Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt (von Gerda Wieschermann)

Aus Literarische Altersbilder

Vorbemerkung

Ein Bestseller wird von der Germanistik oft eher kritisch und mit einem etwas spöttischen Lächeln betrachtet. Dennoch erscheint der Roman "Die Vermessung der Welt" von Daniel Kehlmann interessant genug, einige Gedanken zu Inhalt, Figuren, Struktur, Sprache und Altersthematik zu entwickeln. Der Roman - 2005 geschrieben - bescherte dem Autor einen großen Erfolg, er wurde in 40 Sprachen übersetzt und mit einigen Literaturpreisen geehrt.

Die Vermessung der Welt - dieser Titel des Romans scheint von vornherein eine hohe Erwartung zu erfüllen: es ist gelungen, den Kosmos zu "vermessen", seine Geheimnisse zu durchdringen. Erfüllt sich etwa die Sehnsucht des Menschen, die Formel gefunden zu haben, die "die Welt im Innersten zusammenhält"? Doch bald wird dem Leser die Mehrdeutigkeit, die Ambiguität dieser "Ver-messung" klar, Daniel Kehlmann baut schon im Titel einen Spannungsbogen der Gegensätze auf, das Spiel mit den scheinbaren Sicherheiten beginnt.

Inhalt

Auf der Folie der Biografie erzählt der Autor Episoden aus dem Leben der beiden berühmten Naturwissenschaftler Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt. Den Rahmen der chronologisch angeordneten Szenen stellt die Begegnung der gealterten Forscher 1828 in Berlin dar: Gauß, der in seinem Leben höchst ungern gereist ist und selten sein Lebensumfeld verlassen hat, macht sich in Begleitung seines ungeliebten Sohnes auf die Reise zu Alexander von Humboldt, dessen höchstes Interesse im Leben das Reisen in ferne unerforschte Gebiete war, um vor Ort neue Erkenntnisse zu gewinnen. Der Leser lernt die von Anfang an gegensätzlichen Protagonisten durch die Schilderung einzelner Lebenssituationen kennen: Alexander von Humboldt steht schon als Kind in einer Erwartungs- und Konkurrenzsituation: seine Mutter und Lehrer erwarten Höchstleistungen, sein älterer Bruder bleibt für ihn bis ins hohe Alter ein Herausforderer und Maßstab für fast alles, was er tut. So schaut der ältere Bruder eines Tages tatenlos und offenbar unbewegt zu, wie der Jüngere durch die Eisdecke eines Teichs einbricht und nur kapp dem Ertrinken entkommt, er selbst hatte ihn indirekt aufgefordert, die dünne Eisdecke zu betreten.

Schon früh zeigt sich bei Alexander ein Drang, frei in der Umgebung seines elterlichen Schlosses umherzustreifen und die Natur zu erkunden. Er macht bald die Erfahrung, dass jede neue Situation mit all ihren Unsicherheiten, Gefahren und Unheimlichkeiten leichter zu ertragen ist, wenn er ihre Bedingungen und Umstände messen kann. Nach Studium und erster Anstellung als Bergwerksinspektor löst der Tod der Mutter bei ihm nicht etwa tiefe Trauer aus, sondern eine Hochstimmung: endlich hat er die Freiheit und das Geld, aufzubrechen in die Welt.

In Frankreich lernt er den jungen Botaniker Aimee Bonpland kennen, mit dem er gemeinsam über Spanien zu seiner 1. Expedition nach Südamerika aufbricht. Vom 1. Tag an und mit ungeheurer Disziplin und Anstrengung erkundet und vermisst er fortan jedes Naturphänomen, sammelt mit Bonpland Exponate aus verschiedensten Regionen und besteigt Berge, auf denen bisher kein Mensch war. All seine Erfahrungen, Betrachtungen und Vermessungen dokumentiert er und schickt sie seinem Bruder zur Veröffentlichung nach Deutschland. Auf seiner Rückreise folgt Humboldt einer Einladung des amerikanischen Präsidenten Jefferson und erlebt, dass ein Politiker völlig andere Interessen bei der Erforschung einer Region hat als er. Er lebt fortan in Paris und Berlin, wo er als Berater am preußischen Hof tätig ist. Nach der Begegnung mit Gauß auf dem Naturforscherkongress 1828 begibt sich Alexander von Humboldt noch einmal auf eine letzte Expedition in die Weiten Russlands. Doch die Entwicklung der Zeit lässt ihn zu einem alten, fast belächelten Mann werden, der Spannungsbogen seines Lebens endet in Erkenntnissen, die alles Vorherige aufheben.

Carl Friedrich Gauß, der 2. Protagonist dieses Romans, stellt den Gegenpart zu Humboldt dar: in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, vom Vater und Lehrern verkannt, erlebt er seine außergewöhnliche mathematische Begabung früh als trennend, er fiihlt sich zeit seines Lebens bis auf die Liebe zu seiner Mutter einsam und unverstanden, seine emotionalen Fähigkeiten bleiben unterentwickelt, was seine beiden Ehefrauen, seine Kinder und fast alle Menschen, die ihm begegnen, leidvoll erfahren müssen.

Auch er ist auf seine Weise neugierig auf die Welt und erforscht sie, allerdings in einer völlig anderen Weise als Humboldt: ohne sich körperlich zu bewegen, durchdringt er die Welt mathematisch, geistig, findet ihre Gesetzmäßigkeiten. Nach seiner Doktoratsprüfung wird er im Nebenberuf Landvermesser, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. In wenigen Jahren, mit Anfang 20, vollendet er sein Lebenswerk, die Disquisitiones arithmeticae, und weiß, dass der Höhepunkt seines geistigen Lebens überschritten ist. Er heiratet und wird Vater, ohne dass dieses eine besondere Bedeutung für ihn hat. Neben seinem Beruf als Landvermesser widmet er sich der Astronomie, wird Leiter der Sternwarte in Göttingen und entwickelt weitere mathematisch- astronomische Erkenntnisse. Berühmt geworden wird er 1828 zum Naturforscher-Kongress eingeladen und reist widerwillig nach Berlin.

Auch in seinem Alter heben Lebenserfahrungen und Einsichten vieles Vorhergedachte auf und machen einer Unsicherheit platz - Humboldt und Gauß treffen sich fast in diesem Punkt.

Figuren- und Handlungskonzept

Figuren und Handlungsaufbau sind in diesem Roman von Anfang an antithetisch angelegt. Auf der Folie der Biografie zweier herausragender Naturwissenschaftler der deutschen Klassik erlebt der Leser einerseits die erwartete Beschreibung der Genialität dieser Figuren, wird aber gleichzeitig mit ihrer Dekonstruktion konfrontiert: Humboldt, der nun wisse, „womit er sich befassen wolle. Mit dem Leben," (S. 26[1]) bleibt merkwürdig unlebendig, jede Emotionalität wird durch Disziplin früh unterdrückt. Die Vermessung erscheint als Möglichkeit gegen die Angst: „Zahlen bannten Unordnung" (S.50), sie helfen gegen den Schrecken der Welt (vgl. S.22), Humboldt hat den Traum, die Welt habe eine innere Ordnung, deren Aufbau man erforschen und durchschauen könne. Doch am Ende seines Forscherlebens bleibt die Erkenntnis, nur Wissen angehäuft zu haben, seine Veröffentlichungen werden auf einem Markt neben "Wundermittelchen" billig feilgeboten.

Gauß, dessen Lehrer von der Mutter besorgt nach der Zukunft ihres Sohnes befragt wird, wird von diesem als der größte "Wissenschaftler der Welt" benannt. Doch in der letzten Phase seines Lebens räumt er Magie, den Träumen und dem Nicht-Erkennbaren eine große Bedeutung bei. Humboldt muss weit hinaus in die Welt gehen, um sie be-greifen zu können - Gauß holt die Welt in sein Inneres, um sie zu erkennen.

Am Ende scheitern beide in ihrem Vorhaben, ihre Lebenslinien treffen sich nicht nur äußerlich: „Aber während ... Humboldt sich vorstellte, wie Gauß eben jetzt durch sein Teleskop auf Himmelskörper sah, deren Bahnen er in einfache Formeln fassen konnte, hätte er auf einmal nicht mehr sagen können, wer von beiden weit herumgekommen war und wer immer zu Hause geblieben war."(S.293) Nähe und Ferne, Fakten und Traum, Realität und Fiktion heben sich auf, der Wunsch nach der "Vermessung der Welt" erweist sich als "vermessen" im doppelten Sinn. Dieses binäre System der Ambivalenz durchzieht nicht nur die Entwicklungsgeschichte der Hauptpersonen, es zeigen sich weitere kontrastierende Figurenpaarungen: Humboldt und sein älterer Bruder - gewissermaßen sein alter ego - Humboldt und sein Reisegefährte Bonpland - vergeistigte Disziplin gegen emotionale Körperlichkeit - Gauß und sein Sohn Eugen - geistige gegen politische Freiheit. Die Gegensätzlichkeit, mit der D. Kehlmann anfänglich die Subjekte voneinander abgrenzend konstruiert, wird zum Schluss dekonstruiert: die Brüder z. B. empfinden sich als Teil eines Ganzen, jedoch nicht in Harmonie, sondern in lebenslanger Widersprüchlichkeit, Abbild der Ambivalenz menschlichen Lebens.

Schreibweisen und Stil

Der Autor wählt für seinen Roman das biografische Erzählen, eine Schreibweise, die durch teleologisch angelegte, kausale Verknüpfungen eine scheinbare Authentizität konstruiert. Doch das große „Kausalgewebe" schafft nur eine Projektionsfläche für D. Kehlmann, auf der er sein Romankonzept entwirft. In dem Essay "Wo ist Carlos Montufar?" stellt er z.B. dar, wie sehr sein Roman das historisch Verbürgte verlässt, er erwähnt Carlos Montufar, der Humboldt über große Strecken begleitete und sieben Jahre bei ihm in Paris wohnte, nicht. „Viele Dutzend Menschen mochten mit Humboldt den Kontinent durchstreift haben, aber meine Dramaturgie verlangte, dass er und Bonpland, umgeben bloß von den Randfiguren wechselnder Führer, miteinander allein blieben."[2] Kehlmann spricht in diesem Zusammenhang von dem „Unterschied zwischen dem bloß faktisch Richtigen und dem Wahren".(s.o. S.18) Er zeigt, wie auch die Expeditionsberichte Humboldts schon Fiktion sind, allein durch Weglassung menschlicher Schwäche der klassische Forschertypus sich hier selbst stilisiert.(s.o. S.20)

Dass Kehlmann niemals die Absicht hat, eine Biografie zu schreiben, zeigt sich schon im 2. Abschnitt der 1. Seite dieses Romans: „Nun also versteckte sich Professor Gauß im Bett."(S.7) Hier wird die biografische Erwartung früh ironisch gebrochen, Kehlmann beginnt, mit seinen Figuren erzählend zu spielen. Der ironische Gestus durchzieht den gesamten Roman: altehrwürdige Größen der deutschen Klassik wie Goethe und Kant werden in ihrer Sprachverliebtheit und greisenhaften Banalität vorgeführt und entzaubert. Selbst die Rolle des Autors wird ironisch kommentiert: „Sogar ein Verstand wie der seine, sagte Gauß, hätte in früheren Menschheitsaltern oder an den Ufern des Orinoko nichts zu leisten vermocht, wohingegen jeder Dummkopf in zweihundert Jahren sich über ihn lustig machen und absurden Unsinn über seine Person erfinden könne. "(S.9) Dem entspricht der konsequente Einsatz der indirekten Rede. Sie ermöglicht eine distanzierte ironische Erzählhaltung, alle Aussagen in den Dialogen stehen im Konjunktiv, Realität und Fiktion verschwimmen. Der "Wirklichkeit" ist nicht durch Wissen beizukommen, sie ist Illusion, Konstrukt.

Alterstopoi

Vor diesem Hintergrund erscheinen die Zuschreibungen des Alter-n-s in diesem Roman als äußerst interessant. Wer mit vermeintlichen Sicherheiten und "Wahrheiten" spielt, verschiebt die Bilder und Topoi des Alter-n-s vielleicht.

In einem Gespräch mit der FAZ (09.02.2006) benennt D. Kehlmann das Altern und das Deutschsein als die beiden großen Themen in seinem Roman und fügt hinzu: „Das Altern ist das zunehmende Chaos im Leben." Die Biografie als "Be-Schreibung" von Altern legt zunächst einmal die Erwartung eines - zumal bei solch bekannten Persönlichkeiten - gelungenen, vollendeten Lebens nahe. Die Figuren Humboldt und Gauß stehen für die Sehnsucht der Menschen, die Welt erklären, erkennen und sich selbst in ihr verorten zu können. Doch Humboldt und Gauß erkennen am Ende, dass eigenes Wissen ein vorläufiges ist, relativ, dass es eingeht in ein Weltwissen, das nicht vermessbar ist und keine endgültigen Resultate bringt.

Gauß hat den Zenit seines Denkens schon mit 20 Jahren überschritten und "altert" seitdem; körperlich wie geistig lassen seine Kräfte nach. Humboldt wird auf seiner letzten Reise durch Russland zur Karikatur eines Forschers, mit Altersspott wird er in seiner Unfreiheit und Absurdität belegt. Vordergründig ist solch ein "Scheitern" der Altersklage zuzuordnen, doch sie relativiert sich, Facetten des Alterslobs schimmern hindurch. Sie sind nicht wirklich gescheitert: beide haben im hohen Alter Pläne und Träume, beide haben die „Enge" ihres früheren Denkens verlassen und erkennen die Relativität dessen, was möglich ist, an, sehen den Prozess der Weitergabe als Chance. Der Tod als Abschluss des Alter-n-s erhält bei Gauß eine positive Bedeutung: „Der Tod würde kommen als eine Erkenntnis von Unwirklichkeit. Dann würde er begreifen, was Raum und Zeit waren, was die Natur einer Linie, was das Wesen einer Zahl."(S.282) Auch das eigene wissenschaftliche Lebenswerk relativiert sich und rückt in den Hintergrund; eine einfache Zuordnung zu Altersklage oder Alterslob verbietet sich. Alle Figuren dieses Romans wissen am Ende, dass nichts endgültig und von dauerhaftem Bestand ist.

So erfährt der Leser einen Satz voller Selbstironie des Autors: „Das Romanschreiben, sagte Humboldt, erscheine ihm als Königsweg, um das Flüchtigste der Gegenwart für die Zukunft festzuhalten.“ Wie gut, dass Daniel Kehlmann diesen Weg gewählt hat.

Anmerkungen

  1. Die Seitenangaben beziehen sich auf: Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt, Reinbek bei Hamburg, 7. Auflage Dezember 2008
  2. Daniel Kehlmann, Wo ist Carlos Montufar? Reinbek bei Hamburg, 2005, S. 16