprägtes Selbstbewusstsein hat, kann sie ihr auch kein Vorbild sein. In der Geschwisterreihe fühlt sie sich zurückgesetzt, ist aber auf steter Suche nach Liebe, die sie auch auf manipulative Weise zu gewinnen sucht. Sie bleibt in ihrer Kleinmädchen – Pose, flieht ins Infantile und lebt in einer Scheinwelt. So endet denn auch ihr Versuch, sich an den Vater zu erinnern und seine Gesichtszüge ins Gedächtnis zu rufen, damit, dass „alles, was sich vor ihren Lidern ausbreitete, [...] ein dichter , schweinchenfarbener Teppich“(S.61) war, mit dem sie ihren Flur ausgelegt hat. Die Figur der Sylvia, die teilweise an eine Karikatur erinnert, erlaubt dem Leser kaum Identifikation, sie provoziert allenfalls ambivalente Gefühle, die zwischen Ablehnung und Mitgefühl schwanken, das sich aber kaum durchhält. In der Geschwisterreihe der Kadereits, bei der in allen Figuren ähnliche Spannungen angelegt sind, kommt sie am schlechtesten weg. Sie erscheint als die am wenigsten sympathische und am meisten familiengeschädigte Figur; im Sinne Markus Neuschäfers[2] ein sehr bedingtes Selbst.

Figurenanalyse von Anna (bearbeitet von Ingeborg Gerlach)

Anna ist der Rufname der jüngeren Tochter Johanna, die ca. 37 Jahre alt sein dürfte, als promovierte Psychotherapeutin gemeinsam mit ihrem Ehemann Michael eine Praxis im eigenen Haus führt, in dem sie mit den Kindern Janina und Jonas leben. Sie will am fraglichen Tag mit ihrer Familie die Eltern besuchen und erhält die Todesnachricht durch den Anruf der Mutter, als sie kurz noch einmal ins Haus zurückkommt, weil sie das umgetauschte Geschenk für den Vater vergessen hat. Als einzige der Geschwister verbringt sie aufgrund der räumlichen Nähe am Todestag des Vaters Zeit mit der Mutter im Elternhaus.

Während die Eingangsszene des Anna behandelnden Kapitels diese in einer selbstbewussten Diskussion mit ihrem Mann über die religiöse Erziehung ihrer Kinder zeigt, reagiert sie auf die unerwartete Nachricht ausschließlich emotional und erfährt auf dieser Ebene Trost im völligen Gleichklang der Gefühle mit ihrem Mann und den Kindern. „Im Flurspiegel sah Anna sich als siamesischen Vierling. […] Eine ganze Weile lagen sie zu viert auf der riesigen […] Couchlandschaft und weinten zusammen.“ (S. 75) Sie sieht sich nicht nur selbst im Spiegel, sondern reflektiert auch bewusst diese physische und psychische Nähe im ersten Schock der Trauer, dieses perfekte Harmonie- und Übereinstimmungsgefühl, das sich in einem Körperknäuel, einer Verschmelzung manifestiert, als emotionalen Höhepunkt.

Dass die Familienmitglieder danach alle wieder zu eigen-willigen, voneinander getrennten und manchmal auch einsamen Individuen werden, wird Anna spätestens klar, als die Frage ihrer Mutter, ob alle zur Aufbahrung des Vaters bzw. Großvaters kommen würden, unterschiedlich beantwortet wird. Als die Kinder auf Befragen die Konfrontation mit dem Verstorbenen offen ablehnen, reagiert sie „maßlos enttäuscht“ darüber, nicht „mit ihren Kindern gemeinsam noch einmal […] zu ihrem Vater“ (S. 80) gehen zu können. Anna empfindet Distanz zu Mann und Kindern und entwickelt als Reaktion darauf Fluchtträume gegen die Kränkung und das Einsamkeitsgefühl, indem sie wieder einmal wünscht nach San Francisco zu gehen, um dort in die Praxis einer Freundin einzusteigen. „Dieser verdammte Virus des Fernwehs…“ (S. 82) denkt daraufhin nicht nur Anna, sondern auch der ihn als Familienerbe erkennende Leser.

Als Anna am späteren Abend wieder zu Hause ist, weint sie sowohl während des pflichtgemäßen Telefonats mit ihrer Schwester Sylvia, gegen die sie Abneigung empfindet, als auch beim Gedanken an die unfreundliche Verkäuferin, der sie die nun nicht mehr von ihrem Vater zu benutzenden neuen Wanderschuhe zurückgeben könnte, so dass ihr Weinen auch von Selbstmitleid verursacht zu sein scheint. Zurückgezogen in ihr Zimmer, während ihr Mann die Kinder zu Bett bringt, vergisst sie den geplanten Anruf bei Bennie und versinkt in Erinnerungen an die Zeit der „wöchentlichen transatlantischen Telefonate“ mit ihrem Vater, dem sie sich „nie so nahe gefühlt“ (S. 88) hatte wie damals während ihres USA-Aufenthalts im Rahmen des Schüleraustauschprogramms, an dem eigentlich Sylvia teilnehmen wollte, ihrer Krankheit wegen jedoch nicht konnte. Das enge Verhältnis zum Vater, den sie seitdem immer „Daddy“ (z.B. S. 89) nennt, bekommt erste Risse, als dieser den geplanten USA-Besuch wegen beruflicher Pflichten absagt. „Später war ihre Enttäuschung in Ärger umgeschlagen“ (S. 88), denn sie erkennt mehr und mehr, dass „ Weltflucht […] Weltschmerz, […], Sehnsucht und Angst“ (S. 89) sein Verhalten bestimmen. Im Laufe ihrer psychologischen Ausbildung lernt Anna, „etwas nachsichtiger über ihren Vater zu urteilen“ (S.89), bleibt aber im Verbund mit ihrem älteren Bruder David seine Kritikerin.

Auch der Mutter und den Geschwistern gegenüber sind Annas Gefühle teilweise distanziert und kritisch. „Die ewigen Minderwertigkeitsgefühle ihrer Mutter gingen ihr auf die Nerven“ (S. 83), sie hat das Doppelspiel ihrer Mutter schon lange durchschaut: einerseits hat diese – unterstützt durch Sylvia – immer den Vater vor kritischen Fragen von Anna und David bewahrt, andererseits Anna unter vier Augen gelobt, „daß wenigstens sie sich trauen würde, ihrem Vater ein paar Fragen zu stellen“ (S. 84). Die Verbundenheit mit der Mutter zeigt sich aber u.a. darin, dass sie die Mutter in ihrem Haus aufnehmen wird. Von den Geschwistern steht Anna der nur wenig ältere Bruder David am nächsten, mit dem sie als Teenager zusammen gereist ist und der in ihr „eine gleichaltrige, ebenbürtige Kumpanin“ (S. 114) sieht. Aus seiner Sicht erfährt der Leser: „Anna war wirklich nicht schön, und man sah ihr an, daß Kleidung und Kosmetik sie nicht interessierten.“ Er hält sie für „unkompliziert […], praktisch veranlagt und sportlich, dabei doch einfühlsam“ (S. 115).

Die Überprüfung des Horoskops ihres Vaters führt Anna am späteren Abend zur Beschäftigung mit dem eigenen Horoskop und dem ihres Mannes. Das Nachdenken über die Ekelgefühle der Kinder angesichts der Vorstellung, den aufgebahrten Großvater zu sehen, lässt sie eigene Gefühle dieser Art in der Kindheit lebhaft und ausgiebig erinnern. Trotzdem empfindet sie „ihre Kinder als treulos“ und weiß gleichzeitig, „daß dieser Gedanke ungerecht“ (S. 96) ist. Dass das Kapitel über Anna den Titel „Im Garten“ trägt, obwohl dieser Schauplatz nur kurz vorkommt, verweist auf die Wichtigkeit der Kinder, die auch Anfang und Ende des Kapitels bestimmen. Der Garten wird nicht, wie vielleicht zu erwarten wäre, als der Ort erwähnt, an dem das Bienenhäuschen steht, vor oder in dem am Morgen ihr Vater starb, sondern, den gerade Verstorbenen schon überschreitend, als ein Ort, an dem Anna ihre Kinder sucht. Sie findet die beiden „im Schuppen hinter dem Bienenhäuschen; sie schauten sich neugierig einige Gerätschaften ihres Großvaters an, an die er sie nie herangelassen hatte.“ (S. 83) Anna lässt sie gewähren und wird ihnen später einen Teil der exotischen Tiere des Vaters, besonders den wertvollen Waran, überantworten – ihnen gehört die Zukunft.

Figurenanalyse von David (bearbeitet von Jutta Rech-Garlichs)

David, zweites Kind und ältester Sohn der Kadereit-Familie, ist 38 Jahre alt (vgl. S. 102) und von Beruf Schauspieler. Er lebt in der Nähe seines Elternhauses in Fürstenfeldbruck und ist „froh über jedes Engagement in den Kleinstadttheatern der Umgebung“ (S. 118). Das ihn in den Mittelpunkt stellende vierte Kapitel des Romans beginnt mit einer Szene, die David im Theater bei einer Einzelprobe zeigt, sodass der Leser gewissermaßen mitten hineinplatzt in die Probe und maximale Desorientierung erlebt, während die vielfältigen innertextlichen Bezüge[3] teilweise erst nach der Lektüre des letzten Kapitels erkennbar werden.

Zu Hause erwartet David „diese geballte Ladung Familie“ (S. 101) in Form von fünf Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, der er sich aber nicht sofort gewachsen fühlt. Den neuerlichen Anruf von Sylvia nimmt er jedoch an und erfährt damit vom Tod des Vaters. Von diesem Zeitpunkt an beschäftigen ihn nun die vielen Missverständnisse, enttäuschten Erwartungen und verpassten Gelegenheiten (vgl. S. 108 ff.) in den Begegnungen mit dem Vater. Gradmesser seiner Erschütterung mögen auch mehrere Cognacs sein (vgl. S.107 f.), die auch als nicht eingestandene Alkoholsucht (vgl. S.48, 113) gedeutet werden können, wie es z. B. Sylvia tut.

Nachdem David kurz mit Anna telefoniert hat, begibt er sich zum Joggen, außer Sex die einzige Methode, die ihn „von sich selbst befreien“ (S. 112) kann. Während des Laufens mäandern seine Gedanken aber doch zwischen den Geschwistern, den Eltern, dem von einem Teil der Familie zum Afrika-Helden stilisierten Großvater hin und her und lassen ihn diesmal nicht zu der von der Konzentration auf das Laufen erhofften vollkommenen inneren Ruhe kommen. Vollends zunichte gemacht wird dieses Bestreben durch das Auftauchen von Corinna, einer wesentlich jüngeren ehemaligen Theaterhospitantin, die in David verliebt ist und deren massiven Verführungsversuchen dieser schließlich auch erliegt. Das von Corinna für ihre geplante Übernachtung im Wald aus Moos gebildete „Kopfkissen“ (S. 136) gibt dem Kapitel seinen Titel. Das Kapitel endet damit, dass David nach dem Joggen im Auto die kurz vorher angekommene SMS seiner Freundin Ellen, deren Anruf er am Anfang des Kapitels während der Theaterprobe angenommen hatte, beantwortet und ihr dabei die Todesnachricht mitteilt – die Kontakte zu Ellen, die sich aktuell in Schweden aufhält, rahmen also das Kapitel, vielleicht auch das Leben von David. Die Beziehung zu Ellen hat sich zwar im Alltag nicht bewährt, weshalb sie getrennt leben, ist aber für David auf der emotionalen und erotisch-sexuellen Ebene so bedeutend, dass er ohne sie nicht leben kann (vgl. S. 106, 115, 122).

Von allen Kadereit-Kindern scheint sich David von klein auf am stärksten – und vergeblichsten – um Aufmerksamkeit, Zuwendung und Anerkennung des Vaters bemüht zu haben: „David, der so linkisch um Vater herumstrich, ihm abseitige Theaterrollen vorspielte und auf Beifall oder wenigstens Interesse hoffte“ und gar nicht merkte, „wie sehr dies alles ihren Vater langweilte und peinlich berührte.“ (S.157) Obwohl David sich nie für Tiere interessierte, hatte ihm „diese Leidenschaft seines Vaters […] durchaus imponiert“ (S. 102): „Dieses Sich-Vertiefen, dieses Ausblenden der Außenwelt“ (S. 103) stellen einen Wesenszug dar, den David ebenso wie den „Suchtcharakter“ (S. 103) auch bei sich selbst erkennt und den er auf seine Weise vor allem als Theaterschauspieler auslebt (vgl. S. 105). Die Schauspielerei bringt ihm zwar nicht die umfassende Anerkennung seines Vaters (vgl. S. 129 f.), aber immerhin besuchen die Eltern die Premieren, wenn sie in der Nähe stattfinden – eine Geste, die David stets gerührt hat, auch wenn die elterlichen Äußerungen zu Theaterstück und Rolle sich immer in banalen, stereotypen Bemerkungen erschöpfen. Für David ist das „Premierengefühl“ – dieser „Moment der Öffnung und des Angenommen-Werdens“ (S. 106), nach dem er geradezu süchtig ist - das, wofür zu leben sich lohnt. Dagegen ist es „ihm in achtunddreißig Jahren nicht gelungen, einmal neben seinem Vater zu sitzen und ein <Wir-Gefühl> zu empfinden.“ (S. 103)

Die Mutter, um deren gesundheitliches Ergehen sich David durchaus Gedanken macht (vgl. S. 101 f.), ist mit „ihrem steten Bemühen um Ausgleich“, ihrem Bestreben, „es allen recht [zu] machen“, ihm „im Grunde noch [wesens]fremder als sein Vater“ (S.104 f.).

Von den Geschwistern verbindet ihn am wenigsten mit Sylvia, deren bevormundendes, erzieherisches Gehabe ihn ärgert und selbst bei diesem traurigen Anlass dazu führt, dass sie das Gespräch abrupt beenden (vgl. S. 102). Sylvias Abneigung gegenüber David ist sogar Nana bekannt (vgl. S.32) und erstreckt sich in der Regel auch auf Anna, das David alters- und gefühlsmäßig am nächsten stehende Geschwister (vgl. S. 48, 58 f.). Tatsächlich ziehen David und Anna in familiären Auseinandersetzungen häufig an einem Strang (S. 68, 84, 89), und ihre gegenseitige Akzeptanz und Zuneigung ist so groß, dass David sich eigentlich eine Frau vom Typ seiner Schwester Anna wünscht, „aber leider lernte er nie solche Frauen kennen, oder er verliebte sich nie in sie". (S. 115)

Obwohl Bennie von seiner beruflichen Ausrichtung her – Verleger, Galerist, Kunstkritiker – von den Geschwistern David eigentlich am nächsten steht, verstehen sich die beiden nicht (vgl. S. 33), und Bennie ergreift bei häuslichen Diskussionen nicht Partei für David, selbst wenn er dessen Meinung teilt (vgl. S.27). Nach Ansicht der Schwestern hat David zu Thomas am ehesten einen Draht (vgl. S.85). Thomas hat verwirklicht, wovon David nur träumte (vgl. S. 117) und was die anderen Geschwister eigentlich am ehesten von ihm, David, erwartet hatten: „daß er irgendwann alles hinschmeißen und abhauen würde.“ (S. 85) Der TraumReferenzfehler: Für ein <ref>-Tag fehlt ein schließendes </ref>-Tag. 19 oder 20 Jahre alt war. Die vier Kinder kamen schnell hintereinander, heißt es. Als ihr vorläufig jüngster Sohn Benjamin geboren wurde, war sie wahrscheinlich 28 Jahre alt, es ist das Jahr 1969. Sie war 33 Jahre, als der unerwartete Nachkömmling Thomas, ihr 5. Kind, zur Welt kam.

Ob die Mutter vor ihrer Ehe jemals berufstätig war oder eine Ausbildung in einem Beruf hatte, wird nicht erwähnt. Sie kommt aber offensichtlich aus einem bürgerlich-katholischen Milieu, worauf ihre Vorliebe für Orgelkonzerte hinweist. (vgl. S. 184) Ihre Religiosität wird von allen Kindern erwähnt. Auch scheint sie früher ab und zu ins Theater gegangen zu sein, was aus ihrem Unverständnis für moderne Bühnenbilder geschlossen werden kann. (vgl. S.106)

Die Mutter bleibt in der Darstellung blass. Ihre positiven Eigenschaften, sie ist zu allen nett und ständig um Harmonie bemüht, werden von den Kindern eher kritisch gesehen. Aus der Perspektive Annas heißt es an einer Stelle: „Sie streicht ihren Rock glatt“ (S.83), was als Zeichen für ihre traditionelle Kleidung gewertet werden kann. Mehrfach wird erwähnt, dass sie in schwierigen Situationen hilflos reagiert. Anna beklagt die Minderwertigkeitsgefühle ihrer Mutter (vgl. S. 83) und ihre rigide Zeitordnung (vgl. S. 74, 109). Sami, der die Großmutter nur von Fotos kennt, stellt fest, dass sie direkt und vertrauensvoll in die Kamera blickt und meist jemand im Arm hielt oder im Arm gehalten wurde (vgl. S. 194), auch dies ein traditionelles Familienbild.

In der Struktur der Familie hat die Mutter ihren Platz zu nah am Vater, dem „Zentralgestirn“ (S. 199), wie Thomas meint, und David stellt fest: „Seine Mutter wollte es allen recht machen und ordnete sich ihrem Mann und ihren Kindern […] viel zu bereitwillig und gutmütig unter“ (S. 105). Eigene Interessen hatte sie kaum und schien wenig für sich zu fordern. Vielleicht ergänzten sich die Eltern, reflektiert er weiter (vgl. S. 104) Jedenfalls ist ihm die Mutter noch fremder als der Vater, von dem er jedoch sagt, dass er durch seine Schufterei die Familie tyrannisiert habe (vgl. S. 109).

Die Mutter stützt mit ihrer stillschweigenden Unterordnung das Verhalten des Vaters und seine Anordnungen. Sie nimmt ihn gegenüber den Kindern in Schutz, z.B. wenn sie lästige Fragen von Anna und David abwehrt (vgl. S. 84). Sie sorgt dafür, dass er nicht gestört wird, wenn er vor den Terrarien sitzt oder z.B. in der Nacht, wenn die Kinder Alpträume haben (vgl. S. 104). Ohne ihre Aktivitäten im Hintergrund würde das Familiensystem nicht funktionieren.

Mit ihrem Verhalten steht die Mutter stellvertretend für eine ganze Generation von Frauen, die sich in den 50er und 60er Jahren dem herrschenden Ideal des Heimchens am Herd unterwarfen und damit die patriarchalische Gesellschaftsform stützten. Ebenso wie der Vater Paul gehört sie zu der Generation der Kriegskinder, für die nach aller erfahrenen Unsicherheit der Kriegs- und Nachkriegszeit die Sicherung der täglichen Bedürfnisse im Vordergrund stand. Zu dieser Sicherheit gehörte die klare Rollenverteilung innerhalb der Familie. Der Vater ist das Oberhaupt, er ist der Versorger und Ernährer, er fühlt sich verantwortlich, bezieht aber auch Macht aus dieser Position. Die Mutter ist nicht berufstätig, sie ist für die Versorgung der Kinder und die Organisation des Haushalts zuständig. Eine ihrer Hauptaufgaben besteht darin, die Arbeitskraft des Hausvaters zu erhalten und ihn zu unterstützen. Anerkennung bekommt sie für ihre Arbeit keine, weder von ihrem Mann noch von den Kindern.

Als Nebenfigur innerhalb der Fiktion entspricht die Mutter dem Stereotyp der idealen Hausfrau, wie sie in der Werbung der Wirtschaftswunderjahre propagiert wurde. Ihr Verhalten kann als Beispiel für eine Prägung durch die Zeitgeschichte herangezogen werden, d.h. für einen synchronen Generationenbegriff. Über die stereotype Figurenbeschreibung der Mutter wird im Lesevorgang die historische Zeit der Aufbaujahre aktiviert[4]. Bei Björn Bohnenkamp heißt es zum synchronen Generationenbegriff: „Auf der Ebene einzelner Figuren [kann] eine ganze Gesellschaftsgeschichte erzählt werden, indem einzelne Figuren stellvertretend für ihre Generation entworfen werden.“[5] Die Mutter ist ebenso wie der Vater so stark durch die historisch einmaligen Erfahrungen der Nachkriegszeit geprägt, dass sie sich auch später nicht davon lösen können. Vielmehr erwarten sie von den Kindern, dass sie ihre in dieser Zeit erworbenen Verhaltensweisen übernehmen. Jedoch die Zeit und die Kinder haben sich verändert: „Vaters ewiges Aufbauen-Wollen und Mutters ewiges Horten [was als Hinweis auf die Aufbaujahre gewertet werden kann] war ihm [gemeint ist Thomas] […] völlig fremd geworden.“(S. 165)

Die Mutter hat sich offensichtlich während ihrer 42 Jahre währenden Ehe nicht verändert. Sowohl die Aufbruchsstimmung der 68er Jahre als auch die Emanzipationsbewegung der 70er Jahre sind spurlos an ihr vorübergegangen. Auch nach dem Tod ihres Ehemannes gibt es keine Zeichen einer Befreiung oder Entwicklung. Sie ist immerhin erst 61 Jahre alt. Ihr Hüftleiden und ihre Diabetes sind für die Kinder ein Grund, dass sie nicht mehr allein leben kann und Anna sie bei sich aufnehmen wird. In der Sorge der Kinder um die Mutter kann man Zeichen des Generationenvertrages sehen. Für Bohnenkamp ist er ein Bild für den Zusammenhalt einer Gesellschaft, in der jeder seinen Platz hat[6].

Der Brief der Mutter an Thomas unterstreicht noch einmal, dass die Mutter sich nicht aus ihrem angelernten Rollenverhalten lösen kann. Sie ist nie aus Fürstenfeldbruck herausgekommen, es gab in ihrem Leben keine Impulse, die eine Veränderung ihrer Einstellungen befördert oder nötig gemacht hätten. „Zweiundvierzig Jahre lang … war ich glücklich mit deinem Vater verheiratet“ schreibt sie, „ und unsere Liebe zueinander hat uns fünf gesunde Kinder geschenkt.“ (S. 196) Neben der angelernten Phrasenhaftigkeit dieser Sätze schützt sie mit dieser Bemerkung ihren Ehemann auch nach seinem Tod vor jeder eventuell aufkommenden Kritik. Thomas, den Nachkömmling, das einzige der Kinder, das hinter der Fassade den Menschen sieht, kann sie damit nicht täuschen. In der „krakeliger werdenden Schrift und dem chaotischen Auf und Ab der Zeilenführung“ erkennt er die Verunsicherung der Mutter; sie „hatte über jedes Wort nachgedacht, um bei Thomas kein schlechtes Bild von seinem Vater entstehen zu lassen.“ (S.196f.)

Aus der Perspektive von Thomas gewinnt die Mutter trotz aller stereotypen Verhaltensweisen aber auch eine eigene Individualität. Diese zeigt sich nicht nur in ihrer Melancholie, „erahnbar im Rauschen des Duschwassers auf dem Körper seiner einsamen Mutter, den sein Vater bestimmt seit Jahren nicht mehr berührt hatte“ (S. 157), ein Zeichen, dass sie sich ihrer Situation in der Familie sehr wohl bewusst ist, sondern vor allem in ihrem Humor, mit dem sie auf überraschende Ereignisse reagieren kann (vgl. S. 153, den Ausbruch der Warane). Sie hat ebenso wie ihr Mann ein vertrauensvolles Verhältnis zu ihren Enkeln Jonas und Janina aufgebaut, die wie selbstverständlich auf ihren Schoss klettern, um sie zu trösten. (vgl. S. 77) Es gibt jedoch keine Hinweise in dem Roman darüber, ob sie sich nach dem Tod ihres Ehemanns mit ihrer Position in der Familie auseinandersetzt und zu einem selbstbestimmten Leben findet.

Der Generationenroman[7] von Tanja Dückers[8] vernetzt die historisch einmalig entstandene Situation der Aufbaujahre nach dem 2. Weltkrieg mit den genealogischen Veränderungen und Entwicklungen, die sich innerhalb der Familie und durch die Zeitgeschichte ergeben. An der Figur der Mutter wird deutlich, wie sehr sich das Bild der Familie in den letzten 20-30 Jahren verändert hat. Dies betrifft auch die anderen Frauenfiguren, an denen trotz aller Prägung durch die Familiengeschichte, gesellschaftliche Veränderungen im Rollenverständnis der Geschlechter abgelesen werden können. Dabei wirkt die patriarchalische Gesellschaftsordnung im Leben Sylvias weiter fort. Sie wäre wohl die einzige gewesen, die die Zoohandlung des Vaters hätte übernehmen können und wollen. Aber für den Vater war sie als Frau keine Option für diese Aufgabe. Er zollte ihr für ihre Hilfe im Geschäft kaum Anerkennung, wie Thomas feststellt (vgl. S. 158f.). Ein anderes Bild liefert die Familie von Anna. Sie hat einen qualifizierten Beruf, den sie als Selbständige ausübt, und die Kindererziehung wird von beiden Elternteilen wahrgenommen. Auch die Söhne Kadereit haben sich in ihren Lebensentwürfen zwar vollständig vom Vater gelöst, Thomas und David warten aber weiter auf ein Zeichen der Anerkennung.

In einem Interview von 2006 weist Tanja Dückers darauf hin, dass für sie die graue Zeit nach dem 2. Weltkrieg im imaginären Zentrum des Romans steht: „…die 50er Jahre bilden den Nukleus, um den sich die Familiengeschichte dreht“[9].

Aufbau des Romans, Erzählperspektive, sprachliche Mittel (bearbeitet von Ilse Noy)

In Dückers‘ Roman gibt es kein eingreifendes, auktoriales Erzählen, sondern nacheinander werden die einzelnen Geschwister aus der Perspektive eines personalen Erzählers in der Er/Sie-Form vorgestellt. Lediglich an wenigen Stellen des Romans verschränken sich Selbst- und Fremdperspektive (vgl. jeweils 1. Satz S. 13 und S. 17 oben), findet sich eine Charakterisierung, die von außen statt aus der Innensicht der jeweiligen Perspektivfigur kommt, wodurch der Eindruck eines Schulterschluss mit dem Leser entsteht. Erschließt sich so vielleicht doch eine Art Metaebene, eine Leseanweisung, eine Reflexion über die Erzählweise?

Mit Bennie beginnt der Roman, allerdings wird Bennie nur aus der personalen Sicht seiner Freundin gezeigt, der Leser wird so in gewisser Distanz zur Figur gehalten. Das passt inhaltlich möglicherweise dazu, dass sich Bennie verhältnismäßig weit von der Herkunftsfamilie entfernt hat. Weiter weg in Richtung auf ein eigenes, autonomes Leben ist bloß Thomas gegangen, und mit ihm endet der Roman. Thomas wird besonders viel Raum gegeben, das ihn behandelnde Kapitel ist mit Abstand das längste der zunehmend umfangreicher werdenden Kapitel. Sein Blickwinkel wird sogar noch erweitert und intensiviert durch Sami, seinen kleinen Sohn, dessen Perspektive der Erzähler ebenfalls momentweise einnimmt (vgl. S. 193 ff.). Passend dazu, dass sich in Sami eine Sehnsucht nach der ihm unbekannten Ursprungsfamilie anzudeuten beginnt, werden Anfang und Ende des Romans kreisförmig zusammengeführt, indem am Ende Thomas telefonischen Kontakt zu Bennie aufnimmt, wobei die erzählerische Distanz durch die direkte Figurenrede während des Telefonats aufgehoben wird. Dadurch wird die Vertrautheit, mit der beide Brüder nach jahrelang unterbrochener Verbindung miteinander ins Gespräch kommen und die ein Hinweis auf familiäre Zusammengehörigkeit ist, dem Leser besonders nahe gebracht.

Alle Geschwister bis auf Bennie werden dem Leser zwar vergleichsweise nahe aus ihrer Innensicht vorgestellt, allerdings fällt auf, dass der sprachliche Duktus des Romans eher gleichförmig ist und damit nicht die Individualität der Figuren betont. Möglicherweise könnte dies als Hinweis verstanden werden, dass es sich letztlich bei dem Roman, worauf schon das vorangestellte Motto hinweisen könnte, vor allem um einen künstlerischen Modellversuch handelt, der beobachtet, was in Familien geschieht, wenn sich Zentrum und Peripherie gegeneinander verschieben, wenn das „Zentralgestirn“ (S. 198) seine Position verlässt.

Einige sich leitmotivisch durch den Roman ziehende Metaphern scheinen in diesem Zusammenhang die Generationenbeziehungen zu erhellen: der „längste Tag des Jahres“ ist rein astronomisch der Tag der Sonnenwende, ein Einschnitt, der etwas Neues beginnen lässt; der Todestag des Vaters ist ein gefühlt längster Tag des Jahres für die Kinder, auch hier ist ein Neubeginn denkbar. Doch der Jahresverlauf stellt auch einen immerwährenden Kreis dar, und die Kinder folgen eingeübten Rollen. Eine kreis- bzw. spiralförmige und pulsierende Bewegung wird auch von weiteren Metaphern beschworen: u. a. die kreisförmige Anordnung und Bewegung der Gestirne um ein Zentrum, die Spiral Jetty von Robert Smithson[10] (vgl. S. 173 ff.), das Perpetuum mobile der unbekannten Installation in der Wüste mit seiner sich unablässig täglich erneuernden Licht-Energie. Vielleicht könnte man ableiten, dass eine endgültige Positionsbestimmung des Einzelnen in der Gesellschaft bzw. der Familie nicht möglich und nicht erstrebenswert ist, sondern dass sie in einer permanenten, kreisenden Bewegung zwischen Annäherung und Entfernung, Zugehörigkeit und Abgrenzung, Bedingtheit und Autonomie, Aufbruch zum Neuen und Verharren in alten Mustern stattfindet.

Das Muster mit Differenz ist denn auch ein Merkmal mancher zeitgenössischer Generationenromane; dieser Familienroman ist weder eine Fortschrittsgeschichte noch eine Niedergangsgeschichte wie etwa Thomas Manns „Buddenbrocks“. In der Metapher des Perpetuum mobile, das im Roman bereits als Installation existiert, zeigt sich die Sehnsucht nach einer sich ständig erneuernden Energie, bei der Anziehungs- und Fliehkräfte sich nicht aufheben, sondern dialektisch in eine Zukunft wirken.


Anmerkungen

  1. Alle Seitenangaben beziehen sich auf Tanja Dückers, Der längste Tag des Jahres, Berlin 2007 (Taschenbuchausgabe)
  2. vgl. Markus Neuschäfer, Das bedingte Selbst: Familie, Identität und Geschichte im zeitgenössischen Generationenroman, Berlin 2013
  3. "Desert Rock von Giant Sand" und "Hotel Helios"(S. 99)lassen sich mit Thomas' Aufenthalt in der Wüste verbinden, während die besungene "Lolita" (S. 99) auf die später im Kapitel auftretende Corinna vorauszuweisen scheint
  4. vgl.: Markus Neuschäfer, a.a.O., S. 18 f.
  5. Björn Bohnenkamp, Generation als Erzählung. Zur narrativen Inszenierung sozialer Beziehungen. In: Nagy, Hajnalka [Hrsg.], Immer wieder Familie: Familien- und Generationenromane in der neueren Literatur, Innsbruck 2012, S. 27-40, hier S. 31.
  6. ebenda: S. 32
  7. https://de.wikipedia.org/wiki/Generationenroman
  8. https://de.wikipedia.org/wiki/Tanja_D%C3%BCckers
  9. www.tanjadueckers.de/der-langste-tag-des-jahres/ taz, 20. März 2006 - Interview
  10. https://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Smithson