Silvia Bovenschen, Nur Mut

Aus Literarische Altersbilder

zur Analyse in kollektiver Autorschaft vgl. [1]


Inhalt

Die Handlung des 2013 erschienenen relativ kurzen Romans erstreckt sich über etwa acht Stunden eines Tages und spielt in einer an einem Fluss gelegenen Villa. In diesem großbürgerlichen Ambiente leben vier ältere Damen (die Hausbesitzerin Charlotte und ihre drei Freundinnen Johanna, Nadine und Leonie), versorgt von der Haushälterin Janina. Vorübergehend wohnt außerdem die Enkelin Dörte im Haus, die am Tag des Geschehens Besuch von ihrem Freund Flocke hat. Die ersten drei der insgesamt sechs Kapitel zeigen die Ereignisse des Vormittags und der Mittagszeit, zum Beispiel die Vorbereitung des gemeinsamen Mittagessens, überwiegend die Gespräche der Hausbewohner in den verschiedenen Räumen. Nadine verlässt das Haus in der erklärten Absicht, beim Konditor Kuchen für den am Nachmittag erwarteten Besuch von Charlottes Finanzberater zu besorgen, sucht aber in Wirklichkeit ihren Arzt auf, von dem sie über den erneuten Ausbruch ihrer Krebserkrankung informiert wird. Nach Hause zurückgekehrt lenkt sie sich mit dem TV-Programm ab und nimmt daher auch nicht am Mittagessen der Freundinnen teil. Während sich Leonie nach dem Essen in ihr Zimmer zurückzieht, unterhalten sich (4. Kapitel) Charlotte, Johanna und Nadine beim Tee im Salon. Am späten Nachmittag (5. Kapitel) empfängt Charlotte ihren Finanzberater Dr. Theodor von Rungholt in der Bibliothek, aus der ihre Freundinnen im Salon nach einer Weile zunehmend laute Geräusche wie Schreien und Poltern vernehmen. Die Erklärung dafür ist, dass Charlotte den Mann mit dem Schürhaken erschlagen hat, nachdem dieser ihr mitgeteilt hat, dass er ihr gesamtes Vermögen veruntreut hat, so dass sie nun mittellos dasteht. Diese Mitteilung löst eine derartige Verzweiflung, Befreiung und Enthemmung aller drei Frauen aus, dass sie das Mobiliar und die Kunstschätze des Salons verwüsten, sie "feiern […] eine Art Abrissparty des Lebens" [1]. Danach sollen sie das Haus sorgfältig verschlossen haben und mit dem alten Benz auf und davon gefahren sein. Dies jedenfalls erfährt der Leser in der die Binnengeschichte umschließenden Rahmenhandlung, die im 3. Abschnitt genauer untersucht wird. Im 6. und letzten Kapitel der Binnenerzählung tauchen vier merkwürdige Gäste auf, nämlich „ein weißer Schwan, ein sehr alter Hund, ein rundlicher Herr und ein kleines Mädchen“ (S. 133)[2]. Diese Figuren sind vorher einzeln von den alten Frauen außerhalb des Hauses gesehen und bemerkt, ihnen also jeweils zugeordnet worden. Unter der Regie des kleinen Mädchens findet in der Folge eine Art Gerichtsverhandlung oder auch jüngstes Gericht über das Leben der Frauen statt, die mit der Aufforderung des Schwans „Nur Mut! […] Zeit zum Aufbruch. Macht euch frisch, […] jetzt ist die Zeit zu gehen…“ (S. 151f.) endet und damit durch die Nennung des Titels deutlich den Schlusspunkt der Binnenerzählung markiert.

Figuren

Charlotte

Als einzige der alten Frauen ist Charlotte, die in gewissem Sinne als Hauptfigur des Romans gesehen werden kann, in die oben bereits erwähnte Rahmenerzählung eingebunden. Sie wird dort als Großtante des Binnenerzählers familiär eingeordnet. Damit erhält die Erzählung über sie die historische Anbindung an einen Rahmen, der in dem Roman den Anspruch auf Realität und Verortung der Geschichte in Familienzusammenhängen aufrechterhält.

Wir erfahren über Charlotte, dass sie die Besitzerin des Hauses ist, in dem die Frauen leben, eine „hochgewachsene strenge Erscheinung. Imposant im Alter, in ihrer Jugend gravitätisch schön, [...] Aus reichem Hause kommend hatte sie von ihrem Mann zusätzlich ein beträchtliches Vermögen geerbt.“ (S. 8) Sie hat im Alter drei Freundinnen zu sich in die „große weiße Villa an einem Fluss“ (S. 8) geholt. Charlotte wird also schon im Rahmen als eine beeindruckende Persönlichkeit vorgestellt, die deutlich die Autorität im Haus hat. Ihre Enkelin Dörte charakterisiert sie mit dem Hinweis, dass sie die Villa, die Knete und das Sagen habe. (vgl. S. 20) Wir erfahren, dass sie Professorin für Paläontologie war und ein „Wissenschaftsfreak“ (S. 20) ist. Sie ist verwitwet, übernimmt die Verantwortung für Finanzierung und Wohlergehen der Hausbewohnerinnen und sorgt für das „Gerüst des Gemeinschaftslebens, [...] die geordneten Abläufe, [...] die alltäglichen Routinen, das unausgesprochene Regelwerk der Chefin.“ (S. 56f.) Zudem wacht sie über den Umgang der Frauen miteinander, weist z.B. Johanna auf ernste, aber sanfte Weise darauf hin, Nadine „nicht so hart anzugehen und auch die kleinen Spitzen gegen ihre Modeallüren zu unterlassen“ (S. 57), weil sie verstanden hat, dass Nadine sich vor den schlechten Nachrichten über ihre Erkrankung fürchtet.

In ihrem Bestreben, eine freundliche Atmosphäre für das Miteinander im Haus zu schaffen, ist sie bei aller Rationalität doch fürsorglich. Sie betritt z.B. Johannas Zimmer leise und berührt „sanft ihre Schulter“ (S. 18), weil diese wegen der Kopfhörer ihr Anklopfen nicht gehört hat, um darauf hinzuweisen, dass „Johanna die Ruferei irgendwann einstellen oder wenigstens reduzieren“ (S. 19) könnte, da sie alle Hausbewohnerinnen stört. Diese Fürsorge zeigt sich auch gegenüber Leonie, die sie „mit liebendem Zwang in die Villa geholt hatte“ (S. 32), um sie aus ihrer gewollten Einsamkeit in einer verdunkelten Wohnung herauszuholen.

Gegenüber Dörte und Flocke, deren hoffnungslos verliebtem Freund, erweist sie sich als hellsichtige Person, die auf Anhieb erkennt, in welch blinde Abhängigkeit der Junge geraten ist und wie sehr ihre Enkelin diese Situation ausnutzt. Sie durchschaut das freche und egoistische Gebaren des Mädchens und analysiert es im Zusammenhang der Familiengeschichte, an der sie selbst beteiligt ist, als Ergebnis mangelnder Zuwendung. Ihre Klarsichtigkeit führt dazu, dass sie in natürlicher Autorität das Heft in der Hand hat, sich mit großer Wachheit durch die Räume der Villa bewegt und auf ihre Mitmenschen zugeht. Ihrer Enkelin setzt sie Grenzen und stellt Forderungen, die diese entgegen ihrer sonstigen Aufmüpfigkeit mit den Worten „Alles roger“ (S .21) akzeptiert. Auch ihre eindeutigen Verbote, z. B. fettige Pizza weder in der Bibliothek noch im Salon zu essen, werden trotz des beinahe autoritären Tones von Dörte befolgt. In der Gruppe der Frauen, die mit „ängstlichen Tieren“ (S. 105) verglichen werden, wirkt sie als Leitfigur.

Dabei wahrt sie in allen Dingen Form und Haltung. Das Zimmer ihrer alle Formen missachtenden Enkelin betritt sie nur nach vorherigem Anklopfen und verliert keinen Ton über die höchst seltsame Dekoration, mit der das Mädchen das sonst gediegene Interieur verunstaltet hat. Die Forderung nach Haltung gilt auch für die anderen Bewohnerinnen der Villa. „Nimm dich zusammen: Disziplin, Haltung, Contenance“ (S. 32) verlangt sie von Leonie, die in ihrer Trauer versinkt. Ihre Autorität hat ein großbürgerliches Format, das sich auch in ihrem kulturellen Anspruch äußert. Sie besucht mit Leonie die Oper und anschließend ein Restaurant, das als „Traditionshaus“ (S. 27) ihren Vorstellungen von gehobener Küche genügt. Die in ein schlechtes Milieu abgerutschte Enkelin kann sie im örtlichen Gymnasium unterbringen, weil sie mit dem Schulleiter befreundet ist. Dieser anspruchsvolle Stil entspricht ihrem Lebenslauf als Professorin mit einer erfolgreichen Karriere. Dabei ist sie durchaus von Selbstreflexion geprägt und sieht die Situation der alten Frauen in der Villa mit selbstironischer Distanz. „Aber wahrscheinlich sind wir alle hier in der Villa auf diese oder jene Weise ermüdend. Erstarrt in unseren Schrullen.“ (S. 33)

Das Nachdenken über Leben und Tod führt bei ihr zu selbstkritischen, auch bös-sarkastischen Einsichten über die Familie ihres Sohnes, die sie als geldgierig und undankbar darstellt, ungeduldig darauf bedacht, möglichst bald und viel von dem Erbe einzustecken, das sie von Charlotte erhoffen. Sie sind von der Angst besessen, Charlotte könnte vor ihrem Ableben noch ihr ganzes Geld verprassen. „Die würden mich, ohne mit der Wimper zu zucken, im Falle einer Demenz im kostengünstigsten Pflegeheim verenden lassen“ (S. 78), erklärt Charlotte sarkastisch. Aber sie erkennt auch klar ihren Anteil an der Entwicklung ihres Sohnes, den sie „zu einem Spießer verkrümmt“ (S. 78f.) sieht, der ihr „fremd geworden“ ist; sie weiß sehr wohl, dass sie, „als er jung war“, sich hätte „mehr um ihn kümmern müssen“, aber sie „war zu sehr mit [...] Wissenschaft beschäftigt". (S. 79) Gleiches gilt für ihre Enkelin Dörte, deren „künstliche Idiotensprache ebenso wie ihr idiotisches Benehmen“ sie als „Symptome einer Luxusverwahrlosung“ (S. 79) einordnet. Sie versteht sehr genau, dass dem Mädchen Zuneigung und liebevolle Begleitung fehlen, die sie aber meint nicht geben zu können. „Man müsste sie mögen wollen. Aber auch mein Wollen kennt Grenzen.“ (S. 79) Man könnte dies schon als einen ersten Schritt im Loslassen von den Pflichten, der Verantwortung und Selbstdisziplin sehen, denen sich Charlotte ihr Leben lang unterworfen hat. Sich nicht in der Lage zu sehen, der Enkelin zu geben, was diese wirklich braucht, ist schon ein Hinweis auf die Veränderung Charlottes, die die festgefügte Form, in die sie sich ihr Leben lang gezwängt hat, aufbricht und sich endlich zu einer Güte gegen sich selber befreit, die sie vorher nicht gekannt hat.

Als Besitzerin des Hauses und einer erheblichen Erbschaft hat sich Charlotte über lange Jahre um die Vermögensverwaltung gekümmert und vertrauensvoll mit ihrem Finanzberater Rungholt zusammengearbeitet. Dabei hat sie allerdings in den letzten Jahren wegen großer anderer Belastungen dessen Aktivitäten weniger genau verfolgt. Nun erkennt sie mit Sorge die „Unstimmigkeiten in den Finanzen“ (S. 75), die sich als Betrug erweisen und zum finanziellen Ruin Charlottes und ihrer Gefährtinnen führen. „Der Kerl hat mein gesamtes Vermögen veruntreut, […] meine Unterschrift mehrfach gefälscht, mit den übelsten Tricks Unsummen in die eigene Tasche gewirtschaftet“ (S. 114f.). Das hat er ihr „kalt ins Gesicht gesagt. Da war ein Schlag fällig und nötig“ (S. 116), berichtet Charlotte ihren Freundinnen. Sie erschlägt den Mann, der sie und die Mitbewohnerinnen um ihre Lebensgrundlage gebracht hat, mit einem Schürhaken, gezielt und kühl geplant, nicht im Affekt. Sie nennt es eine „wohlüberlegte, böse, geplante Tat“ (S. 118), weil Rungholt mit seinem hinterlistigen Betrug und dem „hämisch vorgetragenen Geständnis“ (S. 119) ihre Menschlichkeit verbraucht habe. Dabei wird die Tat gleichsam weihevoll untermalt durch das Läuten der „tieftönenden Glocken des Doms zur sechsten Stunde“ (S. 119). Gleichzeitig erlebt sie ihre Tat als Befreiungsschlag in doppelter Hinsicht: er befreit sie sowohl von ihrer Vergangenheit als auch von der Notwendigkeit, in die Zukunft zu planen. Zum ersten Mal fühlt sie sich wirklich frei (vgl. S. 117). Wegen ihres Handelns will Charlotte nur noch „im Düsteren […ihr] Wohlbehagen“ (S. 120) finden. Sie sieht sich als „eine Ausgestoßene“, die sich selbst „aus allen moralischen Verabredungen“ (S. 120), die sie auch für sich akzeptiert hatte, verabschiedet hat. Die Abgründigkeit ihrer Tat entspricht der Größe, zu der sie sich in ihrem Leben entwickelt hat, und sie überantwortet sich selbst „dem ägyptischen Gott der Auflösung der Finsternis und des Chaos“. (S. 120)

Der Erzähler unterbricht nach dieser Wendung in mythische Größe zwei Absätze nur mit dem Wort „Pause“ (S. 120), was den Leser dazu veranlassen kann, die gesamte Überhöhung von Charlottes Tat in historische und mythische Größe als ironische Distanzierung zu begreifen. Zwar hat sie sich vom Korsett ihrer stets formvollendeten Haltung befreit und sagt ohne Reue von sich, dass sie noch nie so milde gegen sich selbst gestimmt gewesen und ganz bei sich angekommen sei - ein Gefühl, das sie nicht kannte (vgl. S. 117). In ihrer Selbsterkenntnis wird klar, dass sie sich selber nie wirklich geliebt hat, sie hat „immer nur getan, was getan werden musste, was ein klug gewähltes Ziel erforderlich machte“ (S. 117), so habe man sie erzogen. Aber sie sieht die Befreiung aus den Zwängen der Konvention auch als eine Richtungslosigkeit, der ihr Leben nun ausgeliefert ist. „Es gibt kein Ziel mehr. […] Jetzt bin ich für andere nur noch gefährlich.“ (S. 117)

Die Zerstörung der Villa mit ihrem formvollendeten Lebensstil und ihren ästhetischen Schätzen sieht Charlotte als einen Moment der Explosion, in dem sie sich zum ersten Mal ganz lebendig und gegenwärtig fühlt. Sie erkennt, dass sie nie wirklich im Augenblick lebendig war, sondern immer nur „in den Figuren der Vorwegnahme“ (S. 129) gelebt hat. Charlottes Zerstörungswerk und ihre Selbsterkenntnis wird bedeutungsvoll überhöht, indem das von ihr verursachte Loch an der Wand mit dem „Sonnenemblem von Ludwig XIV“ (S. 129) verglichen wird, was man auch als Hinweis auf eine Neigung zu Hybris deuten kann.

Von den mythischen Figuren ist Charlotte offenbar der Schwan zugeordnet, „seit alters eines der edelsten Tiere“ (S. 133), wie dieser von sich selbst sagt. Er weckt zahlreiche Assoziationen (Leda, Lohengrin, Wappentier, Verkörperung von Schönheit, Reinheit, Absolutheit, Schwanengesang), die von der Antike bis in die Neuzeit mit ihm verbunden sind. Bei der Vorstellung bezieht er sich u.a. auf den namentlich nicht genannten Frühsozialisten Charles Fourier[2], der die Utopie einer reinen Welt entwarf, in der ganz andere Pflanzen und Tiere, so auch "Anti-Tiger" (S. 133), möglich wären, und den Begriff des Feminismus prägte. Der Schwan setzt sich als eine Art Alter Ego mit Charlottes Verfehlungen und missglückten Versuchen auseinander, das Leben als „Versuchsanordnung“ (S. 147) und „ständige Selbstüberprüfung unter dem Diktat der Pflichtgebote“ (S. 148) zu leben. Die Einsicht, dass sie weder sich selbst noch andere Menschen wirklich geliebt hat, ist als Resümee im Rückblick auf ein ganzes Leben, von dem Charlotte gedacht hatte, dass sie es eigentlich großartig im Griff gehabt habe, höchst bedauerlich. Dennoch verliert sie auch im Angesicht des Todes nicht ihre Haltung. Sie „stand aufrecht – erhobenes Haupt, vorgerecktes Kinn -, so wie sie gestanden hatte mit dem Schürhaken in der Hand“. (S. 151) Im Verlauf der Verhandlung übernimmt der Schwan mehr und mehr die Regie bzw. das Richteramt, und er ist es auch, der schließlich das Signal zum Aufbruch gibt.

Johanna

Die Binnenerzählung wird eröffnet durch Johannas Figurenrede. Mit 82 Jahren ist sie wohl die älteste der Frauen, „weitgehend bettlägerig[ ]“, heißt es zu Beginn (S. 12), wobei sich später herausstellt, dass sie sehr wohl in der Lage ist, sich mit ihrem Rollator selbständig im Haus zu bewegen. Sie lebt schon seit ca. vier Jahren im Haus. Charlotte hat sie vor dem Pflegeheim gerettet (vgl. S. 19) Als ehemals berühmte, aber nun vergessene Schriftstellerin hat sie in der Villa noch einen Roman geschrieben, der bis auf den letzten Satz fertiggestellt ist.

Mit ihrem Ruf „Unerhört“ beginnt der eigentliche Roman. Durch ihre „scharfe Stimme“ (S. 11) ist es ein schneidender Ruf, „der zuweilen wie ein Fluch klang“ (S. 12). Dieses Rufen, mit dem sie den anderen Bewohnerinnen auf die Nerven geht, zeigt, dass Johanna durchaus noch nicht mit dem Leben abgeschlossen hat. Man hat vielmehr den Eindruck, sie will von ihrem Bett aus noch teilnehmen an der Welt, vor allem will sie gehört werden. Mit dem Rufen und ihrer Reaktion auf die Kritik daran erfüllt Johanna das Klischee der unzufriedenen, verbitterten Alten, die sich über alles aufregt, denn es ist ja nicht ersichtlich, wogegen sie gerade protestiert. Stattdessen belästigt und provoziert sie ihre Umgebung nicht nur mit den Rufen, sondern auch mit unpassenden und unsensiblen Bemerkungen rücksichtslos, sie „tat sich keinen Zwang mehr an“, (S. 12), sie will sich nicht mehr durch Normen und Konventionen einengen lassen.

Das Klischee der mürrischen, nörgeligen Alten wird auf der Ebene der Fiktion unterstützt durch die Reaktionen der Umwelt. Dörte sieht in ihr eine röhrende Furie, die immer rumkrakeelt, aber harmlos ist (vgl. S. 16 u. S. 20). Für Janina ist sie die Verrückte, der sie das Essen aufs Zimmer bringen muss, da sie sich von den anderen isoliert hat und ihr Zimmer kaum verlässt. Die Mitbewohnerinnen kritisieren das Rufen zum Teil stark, halten es aber aus, weil sie keinen Streit wollen. Auf Charlottes mahnende Worte reagiert Johanna ablehnend (vgl. S. 19), auf Leonies Kritik mit Ironie (vgl. S. 22).

Johanna will gehört werden und noch am Leben teilnehmen. Das geht vor allem aus der Verteidigung ihrer Aktivitäten im Internet gegenüber Charlotte hervor. Sie lässt sich zu einer euphorischen und geradezu pathetischen Beschreibung der Möglichkeiten hinreißen, die das Internet bietet. Es wird deutlich, dass sie ein Mittel gegen das Vergessenwerden sucht, sie sucht Öffentlichkeit und Anerkennung als Schriftstellerin. Bei ihren Aktivitäten im Internet hat sie das Gefühl, noch etwas bewirken zu können. So beschreibt sie z.B., wie sie sich verschiedene neue Identitäten im Internet verschafft. Dies bewirkt bei ihr das Gefühl: „Ich bin nur, wenn man mich wahrnehmen kann“ (S. 18). Das Internet scheint ihr sogar eine Möglichkeit des Weiterlebens nach dem Tod, eine Zukunft, zu bieten, wogegen sie das Leben in der Villa als „Vorform […ihres] Sarges“ sieht (S. 19). Johanna als Figur weist auf die Brüchigkeit des Stereotyps der mürrischen Alten hin und lässt den Leser ahnen, dass mehr und anderes hinter dem Protestruf „unerhört“ stecken könnte. Dafür spricht die satirische Übertreibung der Häufigkeit der Rufe zu Beginn. Auch Leonies Überlegungen, ob Johanna sich vielleicht mit dieser „elenden Ruferei irgendwie entlastete“ (S. 30) und es sich dabei um „eine verkürzte Schöpfungsanklage“ handelte, weisen in diese Richtung.

In dem Gespräch mit Charlotte wird deutlich, dass Johannas Aktivitäten im Internet eine Flucht vor der deprimierenden Gegenwart sind. Sie fühlt sich in der Villa eingeschlossen. Sie will sich nicht damit abfinden, dass es keine Zukunft mehr gibt, sie will sich nicht mit den Gedanken an den Tod befassen, sie will noch nicht sterben. Dies zeigt sich auch darin, dass sie den letzten Satz ihres Romans noch nicht schreiben will, denn solange dieser nicht geschrieben ist, kann sie nicht sterben, sagt sie gegenüber Leonie (S. 41). Indem sie so ihre Ängste vor dem Tod benennt, wird sie zur Philosophin für letzte Fragen.

Am Tag des Geschehens erscheint Johanna sehr zur Überraschung Leonies nach langer Zeit erstmals wieder auf ihre Gehhilfe gestützt im Salon. Sie sucht offensichtlich die Gesellschaft ihrer Mitbewohnerinnen. Diese Veränderung in ihrem Verhalten verweist auf einen inneren Wandel, sie beweist noch nicht, dass sie nun mitfühlender geworden wäre. Aber ihre Einstellung zum Internet hat sich verändert. Das zeigt sich in dem anschließenden Gespräch mit Leonie. Zwar erkennt sie nicht, dass Leonie an ihren Ausführungen nicht interessiert ist, sondern spricht erregt, dozierend und energisch auf sie ein. Sie geißelt die kritiklose Anpassung der Jugend an ein Schönheitsideal und den Maßstab der permanenten Leistungssteigerung und ist froh, nicht mehr an dem Konkurrenzkampf der Jungen teilnehmen zu müssen (vgl. S. 43f.). Sie will andererseits aber auch nicht alt sein. In den Gesprächen zeigt sich Johanna als sehr bewusste und genau beobachtende Analystin ihrer Zeit. Sie sieht das Internet plötzlich kritisch und erkennt, wie es das Leben der Menschen beschleunigt, so dass keine Zeit zum Atemholen und Nachdenken bleibt (vgl. S. 46f.). Sie hat nun beschlossen, da nicht mehr mitzumachen. Die Zeiten, in denen sie sich das Zeitverlieren gestattet habe, erkennt sie nun als ihre besten Zeiten. Als Zeitverlieren (vgl. S. 48) sieht sie ziellos verbrachte Zeiten, die nicht einer bestimmten zweckgerichteten Aktivität gewidmet sind. Sie hat es jetzt aufgegeben, irgendetwas hinterherzurennen, und kehrt in die Gemeinschaft der Frauen zurück.

Ihre Stimmung bessert sich durch diese Einsicht jedoch nicht. Sie sitzt finster, bissig, zusammengesunken in ihrem Sessel, heißt es (vgl. S. 48). In einem Rückblick auf ihr Leben erfährt der Leser, dass in ihrer Literatur die hellen, schwebenden Töne vorherrschten, eine „Elfenprosa“ (S. 48), die jedoch nicht zu ihrem unruhigen, von Streit und Drogen beherrschten früheren Leben gepasst hatte. Es stellt sich die Frage: Wollte sie mit ihrer Literatur einen Gegenentwurf zu ihrem Leben schaffen, oder hat sie eine Rolle gespielt, um Anerkennung zu gewinnen? Für Johannas weitere Entwicklung sind nicht nur ihre Erkenntnisse über die Gefahren des Internet ausschlaggebend, sondern auch die Verzweiflung Nadines, nachdem diese von dem neuerlichen Ausbruch ihrer Krankheit erfahren hat. Nadines kämpferische Ansage, dass es ihr in Zukunft egal ist, was andere über sie denken oder reden, (vgl. S. 64), hat Johanna tief erschüttert. Sie ist der Auslöser für ihre Erinnerung an den einzigen Mann, den sie wirklich liebte und den sie verlassen hat, weil ihr das luxuriöse und abwechslungsreiche Leben an der Seite ihres Mannes sowie die Anerkennung ihrer Literatur wichtiger waren als die Liebe. Der Panzer, den Johanna um sich aufgebaut hatte, hat Risse bekommen (vgl. S. 65 u. S. 107). Sie geht auf ihr Zimmer, um den letzten Satz ihres Romans zu schreiben, ein Hinweis darauf, dass sie sich mit ihrer Situation und im Grunde mit der Endlichkeit, mit dem Tod, abgefunden hat.

Die hellsichtige Johanna ist die Erste, die die bevorstehende Veränderung ahnt, so orakelt sie: „Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. [...] Da ist etwas im Gange!“ (S. 101). Ihr Versuch, die alarmistische Aussage durch weitere Übertreibung (Weltuntergang, Endzeit) zu parodieren, lässt Panik unter den Freundinnen entstehen. Auf Charlottes Bekenntnis, ihren Vermögensverwalter erschlagen zu haben, reagiert nur Johanna gefasst und fragt sachlich nach. Johanna solidarisiert sich sogleich mit Charlotte und verspricht mitzugehen, „[...]wohin auch immer“ (S. 121). Bei der dann folgenden Abrechnung mit dem alten Leben und seinem Lebensraum ist Johanna „abgründig müde“ (S. 122) und gesteht, dass sie sich schon länger nicht mehr vorstellen konnte, dass ihr Roman in irgendeiner Weise von Bedeutung wäre, d.h.,sie verabschiedet sich von ihrer Autoren-Rolle. Sie bleibt aber der Literatur verbunden, indem sie Hölderlin zitiert: „‘April und Mai und Julius sind ferne/ Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne.‘" (S. 123) Nach der Zerstörungsorgie formuliert Johanna deren Fazit ebenfalls mit literarischem Bezug im weiteren Sinne: „Jetzt ist die Zeit gekommen, da der Märchensatz ,Etwas Besseres als den Tod finden wir überall’ seine Trostmacht verloren hat“ (S. 130), es gibt nichts mehr zu hoffen.

Johanna ist im Finale als phantastische Figur der kleine rundliche Mann zugeordnet, den sie am Nachmittag erstmals unter ihrem Fenster promenierend sieht und der ihr bezüglich Kleidung und Gang aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Sie ordnet ihn zuerst den 30er Jahren zu und der Croisette , dann findet sie ihn eher in den Bois de Boulogne im Jahr 1913 passend. Als er sie grüßt, indem er seinen Hut zieht und „einen kleinen albernen Hopser“ (S. 59) macht, zweifelt Johanna an ihrer Wahrnehmung.

Besagter rundlicher Herr stellt sich abends beim Besuch der merkwürdigen Gäste als Monsieur Charlus vor (vgl. S. 142). Ein Baron Charlus kommt in Prousts „ Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ im 4. Band im Kapitel „Sodom und Gomorrha“ vor. Reales Vorbild soll Montesquieu gewesen sein. Johanna kennt selbstverständlich diese literarische Figur und bemängelt als Kritikerin, die sie nun einmal ist: „Der wurde aber ganz anders beschrieben. Da ist keinerlei Ähnlichkeit mit den Bildvorgaben seines Schöpfers.“ (S. 142) Charlus kontert schlagfertig: „[…] ich tauche zu den inneren Bildern der Leser. Im Moment habe ich die Gestalt, die mir eine vierundachtzigjährige Leserin im Jahr 1953 gab. Und da Sie auch schon sehr betagt sind ...“ (S. 142) Als „Virtuose im Changieren zwischen dem Virtuellen und dem Realen“ (S.144) hat er in Johannas noch unveröffentlichtem Roman „herumgelesen“, wie er sagt, worauf sie – in einem Rückfall in „ganz weltliche Autoreneitelkeit“ (S. 144) – sein Urteil erbittet. Charlus äußert sich positiv, meint aber, sie hätte sich und die andern Frauen liebevoller darstellen können. Konkret wirft er Johanna vor, dass sie Liebe und Literatur verraten habe. Das bezieht sich darauf, dass sie dem einzigen Mann, den sie wirklich geliebt hat, nicht folgte. Der Verrat an der Literatur wird einerseits darauf bezogen, dass sie ihre hohen Ideale aufgegeben hat („Aufbruch ins Undenkbare“, S. 145), andererseits darauf, dass ihre Literatur und ihr Leben nicht zusammenpassten. Gegen letzteren Vorwurf wehrt sich Johanna, da man Leben und Werk nicht „verpantschen“ (S. 145) dürfe - was sie selbst aber in ihrem Roman über die alten Frauen in der Villa getan hat. Die allgemeine Aussage „In jedem Leben ist ein Verrat“ (S. 143) relativiert den Vorwurf gegenüber Johanna allerdings, da Verrat als im Leben unvermeidbar, als Teil jedes Lebens erscheint, ebenso wie Lieblosigkeit.

Johanna bereut ihre Lieblosigkeiten gegenüber ihren Mitbewohnerinnen, aber sie braucht offenbar doch Hilfe, um einzusehen, dass sie sich ein falsches Bild von sich selbst gemacht hat: „die knurrige Alte, die das Urteil der Welt nicht mehr braucht.“ (S.145) Was sie aber braucht, ist die Welt der Villa, d.h. ihre Mitmenschen, ihre Schicksalsgenossinnen. Ebenso benötigt sie offenbar Monsieur Charlus, ihr literarisches Alter Ego, für literaturwissenschaftliche Betrachtungen (z.B. über den Bezug Autor-Werk oder Autor-Leser, über das Wesen der Fiktion u.a.), aber auch für ihre Selbsterkenntnis, die schon vorher begonnen hatte. Er ist wie ein innerer Gesprächspartner, eine Kopfgeburt, ein Widerpart, der auch nicht immer Recht haben muss, aber Teil ihrer Reflexionen ist und sie dazu bringt, den ungelebten Teil ihres Lebens zu betrachten. Sein und Johannas Lächeln am Schluss der Unterhaltung wecken Assoziationen zur Erlösung durch das Jüngste Gericht; die Figur des Charlus erinnert an den Seelenführer, wie ihn z.B. Thomas Mann im "Tod in Venedig" in der Figur des Jünglings Tadzio gestaltet hat, allgemein Psychopompos[3], der sie sanft lächelnd in den Tod geleitet. Religiöse Sehnsüchte und Hoffnung auf Hilfe und Begleitung auf der letzten Strecke werden in ihm persifliert. Gleichzeitig ist der Dialog mit ihm ein Bild für einen Zuwachs an Klarheit, Selbsterkenntnis und Selbstvergewisserung, die ihr Trost geben.

Nadine

Nadine hat für die Romanhandlung gewissermaßen eine Katalysatorfunktion, sie glaubt bereits am frühen Morgen eine eigenartige Stille zu hören (vgl. S. 127), erfährt dann an diesem Tag, dass sie erneut an Krebs erkrankt ist, und löst schließlich im Salon die Zerstörungsorgie aus, indem sie durch heftiges Gestikulieren „ein Kuchentellerchen zu Bruch“ (S. 124) gehen lässt.

Nadine lebt im Haus seit dem ersten Ausbruch des Brustkrebses vor etwa vier Jahren, als dessen Folge sie eine Brust entfernt bekommt und durch ein Implantat ersetzen lässt. Ihr Geburtsjahr 1941 lässt sich daraus erschließen, dass sie 10 Jahre alt war, als ihr Vater, ein Geologe, 1951 bei dem völlig unerwarteten Ausbruch des Vulkans Lemington (vgl. S. 103) [4] stirbt[3]. Seither hat Nadine Angst vor der Unbeherrschbarkeit der Natur und der tödlichen Gefahr, die von ihr ausgeht – die Gefährlichkeit der Natur zeigt sich ihr im Sand als unsicherem Boden, in Sandhaufen und Pyramiden, die sie an Vulkane erinnern (vgl. S. 102ff.), aber auch in der Sexualität mit ihrem Kontrollverlust. Nadine flüchtet sich in das ausschließlich Positive, sie wird „eine idiotische Priesterin des positiven Denkens“ (S. 108), wie sie sich später selbst nennt. In der künstlichen Welt der Mode und des schönen Scheins führt sie ein glamouröses Leben, lässt sich nur auf oberflächliche, kontrollierbare Weise auf Beziehungen zu Männern ein, indem sie mehrfach heiratet und viele Liebhaber hat, über die sie durch ihr Äußeres Macht zu haben glaubt (vgl. S.83). Das verhindert nicht, dass sie „von mindestens drei Ehemännern im Stich gelassen und vom letzten Liebhaber obendrein finanziell ruiniert“ (S. 26f.) wird.

Nach ihrer Operation hat sich Nadine gesundheitlich erholt, aber verspürt keine sexuelle Lust mehr. Sie ist für die Haushälterin Janina die „Kokette“ (vgl. S. 40). Das Porzellan und die Tischtücher, die sie mit in die Villa gebracht hat, werden von Janina als „chichi“ (S. 75) beurteilt. Nadine weigert sich zu altern, indem sie die schulterlangen Haare rostrot färbt, durch sie in einer Geste streicht, die aus früherer Zeit stammt (vgl. S. 27), indem sie mit Anfang 70 wie ein Vögelchen isst, immer noch eine Wespentaille hat (vgl. S. 72) und sich, melodisch wie ein Vögelchen zwitschernd (vgl. S. 20), durch die Villa bewegt. Ihre Kleidung ist extravagant, mondän, immer noch die Kleidung einer jungen Frau („der Ausschnitt etwas zu tief, der Rock etwas zu kurz, der Pullover etwas zu eng“, S. 84), um sich ihrer Kontrolle über die Welt zu versichern, wenn sie den Flirtreflex der Männer erlebt.

Aus der Sicht der übrigen Bewohnerinnen verhält und kleidet sie sich nicht mehr altersentsprechend, sie ist eher eine „unwürdige Greisin“ (S. 84), womit nicht die positive Konnotation Brechts gemeint ist. Nadine, die das Kaffeetrinken mit Dr. Rungholt zur Bestätigung der eigenen Attraktivität nutzen möchte, wird beispielsweise von Johanna abwertend als „Textilprinzessin“ bezeichnet, die sich für den öligen Kerl aufrüsche, aber dreimal in der Woche ihre Windel nicht finde (S. 57). Passend zur Modebranche ist Dekoration der Wohnung, z. B. das Arrangieren der Blumen und das Drapieren der Zierkissen (vgl. S. 25), Nadines Lieblingsbeschäftigung. Ihr Mitgefühl für alternde, jammernde Freundinnen stößt dagegen schnell an seine Grenze (vgl. S. 28). Emotionale Nähe zwischen den Bewohnerinnen des Hauses besteht kaum, vor allem Johanna reagiert abwertend und „angeödet“ (S. 53) auf Nadine, die ihrerseits Johanna gegenüber Scheu empfindet (vgl. S. 107). Allgemein herrscht Unverbindlichkeit; man trifft sich zwar beim Essen, geht aber danach seiner Wege. Nur Charlotte weiß, dass Nadine fürchtet, erneut an Krebs erkrankt zu sein.

Die erneute Krebsdiagnose empfindet Nadine offensichtlich als Todesurteil. Zum ersten Mal ist es Nadine nun unwichtig, wie sie auf die anderen wirkt. Sie wirft einen gleichgültigen Blick auf die seit Langem zum ersten Mal wieder im Salon erscheinende Johanna, ihre Stimme bekommt eine ungewöhnliche Schärfe, einen grellen, giftigen Tonfall (vgl. S. 53), als sie sich traut, ihren Ärger über Johannas Rauchen und deren „Unerhört“-Rufe zu äußern. Leonie nimmt an Nadine eine „Entstellung aufs Ganze“ (S. 53) wahr. Nadines Körperhaltung hat sich geändert: Sie wirkt ungeübt kämpferisch; sie zwitschert nicht mehr melodisch, sondern haut mit der Hand auf den Tisch, auf den sie ebenfalls die für Rungholt bestimmte Torte knallt. Ihre Sprechweise hat sich geändert: Sie spricht auf einer Tonhöhe wie ein Automat, ihre Bewegungen wirken wie ferngesteuert (vgl. S. 55).

Zunächst setzt sie sich abseits von den anderen vor den Fernseher, zappt durch die Programme; sie sieht sich dann wie mit höchster Konzentration und in großer Lautstärke die Verfilmung eines Trivialromans an, sie flüchtet sich in das Klischee als das absolut Vorhersehbare, an die Sicherheit des guten Endes ( vgl. S. 63f.). Dabei formuliert sie gegenüber Johanna in kämpferischem Ton ihre veränderte Lebenseinstellung: „Ich will mich nicht mehr genieren, wenn ich etwas tue, das unter deinem Niveau ist“ (S. 64). Danach fällt Nadine in Erstarrung. Anschließend sieht sie im Fernseher „Bilder vom Schauplatz eines Krieges oder einer Katastrophe. Menschen rannten. Sie waren pure Angst.“ (S. 82) Den Ton hat Nadine ausgestellt, daher wirkt die dargestellte Katastrophe universal. Nadine erklärt dazu, die äußere Welt dringe nicht durch das Grauen, das sie in sich trage (vgl. S. 82), sie habe einen ganz fremden, neuen Blich auf die Welt um sie herum (vgl. S. 89), „die Welt hat fremde Kleider“ (S. 107).

Indem sie entscheidet, dass die für Rungholt bestimmte Torte jetzt von den Frauen gemeinsam gegessen werden soll, gibt sie das Flirtspiel, das bisher ihr Leben bestimmt hat, auf. Sie gesteht sich vor den anderen ihr Alter ein, die Falten und Narben der Operation (vgl. S. 83f.), den Stützstrumpf unter dem geblümten Kleid (vgl. S. 128). Es ist, als sei sie aus ihrer Märchenwelt aufgewacht, zu der auch gehörte, die Bedrohlichkeiten jeder Art perfekt auszublenden (vgl. S. 108), sie mit dem vorgeblich medienkritischen Dreischritt „Alarm – Geschwätz – Amnesie“ abzutun und sich ein „Recht auf Ignoranz“ (S. 108f.) zuzugestehen, das sie jetzt als falsch erkennt.

Angesichts ihrer tödlichen Krankheit wird Nadines bisheriges Bedürfnis nach Kontrolle der äußeren Welt überflüssig, daher kann sie sich den anderen Bewohnerinnen mit einer neuen „Zutraulichkeit“ (S. 107) zuwenden. Die Beziehungen der Bewohnerinnen verändern sich, sie scheinen zum ersten Mal Verständnis und Mitgefühl zu entwickeln. Johanna ist tief berührt von Nadines Verzweiflung (vgl. S. 65) und gesteht ihre Bewunderung für deren Mut, sich unter Niveau zu begeben (vgl. S. 84), womit Nadine zu einer unwürdigen Greisin im Sinne Brechts wird. Die Frauen beziehen sich aufeinander. Auch ohne sich verabredet zu haben, treffen sie sich im Salon. Man isst gemeinsam, wenn auch ohne Appetit, bleibt auch danach gemeinsam im Salon (vgl. S. 89), legt Rechenschaft ab über das, was man gerade machen möchte und wie man den anderen und sich selbst gesehen hat und nun sieht. Alle sprechen für sich und in den Raum hinaus aus, was ihnen auf der Seele liegt (vgl. S. 123f.). Nach der Zerstörungsfeier ist jede ganz bei sich angekommen - der von Nadine immer gefürchtete Vulkan ist ausgebrochen -, erst danach können sie gemeinsam wegfahren, und der Vulkan kann wieder zur Ruhe kommen.

Als phantastische Figur ist Nadine das blondgelockte kleine Mädchen mit blauem Schäufelchen zugeordnet, das am Fluss eine Pyramide aus Sand baut. Das Mädchen führt beim Besuch in der Villa liebevoll den großen Hund. Zwischen Nadine und dem kleinen Mädchen finden sich auffallende Parallelen, aber auch offenkundige Gegensätze. Das Mädchen sagt von sich: „Ich war ein wildes Mädchen. Ich fühlte mich den Hunden und Pferden näher als den Menschen. Für so ein Mädchen ist die Pubertät schwierig, daher blieb ich immer Kind und baute auf Sand.“ (S. 135) Der gewollten Kindlichkeit entspricht bei Nadine die Verweigerung des Altersprozesses. So changiert die phantastische Figur „für den Bruchteil einer Sekunde“ zwischen „Greisin“ und „rosigem Püppchen“ (S. 136), ähnlich dem rundlichen Mann, dessen äußere Veränderung ein Spiegel der inneren Bewegung von Johanna ist (vgl. S. 146). Das Mädchen deutet Nadines bisheriges Leben als Flucht in die Schneewittchen-Märchenwelt, wenn es sagt: „Du hast dich versteckt, hinter den sieben Kleidern, in den sieben Betten deiner Ehemänner und Liebhaber und auf den Schickimickipartys“ (S. 140), wo Nadine ein Leben lang wartet (vgl. S. 124) in Angst vor dem letztlich unvermeidlichen Vulkanausbruch, der die Scheinwelt zerstört und sie wieder in Kontakt mit der mühsam geleugneten Welt der Natur bringt.

Nadine verkörpert eine der Varianten, wie sich der Mensch in seiner Ohnmacht angesichts der Sterblichkeit verhalten kann, nämlich den vergeblichen Versuch, in einer künstlichen Scheinwelt zu leben, in der es möglich zu sein scheint, die Kontrolle über die Zeit (nicht zu altern) und über die Beziehungen zu anderen Menschen (die Manipulierbarkeit des Flirtverhaltens) zu bewahren, den Tod zu negieren. Sie hat damit zentrale Bedeutung für den Roman, weil es Nadines Angstbild des Vulkans ist, das im Handlungsverlauf des Romans Gestalt annimmt. So, wie der Vulkan Lamington Jahrtausende lang unbemerkt schlief, bevor er ausbrach und seine Lavadome auftürmte, um sie durch den sich aufstauenden Überdruck zum Explodieren zu bringen, so baut sich der Druck in der Villa auf, bis es an diesem Tag zur Eruption kommt. Dazu passt, dass gerade das kleine Mädchen mit seinem Schäufelchen die Verhandlung bzw. das Finale eröffnet (vgl. S. 136).

Leonie

Die tieftraurige Leonie wird als uneitle Frau mit gepflegter Erscheinung beschrieben, allerdings ohne konkrete Altersangabe, die häufig murmelt oder summt. Dörte nennt sie eine Busenfreundin von Charlotte, die möglicherweise früher einmal Lehrerin war (vgl. S. 20). Charlotte hat sie zu sich in die Villa geholt, weil sie nach dem Unfalltod ihres Ehemannes und der beiden Kinder vor 6 Jahren in gewollter Einsamkeit in ihrer abgedunkelten Wohnung gelebt hat. Sie scheint mit Charlotte schon sehr lange befreundet zu sein, was die Daten der gemeinsamen Opernbesuche (1961, 1974, 1982 und "letzte Woche", vgl. S. 27) belegen.

Im Rahmen der Wohngemeinschaft kümmert sie sich um die Einkäufe und den Speiseplan des jeweils nächsten Tages und bespricht das mit Janina. Leonie wird als höflich beschrieben, auch wenn sie die anderen kritisiert, sie bleibt geduldig, obwohl der Monolog von Johanna sie ermüdet (vgl. S. 42f., S. 46f.), und versucht zu vermitteln, als Nadine und Johanna sich streiten (vgl. S. 53). Trotz der Gemeinschaft mit den drei Frauen bleibt sie in sich gekehrt und wirkt ständig etwas entrückt, als befände sich eine Milchglasscheibe zwischen ihr und der Welt. So jedenfalls charakterisiert Janina die Frau, die sie bei sich „die Traurige“ (S. 55f.) nennt.

Leonie kann allerdings auch schärfere Töne anschlagen und ist zu ironischer Gegenwehr fähig (vgl. S. 47, 81). So hält sie im spitzzüngigen Dialog mit Johanna stand (vgl. S. 21f.). Im Gespräch mit Charlotte reagiert sie einmal etwas sarkastisch (vgl. S. 32f.), als diese sie auffordert, sich zusammenzunehmen und sich mit dem Alter als Vorbote des Todes abzufinden. Die Diagnose von Nadine löst in ihr Mitleid aus, aber sie fühlt sich hilflos. Sie kann keinen Trost geben und hat auch keinen für sich selbst. Sie macht sich auch Gedanken über Johanna (vgl. S. 29) und reflektiert über das eigene Gemurmel, das als Form der Selbstvergewisserung und Beruhigung dienen mag, aber auch als unentwegter Versuch der Kontaktaufnahme mit ihren Verstorbenen oder als mechanische Fortsetzung ihres Berufes als Lehrerin gedeutet werden kann. Sie verändert sich nicht, sondern bleibt eine statische Figur (vgl. S. 32). Ihre tief depressive Stimmung, in der das Leben als aussichtslos erscheint, demonstriert besonders deutlich der Traum, den sie während der Mittagsruhe in ihrem Zimmer hat: In einer „Höllenfahrt“ (S. 87) rudert sie mit dem Boot unter größten Mühen endlos im Kreis, weil es die prophezeite Insel nicht gibt.

Nach Nadines schlagartig verändertem Verhalten scheint sich auch Leonie am Nachmittag im Gespräch mit Johanna und Nadine im Salon zu verändern. Sie behauptet, seit dem Tod ihrer Familie keine Furcht mehr zu kennen, sie trinkt zu ungewöhnlicher Zeit Alkohol und zerstört mit einem Champagnerkorken unbeabsichtigt den Kristallleuchter. Nach Charlottes Mord ist sie zuerst sprachlos, reagiert aber dann wie gewohnt, nämlich vernünftig. Sie ist um eine praktische Lösung des Problems bemüht und bietet Charlotte die psychologische Erklärung an, dass jeder in extremen Situationen zu solch einer Tat fähig sei. Die gemeinsame Zerstörung der Inneneinrichtung wirkt zunächst auch für Leonie wie eine Katharsis.

Allerdings verändert sich Leonie nicht wirklich, denn in der absurden Verhandlung mit dem kleinen Mädchen ist sie wieder in ihre Traurigkeit zurückgekehrt und akzeptiert Pluto als Begleiter und Tröster für die letzte Lebenszeit. Und sie akzeptiert auch, dass diese ohne Hoffnung für sie sein wird (vgl. S. 137f.). Leonie hat diesen alten Hund schon mehrfach fasziniert beobachtet (vgl. S. 31), da er ihr wie ein unbekanntes Wesen aus urweltlicher Zeit vorkam und sie sich für einen Augenblick mit ihm verbunden fühlte. Diese Verbundenheit mit Pluto, nach antiker Mythologie dem Gott der Unterwelt, kann wohl als Hinweis auf die Verbundenheit mit ihrer toten Familie gesehen werden.

Dörte und Flocke

Charlottes siebzehnjährige Enkelin Dörte, in ihrer Clique „Sexie-Dörte“ (S. 13f.) genannt, wird als „ratlose Göre von ratlosen Erzeugern bei der Vorgängergeneration geparkt“. (S. 14) Zuvor hatte sie „das Gefährliche gesucht, […] war dann kurz an einen sozialen Abgrund getreten – und hatte sich sogleich sehr geängstigt“. (S.14) Davon übrig geblieben ist womöglich der Slang, in dem sie sich äußert: „[…] jetzt bin ich eben hier, in der madigen Geronten-WG bei meiner Großmutter und ihren gruftigen Freundinnen, den drei Alten, die sie in ihre feudale Bude gelockt hat.“ (S.17) Diese Redeweise ist Dörtes Alleinstellungsmerkmal und macht sie zur Kontrastfigur in der Villa.

Die alten Frauen interessieren sie nicht. „Nur mit ihrer Großmutter hatte sie immer mal wieder Zeit verbracht. […] Sie hatte klaglos und willig Anordnungen entgegengenommen, die sie, wären sie von ihren Eltern ergangen, auf die Barrikaden getrieben hätten.“ (S. 21) Ein später, energischer Erziehungsversuch, dem Dörte mit ihrem allerdings wenig ernsthaft wirkenden Plan, sich ganz neu zu erfinden (vgl. S. 23), zu entsprechen scheint. Ihre Entwicklung bleibt im Still- oder Wartestand.

Um ihrer Langeweile und der altersbedingten Isolation zu begegnen, hat Dörte den braven und schüchternen Mitschüler Flocke, der wegen seiner Verliebtheit für sie brauchbar ist (vgl. S. 34), eingeladen. Der Kontrast zwischen den Teenagern wird u.a. durch das Urteil der Haushälterin gezeigt. „Janina konnte Dörte nicht leiden.“ (S. 45) Flocke dagegen tut ihr „fast“ leid. „Warum […] sind es immer die Netten, die so schlecht behandelt werden?“ (S.61), fragt sie sich, als sie beobachtet, wie Dörte mit ihm umspringt. Der neunzehnjährige Flocke wird als „ruhiger Typ, unaufgeregt, geduldig“ (S. 12) sowie „überdurchschnittlich durchschnittlich“ (S. 13) vorgestellt. Dörte ist seine „erste und – wie er dachte – seine große Liebe“. (S. 13) Im Gegensatz zu seiner Angebeteten entwickelt sich Flocke im Verlauf des Zusammenseins, da er festellen muss, „dass ihm Dörtes Verhalten nicht gefiel“. (S. 61) Während es zwischen Großmutter und Enkelin kein Gespräch auf Augenhöhe gibt, kommt es zwischen Charlotte und Flocke zu einem relativ langen, erstaunlich offenen Gespräch über ein Buch, das beide gelesen haben und das eines der Lieblingsbücher von Johanna ist (vgl. S. 68f.).

Janina

Haushälterin Janina vertritt als einzige Figur die mittlere Generation. Sie ist allein erziehende Mutter eines 16-jährigen Sohnes, der aus einer Affäre mit einem verheirateten Mailänder hervorging, dem sie außerdem ihre hervorragenden Kenntnisse der italienischen Küche verdankt (vgl. S. 44, 72). Janina kam mit 13 Jahren aus einem östlichen europäischen Land, worauf ihr Name und ihr Akzent hindeuten (S.75f.). Sie hat sich die deutsche Sprache erobern müssen und ist nun stolz auf ihr korrektes und reichhaltiges Deutsch (S. 75). Am Tag des Geschehens ist Janina wegen des bevorstehenden Besuchs ihrer in Haushaltsdingen überaus pingeligen Mutter in Eile.

Janinas Arbeit als Haushälterin, die sie gern tut, wird geschätzt, was sich auch darin ausdrückt, dass sie nach dem Verschwinden der vier Frauen einen „dicken“ Umschlag von Charlotte im Briefkasten findet (S. 157). Die Haushälterin hat ihre Arbeitgeber etikettiert: die Chefin (Charlotte), die Verrückte (Johanna), die Kokette (Nadine), die Traurige (Leonie), die Junge (Dörte) (vgl. S. 55) – Belege für an der Oberfläche bleibende Beziehungen, verbunden mit einer Prise Verächtlichkeit, von der nur Charlotte, die sie ausnahmslos bewundert (vgl. S. 55), ausgenommen bleibt. Trotz fehlender persönlicher Beziehungen hat Janina ein feines Gespür dafür, was diese Welt zusammenhält, wie fragil diese Ordnung ist und wodurch sie gestört wird (vgl. S. 56f.). Wie ein Seismograph nimmt sie die Besonderheiten und Unregelmäßigkeiten dieses einen Tages wahr, auf die sie sich keinen Reim machen kann (S. 39f., 55f., 73, 76, 91f.), die aber jedes Mal Unruhe in ihr auslösen. Die Freude, dass sie an diesem Tag unerwartet früh nach Hause gehen darf, wird von der latent vorhandenen Beunruhigung über die Ungewöhnlichkeit dieses Tages allerdings nur wenig beeinträchtigt – ein Indiz für die emotionale Distanz zwischen ihr und dem Quartett der Frauen.

Janina verkörpert so etwas wie den gesunden Menschenverstand und macht den Leser, mit dem sie den Blick von außen auf das Leben in der Villa teilt, aufmerksam und neugierig; auf der Folie ihrer Normalität hebt sich die Ver-rücktheit der vier Frauen umso stärker hervor. Ihre literarisch-poetologische Funktion lässt sich vielleicht vergleichen mit der des Chores im antiken Drama, der sowohl kritischer Kommentator als auch Volkes Stimme war.

Janinas Rolle ist nicht auf Entwicklung angelegt; sie wird zu Beginn der hochdramatischen Steigerung aus dem Geschehen herausgenommen (S. 92). Im Rahmentext kommt sie nochmals vor als Zeugin der am Tatort vorgefundenen Situation (vgl. S.156f.). Als Vertreterin des mittleren Alters steht sie wie Jean und Mary, die Figuren der Rahmenerzählung, zwischen den Jungen, vertreten durch Dörte und Flocke, und den Alten. Wenn man davon ausgeht, dass Zuschreibungen wie „mit beiden Beinen auf der Erde stehend“, „lebenstüchtig“, „pragmatisch“, „im besten Alter“ u. Ä. vor allem dem mittleren Lebensalter zugeordnet werden, kann Janina, nach allem, was wir über sie erfahren, als durchaus typische Vertreterin der mittleren Generation gesehen werden – einer Generation, für die sich i. Ü. noch keine Alters-Topoi finden lassen, es sei denn der Topos eines „leeren“ oder „reinen“ Signifikanten, also eines Signifikanten ohne Signifikat.

Spiel mit der Fiktion

Mottos

Bovenschen stellt ihrem Roman 3 Mottos voran, von denen das zweite und dritte dubioser Herkunft sind. Die angebliche Autorin Johanna Tresta ist in einschlägigen Katalogen, Bibliotheken und Suchmaschinen nicht zu finden. Ein Motto aus einem unveröffentlichten Essayband, für den aber ein in der Zukunft liegendes Erscheinungsjahr angegeben ist, irritiert den Leser ebenfalls und lässt die Vermutung entstehen, dass es sich bei Johanna Tresta um die im Roman nur mit dem Vornamen bezeichnete Schriftstellerin handeln könnte. Ebenfalls naheliegend wäre die Annahme, dass es sich um ein Pseudonym der Autorin handelt. In beiden Fällen bleibt festzustellen, dass die Autorin Silvia Bovenschen hier mit dem Leser spielt, ihm Rätsel aufgibt. Denn inhaltlich sind die Mottos sehr anregend und geben einen Vorgeschmack auf die im Roman enthaltenen bzw. von ihm ausgelösten Reflexionen. Sie fallen durch das Paradoxon als gedankliche Form auf, das beim zweiten Motto auf das existentielle Thema der Unsterblichkeit bezogen wird und beim dritten Motto auf das Verhältnis des Autors zum eigenen Werk, genauer: zu dessen Verselbständigung qua Sprache, durch die es zu einem Objekt der Außenwelt wird.

Das erste Motto des Romans ist dagegen authentisch. Für die im Zitat formulierte Negation des bis dahin für wahr Gehaltenen hätte Bovenschen auch manch anderen Autor von Descartes bis Wittgenstein zitieren können, kaum jedoch einen derart wenig bekannten wie Leonid Dobycin [5]. An dem russischen Autor, der 1935 in die Schusslinie der stalinistischen Literaturkritik geriet, wird heute „der furchtlos jeder Illusion oder Beschönigung entgegenstehende Blick“[4] gerühmt, der offenbar auch Bovenschen imponiert und den sie sich deshalb verordnet hat.

Rahmen und Erzähler

Die Struktur des Romans ist durch eine Rahmenerzählung [6] bestimmt, die die Binnenerzählung einfasst, so dass sich zwei Erzählschichten ergeben. In der Rahmenerzählung lernt der Leser Jean und Mary kennen, „ein Drehbuchautor und eine Journalistin“ (S. 7), die als liebendes Paar vorgestellt werden, die junge Frau ist im dritten Monat schwanger. Jean wird von Mary aufgefordert, ihr von den Ereignissen „in der Villa deiner Großtante“ (S. 7) zu erzählen, und wird damit zum Erzähler der Binnenhandlung. Zunächst aber unterhält er sich mit Mary über die Voraussetzungen seines Erzählens, wodurch die Reflexion über die Wahrheit der Geschichte angestoßen wird. „Ach, ich weiß doch selber nichts Genaues“ gibt Jean zu, der lediglich über Informationen aus zweiter (Janina, Flocke und Dörte) und dritter Hand („Sensationsreporter“ S. 8) verfügt. Also lockt ihn Mary: „Dann erzähl eben, wie es gewesen sein könnte. […] Mach, was du so gut kannst. Mach einen Film daraus.“ (S.8) Jean befreit sich von den disparaten angeblichen Fakten und kommt auf diese Weise der Geschichte näher. Er erkennt eine „seltsame Zuspitzung […] eine Folge von Seltsamkeiten an einem einzigen Tag, an einem einzigen Ort. Wie ein absurdes Bühnenstück.“ (S. 8) Jean darf durch Einfühlung und Inspiration seine Sicht auf das mysteriöse Geschehen anbieten, wozu er sich als Drehbuchautor, bei dem Phantasie in Wort und Bild gefragt ist, bestens eignet.

Erzählt wird die Rahmenhandlung von einem übergeordneten Erzähler, der in der 1. Person Plural spricht, was man als Pluralis Majestatis verstehen kann, womit die Machtposition des Erzählers betont, zugleich aber auch eine Allianz mit dem Leser gebildet wird, wenn die Vorstellung der Rahmenfiguren Jean und Mary mit den Worten „Ja, so wollen wir sie sehen“ (S. 7) abgeschlossen wird. Auch die gleich im ersten Satz auffallende Ortsbestimmung in Parenthese:„ Da […], sagen wir in Malibu“ (S. 7) unterstreicht die Verfügungsgewalt des Erzählers, die ihn zum Erfinder des Erzählten werden lässt. Während der Ort Malibu offenbar in Verbindung zur Tätigkeit als Drehbuchautor steht, wirkt der große Hund, der zu Marys Füßen schläft, unmotiviert; im Rückblick erscheint er als Vorwegnahme des sehr alten mythischen Hundes Pluto, der Leonie zugeordnet wird und als erste der phantastischen Figuren in der Binnenerzählung vorkommt (vgl. S. 30 u. 138).

Genau „diese spukigen Ausflüge ins Phantastische“ (S. 153) greift Mary, die als Journalistin laut Jean eine „,Fanatikerin des dreckigen Realismus‘“ (S. 153) ist, im abschließenden zweiten Teil der Rahmenerzählung an. Jean verteidigt sich damit, dass ihm mit Blick auf die Erwartungen des Publikums kein anderer Schluss eingefallen sei: „[…] die banale, alltägliche unabwendbare Ausweglosigkeit, […] das auslaufende Leben, den Tod als Normalfall, dessen Bebilderung haben sie [die Leser] nicht so gern.“ (S. 154) Marys von vielen Lesern geteilte Vorliebe für Romane, in denen „alles der Gewohnheit und der Wahrscheinlichkeit gemäß und plausibel und […] leicht vorstellbar erklärt wird“ (S. 158), stellt Jean die Welt voller Nachrichten gegenüber, die „unbefriedigend und absurd und allenfalls mit Mühe vorstellbar“ (S. 158) sind. Folglich ist seine ins Phantastische ausufernde Geschichte nicht unrealistischer als die angeblichen Fakten. Er zieht außerdem einen Vergleich zur Oper, in der er die einzige Kunst sieht, die gleichzeitig ganz Unterschiedliches, ja Gegensätzliches zum Ausdruck bringen, aber doch durch die Harmonik der Musik auf etwas Gemeinschaftliches“ (S. 158) verweisen könne.

Beide Erzähler, sowohl Jean als auch der auktoriale Erzähler der Rahmenhandlung, vertreten den Typus des unzuverlässigen Erzählers. Besonders Jean betont das Missverhältnis zwischen objektiven Informationen und freier Erfindung, also den fiktionalen Charakter seiner Geschichte. Die Gründe, die er für sein Erzählprinzip anführt, lassen den Leser ahnen, dass Wahrheit nicht vorschnell als Wirklichkeit gesehen werden kann und eine erfundene Geschichte mehr Wahrheit enthalten kann als die Realität.

Gattungsmerkmale

Mit der Angabe „Roman“ unter dem Titel legen Autorin bzw. Verlag präzise fest, um welche Gattung es sich bei dem Text handelt. Das Vorhandensein von gleich zwei Erzählern sowie das Reflektieren über Erzählen, Geschichte und Wahrheit passt zu dieser Einordnung. Schaut man jedoch den Text genauer an, so kommen Zweifel auf. Der relativ geringe Umfang des Werkes lässt erkennen, dass epische Breite nicht zu erwarten ist, aber deren Fehlen dürfte wohl kaum ein Ausschlusskriterium für die Gattung Roman sein. Eher nachdenklich stimmen die in der Rahmenerzählung von Jean und Mary angestellten Vergleiche mit Bühnenstück (vgl. S. 8), Märchen und Fabel (vgl. S. 153) und Oper (vgl. 158). Merkmale eines dramatischen Textes lassen sich denn auch wirklich finden. Sehr offensichtlich sind die zeitliche und räumliche Beschränkung der Geschichte auf einen Tag und einen einzigen Ort, nämlich die Villa. Die zeitliche Festlegung der Handlung wird durch fortlaufend den Text gliedernde Zeitangaben besonders betont, das Geschehen beginnt um „10 Uhr 03“ (S. 11), die letzte Zeitangabe lautet „18 Uhr 03“ (S. 112), womit die ebenfalls gleich zu Beginn angegebene Dauer „noch 8 Stunden“ (S. 11) erfüllt wird. Gleichzeitig erzeugen die Zeitangaben Spannung und erwecken den Eindruck, dass das Geschehen exakt dargestellt bzw. rekonstruiert wird, wofür es einen Grund, nämlich „den grausigen Fund in der Villa“ (S. 8) geben muss, über den der Leser nun mehr erfahren will.

Die Einhaltung der aristotelischen Regel von den drei Einheiten [7] erstreckt sich auch auf die Handlung, deren Anfang (Entdeckung finanzieller Unregelmäßigkeiten), Mitte (Besuch des Vermögensverwalters) und Ende (Charlottes Totschlag desselben) dem Leser präsentiert werden. Das Zerstörungswerk der vier Frauen bildet den Höhe- und Wendepunkt des dramatischen Geschehens, dem dann das phantastische Finale folgt, das opernähnliche Züge hat. Dessen Sonderstellung wird auch daran erkennbar, dass das 6. Kapitel anders als die vorherigen keine Zeitangabe hat, ein Hinweis auf das Ende des realistischen Erzählens.

Passend zum Bühnenstück sind weiterhin der hohe Anteil von Dialogen sowie die Gliederung des Textes durch Auf- und Abtritte der Figuren bzw. Wechsel der Schauplätze innerhalb der Räume der Villa.

Phantastisches Finale

Eine Zäsur im geregelten Ablauf des Lebens in der Villa zeigt sich schon, als Charlotte Janina nach Hause schickt. Mit der Zerstörung des Salons, dem eindrucksvolles Bild für die Befreiung der Frauen von Zwängen und Konventionen, beginnt dann das absurde Theater, das eine Art Erweckungserlebnis darstellt, indem es die Frauen ihre Versäumnisse und Fixierungen erkennen und eingestehen lässt, worauf sie dann gewissermaßen geheilt und geläutert aus dem Haus und damit ihrem alten Leben mit ihren Begleitern für „das letzte Kapitel, die letzte Reise, eine Dampferfahrt auf der Styx ...“ (S. 149) verschwinden können.

Zwischen den im letzten Kapitel auftretenden seltsamen Figuren und den vier Frauen besteht jeweils eine innere Beziehung. Die Frauen haben in ihrem Leben einen entscheidenden Teil von sich abgespalten, sie haben ihre Gefühle nicht zugelassen. Ihr verdrängtes inneres Erleben wird ihnen nun im Finale mit Hilfe der Figuren bewusst, die man vielleicht als Kopfgeburten der Protagonistinnen bezeichnen kann. Die Dialoge können in diesem Zusammenhang als Selbstgespräche verstanden werden, durch die die Erkenntnisse und Veränderungen der vier Frauen am Ende ihres Lebens für den Leser erfahrbar werden. In der Verhandlung soll etwas von dem inneren Kern, dem Ursprünglichen des Menschseins freigelegt werden. Insofern erinnern die seltsamen Figuren an Psychotherapeuten. Dafür spricht, dass sie die Defizite, die das Leben der Frauen prägten, aussprechen. Die Vorwürfe des Verrats und der Lieblosigkeit gelten für alle vier. Jede von ihnen hat ein Modell gelebt nach Vorstellungen, die sie sich selbst geschaffen haben, wie der kleine rundliche Mann gegenüber Johanna bemerkt (vgl. S. 145). Seine Maskenhaftigkeit, es wird mehrmals darauf hingewiesen, dass er geschminkt ist, unterstreicht, dass jeder Mensch in einer Rolle gefangen ist.

Die Kunstfiguren des Finales sind keine eindeutig mythischen Figuren, eher Konstrukte, angefüllt mit verschiedenen Inhalten, die unserer westlichen Kulturtradition entspringen, zeitlose Stereotype bzw. Muster aus dem kulturellen Gedächtnis. Sie wirken teilweise auch etwas kitschig, aber durch die Verknüpfung mit mythologischen Verweisen wird der Kitsch ironisch gebrochen und aufgewertet. Mit diesen Kunstfiguren stellt die Autorin die Erlebnisse der vier Frauen in einen Zusammenhang, der von der Antike bis zur Gegenwart reicht. Das Schillernde der Figuren, ihre Komik und Burleskerie nehmen den letzten Fragen, dem offensichtlichen Ende des Lebens, seine Schwere. Trotz aller Leichtigkeit der Darstellung wird die Endgültigkeit des Sterbeprozesses jedoch nicht ausgespart. Gerade in der letzten Szene, die nicht zufällig Charlotte gewidmet ist, beantwortet der Schwan ihre verzweifelten Fragen nach dem, was sie nun erwarte, mit brutaler Härte: „Es ist der Gang der Dinge. […] Geben Sie Ruhe. Keine Chance mehr, die Sache zu sensationalisieren.“ (S. 149) Zu guter Letzt erhebt er noch einen weiteren Vorwurf, nämlich den, dass in der Villa zu wenig gelacht wurde. Zur Begründung folgt dann ein Plädoyer für die Literatur: „Gerade in der Nacht muss man lachen, solange man noch kann. Liest du denn überhaupt keine Literatur? Das ist eines ihrer großen Themen. Einige ernstzunehmende Kollegen von Johanna haben daraus eine grimmig-komische Kunst geschaffen. Und ich spreche nicht von ‚Texten‘, ich spreche von Kunst.“ (S. 150) Daran, dass der Schwan hier zugleich das Konzept von Bovenschens Roman verrät, kann wohl kein Zweifel bestehen.

Der Rahmenerzähler versucht seine zu dieser Märchenlösung führende ausschweifende Phantasie zu rechtfertigen mit der provozierenden Frage, wie anders man „die Fatalität, die banale, alltägliche unabwendbare Ausweglosigkeit, […] den Tod als Normalfall“ (S. 154) bebildern soll, wobei er genau die Worte des Schwans aufgreift. Silvia Bovenschen hat diesen Weg der grimmigen Komik gewählt und dem Leser damit viel Raum für eigene Vorstellungen gelassen.

Alterstopoi

Die Altersklage über körperliche Gebrechen steht nicht im Vordergrund der Darstellung, wohl aber wird gezeigt, wie der Mensch mit den veränderten Lebensumständen im Alter umgeht. Eingeschränkte Bewegungsmöglichkeiten verändern das Lebensgefühl und langjährig eingeübte Überlebens- und Verdrängungsstrategien prägen das Verhalten im Alter. Angesichts der Kampfansage Nadines, sich nicht mehr an der Meinung anderer orientieren zu wollen, und der Protestrufe Johannas denkt Leonie, die „Kranken,[…] die Alten, die Todgeweihten wollen ihre Anklagen in die Welt hinaus schreien“ (S. 64f.). Das gemeinsame Leben in der Villa gibt häufig Anlass zu direkten Klagen über Rücksichtslosigkeit, fehlende Kommunikation, Isolation und Unverständnis. Jede der Frauen ist vor allem mit sich selbst beschäftigt, man trifft sich nur zu den Mahlzeiten, und das auch meistens ohne Johanna. Die Villa sei eine Vorform ihres Sarges (vgl. S. 19), sagt diese, es gibt keine Zukunft mehr, die diese Bezeichnung verdient. Der Protest der Frauen gegen ihre Situation äußert sich vor allem durch Selbstironie. Charlotte erlebt sich und ihre Freundinnen als „[e]rstarrt in unseren Schrullen“(S. 33) und sagt zu Leonie: „Du läufst Reklame für den Tod.“ (S. 33) Man ist in der „totalen Unzuständigkeit angekommen“ (S. 126). Das Internet bringt keine Erlösung, es macht nur das Dilemma deutlich, dass man nicht mehr jung sein will, aber auch nicht alt. Die Ausweglosigkeit und Unumkehrbarkeit des Alterungsprozesses, der schließlich im Tod endet, ist den Frauen sehr wohl bewusst. Die Flucht- und Verdrängungsstrategien führen zu einer „Sehnsucht nach einer Linderung im Seichten“ (S. 65). Kitsch als Gegengift ist jedoch kein wirksames Mittel, muss Leonie erkennen. Johanna bekämpft die Ausweglosigkeit mit ihrer vergeblichen Flucht ins Internet, Nadine versucht es mit Ästhetik, Charlotte mit Disziplin und Contenance. Nadine registriert ihren körperlichen Verfall, „ich kenne jede Falte“ (S. 83), und bekennt sich zu der Flucht in Äußerlichkeiten. Nadine beansprucht das Recht für sich, sich unter das allgemein akzeptierte Niveau zu begeben, und stellt damit herrschende Normen und Werte in Frage (vgl. S. 64). Den „Krieg gegen [ihre] Hinfälligkeit“ (S. 63), den Nadine beklagt, können auch die anderen Frauen nicht gewinnen.

Der Altersspott der jüngeren Mitbewohner der Alten-WG kann als eher gutmütig bezeichnet werden. Dörte spricht in Bezug auf die Frauen von „Nebelkrähen“ und „Kompostis“ (S. 20), und Janina hat für jede einen Spitznamen. Einzig Johanna lässt sich zu bösartigem Spott hinreißen, wenn sie behauptet, Nadine suche ständig ihre Windeln (vgl. S. 57). Nadine zieht durch ihre modischen Allüren und ihr Interesse an Männern den meisten Spott der übrigen Hausbewohner im Sinne des traditionellen Topos auf sich . Die Steigerung der Ereignisse bis hin zu dem Erscheinen der seltsamen Figuren, die Veränderungen in der Gefühlswelt der Protagonistinnen und ihre allmähliche Entwicklung werden von Situationskomik und ironischen Kommentaren des Erzählers begleitet. In der Rahmenhandlung nennt der Erzähler Jean seine Geschichte eine „verrückte Geschichte von verrückten alten Frauen“ (S. 8), die vielleicht gar nicht so verrückt sind. Durch die stereotype Überzeichnung der Charaktere nähert sich die Erzählung der Satire an. Dazu gehören die Übertreibungen Johannas ebenso wie die ausführliche Beschreibung der stilvollen Einrichtung der weißen Villa am Fluss. Die Reflexionen über Kitsch in den Worten von Charlotte, dass ihre Daseinsform "auch schon gelebter Kitsch“ sei (S. 96), zeigt die Selbstironie, zu der die Bewohner fähig sind.

Sie gewinnen im Lauf dieses Tages ein neues Lebensgefühl, eine neue Selbsterkenntnis. Wenn sie auch ihre gegenwärtige Lebenssituation nicht grundlegend verändern können, so sind sie doch zu neuen Erkenntnissen in Bezug auf ihr vergangenes Leben fähig, was letztlich als eine Form des Alterslobs gedeutet werden kann. Dieses neue Lebensgefühl hat sich durch äußere Ereignisse vorbereitet und findet seinen Höhepunkt in dem „Zerstörungsballett“ (siehe Klappentext) und dem Erscheinen der seltsamen Figuren. „[I]hr habt uns herbeigesehnt“ (S. 134), sagt der Schwan. Die Befreiung von ihrem alten Leben, bildlich dargestellt in der Zerstörung der stilvollen Einrichtung des Salons, befähigt die Frauen zu rückhaltloser Ehrlichkeit in Bezug auf ihre Lebenslügen und zur Akzeptanz der Endlichkeit des Lebens. Die sich langsam lösende Erstarrung aus alten Verhaltensmustern führt zu einer neuen Solidarität unter den Frauen, die sich in gegenseitigem Verständnis und der Bereitschaft äußert, Charlotte nach ihrer Tat nicht allein zu lassen. Die Zerstörung des Salons wird für jede der Frauen als positive Selbsterfahrung geschildert, ein Leben im Augenblick, in dem Vergangenheit und Zukunft ihre Zwänge verloren haben. Die Aufforderung des Schwans: „Nur Mut! Auf! Auf! […] Zeit zum Aufbruch“ (S. 151), lässt keinen Raum für Klage oder Bedauern über das Verlorene und Vergangenes, sondern unterstreicht mit Hilfe der fiktionalen Absurdität des Geschehens das Gefühl eines positiven Endes, auch wenn keiner weiß, weder Leser noch Erzähler, wohl auch nicht die Autorin, wie das aussehen sollte. Alle vier Frauen zeigen Merkmale, die bestimmten Stereotypen des Alters in der Literatur zuzuordnen sind. Durch Ironie und Situationskomik werden diese klischeehaften Vereinfachungen aufgebrochen, die Individualität der Protagonistinnen wird sichtbar und führt in Zusammenhang mit der Aufforderung des Schwans, das Lachen nicht zu vergessen (vgl. S. 150), zu einem versöhnlichen Schluss. Das Alter erweist sich damit als Befreiungsakt, und ähnlich wie in Gerbrand Bakkers Roman „Oben ist es still“[8] und Monika Marons Roman „Zwischenspiel“[9] handelt es sich auch hier um ein Lehrstück für Wandlungsprozesse im Alter. Bovenschen zeigt entgegen den üblichen Altersklischees vier alte Frauen, die existentielle Wenden erstaunlich erfolgreich verarbeiten: eine Pleite, einen Mord und, mit der eigenhändigen lustvollen Zerstörung ihres luxuriösen Heims, ihre Verklemmungen und Verhärtungen. Das verändert ihre Welt- und Selbstsicht. Sie überwinden ihre schmerzhaften und mächtigen Vergangenheiten, auch mit Hilfe der aus einer anderen Welt aufgetauchten unverblümt drastischen Therapeuten, und brausen am Schluss mit dem Mercedes ins Freie. Das heißt wohl auch, sie haben sich selbst gefunden und mit sich Frieden geschlossen. Und sie sind nicht allein. Bovenschen gönnt ihren Figuren Erlösung.

Autobiographische Bezüge

Dass es sich bei dem Roman um ein Werk der Autorin Silvia Bovenschen[[10]] handelt, könnte der kundige Leser auch ohne die entsprechende Angabe leicht erkennen. Denn es finden sich zahlreiche Verbindungen zu ihren früheren Werken sowie zu auch schon in anderen Formen von ihr behandelten Themen. Zum einen geht es offensichtlich um Altern und Alter, das Thema, dem der 2006 erschienene Text „Älter werden. Notizen“ gewidmet ist, für den die Autorin sehr viel Anerkennung erhalten und der ihre Bekanntheit beträchtlich gesteigert hat. Im Roman finden sich weiterhin Passagen zu den Themen Körper und Mode, Stil und Kitsch, Jugend, Internet, Literatur sowie allgemein zeit- und kulturkritische Betrachtungen, die die Autorin ihren Figuren in den Mund legt. Unter diesen verkörpert Johanna den Typus der Intellektuellen und Schriftstellerin, was die Vermutung nahelegt, dass diese Figur autobiographische Züge aufweist. Einen anderen Aspekt von Bovenschens Biographie könnte man in der wissenschaftlichen Karriere und Lehrtätigkeit der Charlotte vermuten. Sie entstammt offensichtlich dem gehobenen Bürgertum, ihr gehört die weiße Villa am Fluss, der in auffallender Weise an den Main bei Frankfurt[5] erinnert, wo Bovenschen in ähnlichem Lebensstil aufgewachsen ist und lange gelebt hat.


Anmerkungen

  1. Marie Schmidt, Weibersterben, in: DIE ZEIT N°32 vom 10.08.2013
  2. Alle Seitenangaben beziehen sich auf: Silvia Bovenschen, Nur Mut, Frankfurt/M. 2013 (S.Fischer Verlag)
  3. warum der Vulkan im Roman „Lemington“ geschrieben wird, ist unklar
  4. Ralph Dutli, Neue Zürcher Zeitung vom 12.01.2010, http://www.genios.de/presse-archiv/artikel/NZZ/20100112/die-kinderaugen-des-selbstmoerders/HIBPS.html
  5. vgl. S. 119 den Hinweis auf den Dom und die dort durchgeführten zehn Krönungen