J. M. Coetzee, Zeitlupe (von Jutta Rech-Garlichs)

Aus Literarische Altersbilder


Biografie

J. M. Coetzee [1], einer der meistgelesenen und prominentesten Autoren Südafrikas, wurde 1940 als Sohn eines Rechtsanwalts und einer Grundschullehrerin, Nachkommen holländischer Siedler, in Kapstadt geboren und wuchs in Worcester auf, der Wirtschaftshauptstadt des Worcester Wine District. Zuhause wurde wohl Englisch gesprochen, außerhalb der engeren Familie Afrikaans.

Nach dem Besuch einer katholischen höheren Schule und erfolgreichem Studium der Mathematik (BA) und der Englischen Literatur (MA 1963) an der Universität von Kapstadt arbeitete J. M. Coetzee als Programmierer in London für IBM, wo er seine Feierabende im British Museum verbrachte – „ ‚reading Ford Madox Ford, and the rest of the time tramping the cold streets of London seeking the meaning of life‘ “ [2] – und in Bracknell, Berkshire. 1963 heiratete er Philippa Jubber, mit der er zwei Kinder hatte, Sohn Nicolas, Fotograf und 1989 tödlich verunglückt, und Tochter Gisela. 1969 promovierte Coetzee an der University of Texas über die Prosa Samuel Becketts, der mit dem schon erwähnten F. M. Ford, Rilke, Musil, Pound und Faulkner zu den ihn früh prägenden Schriftstellern gehörte [3]. Während seiner Lehrtätigkeit an der University of New York in Buffalo entstand sein erstes Buch, „Dusklands“, das zwei Erzählungen, „The Vietnam Project“ und „The Narrative of Jacobus Coetzee“, enthält.

Nachdem ihm – wohl wegen seiner Beteiligung an Antivietnamkriegs-Demonstrationen – der Status eines „permanent resident“ in den USA verweigert worden war, kehrte er 1972 nach Südafrika zurück, wo er bis 2002 zunächst als Lehrbeauftragter, dann als Professor für Literaturwissenschaft an der Universität von Kapstadt tätig war. Gastprofessuren führten ihn in dieser Zeit immer wieder an berühmte amerikanische Universitäten, z.B. an die John Hopkins University in Baltimore und nach Harvard.

Für sein Werk „Waiting for the Barbarians”/ „Warten auf die Barbaren” erhielt Coetzee 1980 den höchsten südafrikanischen Literaturpreis, den Central News Agency Award; für „Life & Times of Michael K.“/ „Leben und Zeit des Michael K.“ 1983 zum ersten Mal den Booker Prize, die höchste literarische Auszeichnung Großbritanniens, und 1999 für „Disgrace“/ „Schande“ zum zweiten Mal. Neben weiteren Auszeichnungen für sein literarisches Werk, zu dem eine Fülle von Essays gehören [4], folgte als Krönung 2003 der Nobelpreis für Literatur.


Seither wurden von ihm, neben Sachbüchern und Essays, „Elisabeth Costello“/ „Elisabeth Costello“, 2003/04, veröffentlicht, „Slow Man“/ „Zeitlupe“, 2005/05, und „Diary of a Bad Year“/ „Tagebuch eines schlimmen Jahres“, 2007/08.

Privat waren vor allem die Achtzigerjahre eine Zeit der Verluste: 1980 Scheidung seiner Ehe; 1985 Tod seiner Mutter; 1988 Tod des Vaters; 1989 Tod seines Sohnes; 1991 Tod seiner Ex-Frau. Seit 2002 lebt Coetzee mit seiner langjährigen Lebensgefährtin, der Literaturprofessorin Dorothy Driver, in Adelaide, Australien, und lehrt an der dortigen Universität. Im März 2006 wurde er eingebürgert.

Coetzee gilt als öffentlichkeitsscheu und schwer zugänglich, zumal wenn es um eigene Lebenserfahrungen geht. „[…] er müsse öffentlich nichts mehr zu seiner Person sagen, da alles in seiner Literatur – den Romanen wie den Essays – gesagt sei“, zitiert Manfred Loimeier hierzu den Autor [5].


Kurze inhaltliche Zusammenfassung

Paul Rayment, in Adelaide, Australien, lebender Fotograf im Ruhestand, verliert mit Anfang sechzig durch einen Verkehrsunfall sein rechtes Bein und ist fortan auf fremde Hilfe angewiesen. Mehr schlecht als recht versucht er, mit seinen veränderten Lebensbedingungen zurechtzukommen. Er verliebt sich in seine kroatischstämmige, wesentlich jüngere Tagespflegerin Marijana Jokic und versucht, sie und ihre Familie an sich zu binden. Elizabeth Costello, eine ältere bekannte Autorin, die sich ungeladen bei ihm einquartiert, will ihn von diesem Vorhaben abbringen und ihn für realistischere Pläne gewinnen, was aber misslingt.


Gang der Handlung (Kapitel 1 – 30)

1) „Zeitlupe“ [6] beginnt mit der Schilderung des für den Protagonisten Paul Rayment [7], Anfang sechzig, wohlsituierter Fotograf im Ruhestand, einschneidendsten Geschehens: dem Unfall auf der Magill Road, bei dem ihn, den Radfahrer, ein junger, wohl leichtsinniger Autofahrer angefahren hat.

2) Im Krankenhaus teilt man ihm mit, dass das rechte Bein „ziemlich zugerichtet“ sei, aber man werde versuchen zu retten, was man könne. (S. 9[8]) Bei der folgenden Operation stellt sich heraus, dass in Anbetracht der Schwere der Verletzung und des Alters des Patienten – „Bei einem Jüngeren hätten sie vielleicht eine Rekonstruktion in Erwägung gezogen“ (S. 11) – eine Rettung des Knies nicht in Frage kommt, und Pauls rechtes Bein wird oberhalb des Knies amputiert. Pauls ohnmächtige Wut und Verzweiflung über diese eigenmächtige Entscheidung der Ärzte, diesen „Übergriff“ (S. 12), wird gesteigert durch die Erkenntnis, wie allein, hilflos und bedürftig er in dieser Situation ist: Familie im eigentlichen Sinne hat er nicht; seine Eltern und seine einzige Schwester sind lange tot; seine Ex-Frau ist „in ein eigenes Leben entkommen“ (S. 13). Weder will er die Hilfe von Freunden annehmen, „weil er nicht in seinem […] erniedrigenden und erniedrigten Zustand gesehen werden will“ (S. 20), noch willigt er in die Anpassung einer Prothese ein.

3) Den Besuch des jungen Unfallverursachers Wayne Blight [8] – „Tut mir echt leid, was passiert ist. Richtiges Pech“ (S. 26) – erträgt er mit mühsam beherrschtem Zorn und Abneigung.

4) Nach Hause entlassen, wird ihm von der Fürsorge-Vertreterin Mrs Putts als Tagschwester Sheena zugeteilt. Sheena, „dick, auf eine harte, speckige, selbstsichere Art, und […] unerschütterlich gut gelaunt“ (S. 29), erweist sich als unerträglich – „Sie nennt den Schieber Töpfchen; sie nennt seinen Penis Schniepel“ (S. 31) –, und er bittet um Zuweisung einer anderen Pflegekraft, Marijana Jokic aus Kroatien. Sie ist „noch nicht in den mittleren Jahren“, hat „um die Taille herum schon eine ziemlich matronenhafte Figur“, „feuchte Flecken unter den Armen“ und „spricht ein […] annähernd australisches Englisch mit slawischen Fließlauten und […] umgangssprachlicher Einfärbung, […] eine Sprachvariante, die ihm nicht vertraut ist; er hört sie ganz gern“. (S. 35) Marijana erweist sich als rechter Glücksgriff. Nach all den demütigenden Erfahrungen mit dem Pflegepersonal im Krankenhaus und den Sheenas zuhause endlich jemand, der „intuitiv“ erfasst, was ihm guttut, was nicht, und „ihn nicht wie einen tattrigen alten Trottel“ behandelt, „sondern wie einen Mann, der durch eine Verletzung in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist“ (S. 36). Unter ihrer flinken, tüchtigen und fröhlichen Pflege (vgl. S. 38 ) blüht Paul regelrecht auf; die zeitweise Anwesenheit von Ljuba, dem jüngsten der Jokic-Kinder, lässt sogar so etwas wie familiäre Behaglichkeit entstehen.

5) Andererseits führt sie ihm seine eigene Kinderlosigkeit umso schärfer und schmerzlicher vor Augen: „Jetzt erscheint ihm Kinderlosigkeit […] als Torheit, […] sogar als Sünde.“ (S. 42)

6) Bei den wöchentlichen Kontrollbesuchen im Krankenhaus kommt Paul in dem kleinen Fahrstuhl in engen körperlichen Kontakt mit einer attraktiven jüngeren Frau, die, zum ersten Mal seit seinem Unfall, sein sexuelles Interesse erregt. (Vgl. S. 45) Margaret McCord, eine langjährige und einige Zeit auch intime Freundin, hat ihn zwar wissen lassen, dass sie durchaus bereit wäre, „es“ mit ihm unter diesen veränderten Umständen zu wagen, aber Paul ergreift die Gelegenheit nicht: „Er möchte nicht zum Objekt sexueller Wohltaten irgendeiner Frau werden […] Wenn er jemals wieder mit einer Frau ins Bett geht, dann wird er dafür sorgen, dass es im Dunkeln geschieht“ (S. 47 f.) –, und es geschieht dann ja auch tatsächlich im Dunkeln, wofür allerdings nicht Paul, sondern Elizabeth Costello sorgt (vgl. Kap. 15).

7/8) Während Paul und Marijana sich gesprächsweise allmählich etwas näher kommen – so erfährt Paul, dass Drago, der 16-jährige Sohn Marijanas, ihr Sorgen bereitet, und Marijana, dass und warum Pauls Fotosammlung, vor allem die Faucherys, für Paul so wichtig sind –, wandelt sich Pauls Bewunderung für Marijanas Tüchtigkeit und Kompetenz in Sachen Haushalt und Pflege in körperliches Begehren und Liebe.

9) Andere Versuche, zu einer Verbesserung seines körperlichen und psychischen Zustands beizutragen, wehrt Paul ‚erfolgreich‘ ab: Margaret McCord wird ein für alle Mal in ihre Grenzen verwiesen (vgl. S. 69), Madeleines moderne physiotherapeutische Maßnahmen – Tanz und Hydrotherapie, um ein neues Gleichgewichtsgefühl zu erlangen – werden vorzeitig abgebrochen, eine Prothese nach wie vor strikt abgelehnt (vgl. S. 70 ff.).

10/11) Eines Morgens bringt Marijana ihren Sohn Drago mit, damit Paul ihm, dem etwas leichtsinnigen Motorradfahrer, ins Gewissen rede. Der schöne, sensible und durchaus sympathische Junge hinterlässt bei Paul einen tiefen Eindruck und lässt Marijana, die Mutter solcher Kinder, noch begehrenswerter erscheinen.

12) So bietet Paul an, die Kosten für ein teures Internat für Drago in Form eines zinslosen und unbefristeten Darlehens zu übernehmen. Von Marijana nach seinen Motiven befragt, antwortet er: „ ‚Ich liebe dich und möchte dir etwas geben. Nimm es an‘ “ (S. 89), und überschreitet damit eine unsichtbare, aber unabdingbare Grenze zwischen Pflegling und Pflegerin, durchbricht eine stillschweigende, notwendige Konvention, ein Tabu.

13) Marijana erscheint nicht am Tag nach diesem verhängnisvollen Geständnis und auch nicht an den Tagen danach. Dafür erscheint eine – Coetzee-Lesern wohlbekannte – Miss Elizabeth Costello, „eine Frau in den Sechzigern, [...] eher Ende als Anfang Sechzig, die [...] etwas fleischige Schultern [hat] mit unattraktiven Pigmentflecken“ (S. 93). Während die Gründe für ihr plötzliches, unerwartetes und unerwünschtes Auftreten im Dunkeln bleiben, lässt sie selbst keinen Zweifel an ihrem Vorhaben, ja, ihrem Auftrag: „ ‚ Ich bleibe noch ein Weilchen bei Ihnen. [...] Für eine absehbare Zeit werde ich Sie begleiten.‘ “ (S. 98) Über Pauls Lebensumstände, ja selbst seine „unpassende“ Leidenschaft“ (S. 99/ 103/114), scheint sie genauestens im Bilde zu sein.

14) Marijana taucht wieder auf – sie war „nicht auf dem Damm“, so die „offizielle Version“ ihres Wegbleibens (S. 103 f.) –, und es sieht so aus , als würde zumindest Drago Pauls finanzielle Unterstützung sehr gern annehmen. Die Aussicht, auf diese Weise vielleicht einen Platz in der Jokic- Familie zu ergattern, versetzt Paul in einen fast rauschhaften Zustand. Auch wenn Elizabeth Costello sich vor so viel „wahrer, altmodischer Liebe“ (S. 109) verneigt, versucht sie doch, ihn vor allem in Sachen Miroslav, Dragos Vater und Marijanas Ehemann, zu einer realistischeren Sicht der Dinge zu bekehren, nicht ohne ihm „eine Alternative“ (S. 110) zu dem nach Costellos Einschätzung unerreichbaren Objekt seiner Begierde, Marijana, vorzustellen. Es ist Marianna, jene attraktive Frau aus dem Fahrstuhl, die Pauls sexuelles Interesse wieder geweckt hatte – auch dies für Elizabeth Costello kein Geheimnis. Marianna ist kürzlich erblindet , dennoch steckt sie voller Lebenshunger, sprich, sehnt sich verzweifelt nach körperlicher Liebe. Warum Paul dem kupplerischen Ansinnen zustimmt oder, besser gesagt, versäumt, es zurückzuweisen, bleibt unklar – möglich, dass er einfach nicht die Kraft aufbringt, sich Costello zu widersetzen, ihr Einhalt zu gebieten: „ Als schlügen Meeres -wogen gegen seinen Schädel. Vielleicht ist er ja schon über Bord gegangen und wird von den Strömungen der Tiefe hin und her gezerrt.“ (S. 115)

15) Die Begegnung mit Marianna verläuft, soweit es den physischen Teil betrifft, einigermaßen erfolgreich – Mehlpaste, Zitronenblatt und Nylonstrumpf garantieren Blindheit auch für Paul –, doch eine Wiederholung des „sinnlosen, biologisch-literarischen Experiments“ (Paul, S. 130) scheint eher unwahrscheinlich.

16) Unter dem Eindruck, von Costello „wie eine Marionette“ (S. 134) behandelt worden zu sein, versucht Paul intensiv, hinter ihre Geheimnisse, ihr geheimes Wissen, ihre verborgenen Pläne zu kommen, aber selbst die indiskrete Lektüre ihres Notizbuchs bringt ihn dabei nicht wirklich weiter, ja, schlimmer noch, stürzt ihn vorübergehend in einen Zustand paranoider Vorstellungen und Ängste (vgl. S. 140 f.), aus dem ihn ein rettender Engel in Gestalt von Marijana holt, mit dem realen Auftrag, Pauls Geld zurückzubringen: „ ‚ [...] wir nehmen kein Geld. Mein Mann. Er sagt, er nicht nehmen Geld von anderer Mann.‘ “ (S. 142) Und auch wenn Marijana das Ganze sehr nahe zu gehen scheint und Paul andere Möglichkeiten erwägt, die es Marijanas Mann leichter machen sollen, das Angebot anzunehmen – diesmal mischt Costello sich nicht ein.

17) Verärgert darüber, dass Costello sich nicht einmischen will, wo – ein einziges Mal – ihre Einmischung erwünscht wäre, weist Paul sie grob aus dem Haus: „ ‚Ich ersuche Sie, [...] meine Wohnung zu verlassen und nicht zurückzukommen.‘ “ (S. 148 f.).

18) Weil der Jokic’sche Haussegen gänzlich schief hängt, quartiert sich Drago bei Paul ein und bringt einen weiteren obdachlosen Gast mit, Elizabeth Costello, die die beiden unversehens wieder in den Strudel ihrer psychologischen Beobachtungen und scharfsinnigen Interpretationen der Umstände zieht, was ihr einen neuerlichen Rauswurf beschert.

19) Bei einem Gespräch ‚unter Männern’ versucht Paul, Miroslav von der Harmlosigkeit und Seriosität seines Angebots zu überzeugen: „ ‚ Ich lasse mich nicht mit Frauen ein [...] Dieser Teil meines Lebens liegt hinter mir.‘ “ (S. 164) Mit dem Zauberwort „Treuhandfonds“, das Miroslav ins Spiel bringt, scheint eine Lösung in Sicht, die dessen angekratzten Stolz und angegriffenes Ehrgefühl zu besänftigen vermag.

20) Auf der Suche nach Drago, dem Paul die frohe Botschaft überbringen will, eine der ganz seltenen Gelegenheiten, dass Paul seine „Klosterzelle“ (S. 187) verlässt, stößt er am Fluss auf die ausgelagerte Elizabeth, die ihn wieder einmal mir nichts, dir nichts, in ein teils amüsantes, teils ironisch-tiefgründiges Gespräch zieht, das sowohl das Debakel „Marianna“, die Unmöglichkeit seiner unangepassten und unpassenden Gefühle für Marijana und deren Familie als auch die allgemeine Bedürftigkeit alter Menschen, sprich, Pauls und Elizabeths, streift.

21) Marijanas Abwesenheit führt bei Paul zu einer gewissen Nachlässigkeit, auch hat sich Drago nicht zurückgemeldet. Paul versucht in einem Brief an Marijana, ihr die Motive für sein Angebot darzulegen. (Vgl. S. 188)

22) Marijana meldet sich zwei Tage später telefonisch, aber nicht als Reaktion auf Pauls Brief, sondern weil die Familie ihn als Vermittler und Fürsprecher braucht in einer etwas merkwürdigen Diebstahlgeschichte, in die Blanka, die mittlere Tochter der Familie, verwickelt ist. Paul lässt sich einspannen und ‚regelt’ die Sache mit entsprechendem finanziellem Aufwand.

23) Immerhin setzt er durch diesen Einsatz einen weiteren Schritt in die Familie der Jokic und, nachdem Drago wieder bei ihm aufgetaucht ist und er ihn in die Geheimnisse seiner Fotosammlung eingeweiht hat, sieht es ganz so aus, als würden seine Bemühungen, Familie Jokic zu ‚adoptieren‘, von Erfolg gekrönt sein.

24) Inzwischen hat sich auch Elizabeth wieder eingestellt, der das Nomadenleben gesundheitlich zusetzt, und Paul beklagt ihr gegenüber Dragos Unordentlichkeit, ja mangelnde Rücksichtnahme. Marijana, die sich rar gemacht hat, taucht mit der kleinen Ljuba auf und lässt ihn in den Genuss einer überaus wohltuenden Behandlung seines schmerzenden Beinstumpfes kommen.

25) Die gleichzeitige Anwesenheit von Drago, Freund Shaun und Ljuba treibt Paul und Elisabeth nach draußen, auf eine Bank am Fluss, und in die ausführliche Erzählung ihrer jeweiligen Lebensgeschichten.

26) Zurück in seiner Wohnung, erwartet Paul eine Nachricht von Drago, in der dieser ihm seinen Auszug mitteilt. Paul stürzt beim Duschen und kann sich erst nach langwierigen, schmerzhaften Bemühungen aus seinem Gestell befreien. Unterkühlt und geschwächt von den Anstrengungen, ruft er telefonisch Marijana um Hilfe. Nachdem sie ihn versorgt hat, versucht sie ihm klarzumachen, dass es so nicht weitergehen könne – sie will klare Verhältnisse und ihre Arbeit als Krankenschwester unbehelligt von seinen Gefühlen machen können: „ ‚Wir reden jetzt, [...] bringen Dinge in Ordnung. Was wollen Sie von mir? Wollen Sie, ich soll machen meine Arbeit, [...] dann sagen Sie nicht solche Sachen. […] ich will meine Arbeit machen [...] als Krankenschwester.‘ “ (S. 238/241) Kurz nach ihrem Weggang gerät Paul erneut in die Bredouille – es gelingt ihm nicht, rechtzeitig die Toilette zu erreichen –, und diesmal ist es Drago, der ihm taktvoll und geschickt aus der misslichen und beschämenden Situation hilft.

27) Bei einem neuerlichen Besuch Costellos stellen Paul und Elizabeth fest, dass einer der Faucherys eine bearbeitete Kopie ist – Miroslavs Kopf ziert einen der abgebildeten Goldgräber –, das Original fehlt. Paul ist über diesen Zugriff zutiefst verletzt und empört, Costello versucht ihn zu beruhigen, zu relativieren: „ ‚[ ...] ein [... ] Scherz [...]. Aber es steckt kein böser Wille dahinter.‘ “ (S. 250) Entgegen ihrem Rat, darüber mit Drago selbst oder wenigstens mit der Mutter zu sprechen, verfasst Paul einen sonderbaren Brief an Miroslav, in dem er ihn bittet, ihn als eine Art Paten in die Familie aufzunehmen (vgl. S. 255), auf eine polizeiliche Anzeige wegen des verschwundenen Fauchery-Originals wolle er verzichten!

28) Einmal mehr, so Costello, hat damit Pauls „Schildkrötencharakter“ (S. 261), sein Hang zur Passivität, zum Abwarten, statt spontan zu handeln, gesiegt. Dennoch macht sie Paul ein erstaunliches Angebot: „ ‚Schließen Sie diese Wohnung zu [...] Kommen Sie und leben Sie stattdessen mit mir[...] Ich bringe Ihnen bei, aus dem Herzen zu sprechen. [...] Ich werde sogar für Sie kochen. [...] Keine derben Freuden – [...], eine Art Ehe. Kameradschafts-Ehe.‘ “ (S. 264 f.)

29) Schließlich wird Paul überzeugt, den Jokics einen unangemeldeten Besuch abzustatten – „in Erinnerung an die alten Zeiten“, da man „einfach Freunde besuchen und zusammen Tee trinken konnte“ (S. 275/277) –, der von Marijana allerdings zunächst mehr als eine Art polizeilicher Überfall empfunden wird. Ungeschickt trägt Paul sein Anliegen vor, Drago möge das „geborgte“ Original zurückbringen. In ihrer Familienehre zutiefst gekränkt, zieht Marijana ihn in eine Diskussion über den Begriff „Original“ und zwingt Paul zum Rückzug: „Er hat eindeutig verloren; aber er hat ehrenhaft verloren[ ...], oder hat er erbärmlich verloren?“ (S. 283)

30) Nachdem der Besuch doch noch ein versöhnliches Ende genommen hat, präsentiert Miroslav dem beschämten Paul stolz das Liegefahrrad, das Drago für ihn gefertigt hat. Obwohl Paul schon jetzt weiß, dass er es nie benutzen wird, „[…] instinktiv lehnt er Liegefahrräder ab, wie er Prothesen ablehnt, wie er allen Ersatz ablehnt“ (S. 291), heuchelt er die erwartete Begeisterung und Dankbarkeit, dreht gar mit Miros Hilfe eine Proberunde, um dem „Ritual“ (S. 292) gerecht zu werden. Auf dem Heimweg breitet Elizabeth nochmals ihre Vorstellungen – Visionen – vor ihm aus, wie ein gemeinsames Alter für sie beide aussehen könnte – umsonst! „ ‚Ist das Liebe, Paul?’ [...] Er prüft sie, dann prüft er sein Herz. ‚Nein’, sagt er schließlich, ‚das ist keine Liebe. [...] Es ist weniger.‘ […] ‚Ich aber sage jetzt: Auf Wiedersehen.‘ “ [9] (S. 301)


Paul Rayment . . . und die Frauen

Wesen und Charakter des Protagonisten Paul Rayment werden besonders deutlich in seinen Beziehungen zu den weiblichen Figuren des Romans; eingedenk dessen, dass der „Prot-agonist“ ja der Kämpfer für oder gegen etwas ist (agon/agonia gleich Kampf/Wettkampf/Todeskampf), könnte man in diesem Fall vielleicht sogar von seinen ‚Kämpfen‘ mit den Frauen sprechen.

Pflegepersonal

Da wäre zu Beginn des Romans sein Verhältnis zum weiblichen Pflegepersonal des Krankenhauses: die Schwestern, Mrs Putts als Vertreterin der Fürsorge, Sheena und die Therapeutin Madeleine. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie mehr oder weniger keinen Zugang zu Paul haben. Die freundlich-fröhliche Tüchtigkeit der Schwesternschaft erlebt er nicht als seiner Person und seinem Leid zugewandtes Interesse und Anteilnahme, sondern vermutet dahinter letztlich professionell verkleidete Gleichgültigkeit. (Vgl. S. 17) Mrs Putts von der Fürsorge macht da keine Ausnahme; ihre aufgesetzte, vielfach erprobte Munterkeit und ihr routiniertes Fürsorge-Vokabular machen einen offenen, ehrlichen Umgang unmöglich. (Vgl. S. 23) Sheena, seine erste Tagschwester, wird ihm mit ihrem Kommando und Tagesplan, ständig laufendem Radio, Babysprache – „Töpfchen“, „Schniepel“ – und neckischen Klapsen (S. 31) schnell unerträglich. Physiotherapeutin Madeleine, attraktiv, sympathisch und unter 45, versucht den Teilnehmern ihres Reha-Kurses mit Tanz und Wasserarbeit ein neues Körpergefühl anzutrainieren, aber sie scheitert an Pauls Sturheit – „ […] er ist der Einzige, der eine Prothese abgelehnt hat“ (S. 70) –, und leider behandelt auch Madeleine ‚ihre‘ Alten, „als wären sie Kinder“ (S. 72).

Margaret Mc Cord

Margaret Mc Cord, die Namen aller Paul sympathischen Frauen scheinen mit „M“ anzufangen, älteste Freundin, zeitweilig sogar Intimfreundin, ist die einzige Person aus seinem Freundeskreis, die ihn jetzt, nach dem Unfall, besuchen darf. In „rechtschaffener Empörung“ (S. 21) und voller Mitgefühl für ihn drückt sie aus, was er, der seinen Zorn und seine Verzweiflung unterdrückt und niederhält (vgl. S. 12/15), so niemals formulieren würde: „ ‚Hoffentlich verklagst du ihn […] Rücksichtslose Autofahrer müssen einen Denkzettel bekommen.‘ “ (S. 21) Recht offen sprechen sie über das Thema Sex ‚danach‘, „ob nicht Verlegenheit und Scham die Lust überwiegen würden“, aber sie gehen nicht so weit auszuprobieren, ob Margarets optimistische Argumente – „ ‚Du bist noch du selbst. Du bist noch derselbe gut aussehende, gesunde Mann wie vorher‘ “ – der Praxis auch standhalten würden. (S. 47) Gerade dass Margaret ihn von früher kennt, also auch Vergleiche anstellen könnte, erweist sich jetzt als Hindernis. Ein dritter, diesmal unangemeldeter Besuch [10] Margarets endet unbefriedigend, weil Paul bereits zu sehr auf Marijana fixiert ist und an Margaret als Freundin das Interesse verloren zu haben scheint. (Vgl. S. 68 f.) Auch wenn sich hier zeigt, dass Pauls Freundschaftsbeziehungen nicht tragen, lässt doch die relativ freie Art ihrer Kommunikation darauf schließen, dass der Paul von ‚früher‘ etwas offener und zugänglicher gewesen sein muss, als es der Paul ‚danach‘ ist.

Marianna

Das Zusammentreffen mit Marianna, jener schönen Blinden aus dem Fahrstuhl, ist geplant und wird arrangiert von Elizabeth Costello. Woher sie Marianna kennt, welcher Art die Beziehung der beiden Frauen ist, wie überhaupt sie von Pauls sexuellem Interesse an Marianna wissen kann, bleibt weitgehend im Dunkeln – einmal mehr muss der irritierte Leser sich damit zufriedengeben, dass Costellos Wissen sich aus anderen Quellen speist als solchen, derer sich der an der Oberfläche der Handlung nach Plausibilität suchende Leser bedienen könnte. [11] (Vgl. S. 110/112/113/116)

Costello möchte ihn, den einsamen Lahmen, und sie, die vor körperlicher Begierde brennende Blinde, zusammenbringen: „ ‚Warum wollt ihr nicht schauen, was ihr zusammen erreichen könnt […]? […] Was immer ihr auch zusammen anstellen mögt ­– […], was wird daraus entstehen? […] Es liegt bei euch‘“. [12] (S. 112 f.) Was erhofft sich ‚Regisseurin‘ Costello von diesem Arrangement, das – oberflächlich betrachtet – leicht die Züge eines „Experiments“ (S. 130) annimmt, „als brächte man verschiedene Arten zusammen, um zu sehen, ob sie sich paaren“ (S. 122), und als solches auf den Leser geschmacklos, ja zynisch wirken mag?

Oberflächlich betrachtet! Mehlpaste, Zitronenblatt und Augenbinde machen den Fotografen, den Augenmenschen Paul zu einem blinden Lahmen, einem doppelt Behinderten, dem der „Anblick der Schönheit“ (S. 123) ebenso verwehrt ist wie die Mobilität Nichtbehinderter. Reduziert und konzentriert auf Geruchs-, Gehör- und Tastsinn, auf Riechen, Hören, Schmecken und Fühlen, könnte diese Begegnung der solcherart Gleichgestellten tatsächlich zu einer grenzüberschreitenden neuen Erfahrung werden, denn „ ‚ihr werdet frei sein, für eure jeweilige Rettung zu sorgen. […] In Marianna stecken Möglichkeiten‘ “. ( Costello, S. 115)

Dass Paul und Marianna diese Möglichkeiten nur ansatzweise wahrnehmen können, ist sowohl im Wesen der beiden begründet – „Im Reich des Unsichtbaren sucht er jedoch noch ungeschickt seinen Weg. Schönheit ohne Anblick der Schönheit ist für ihn noch nicht vorstellbar […] Aber Marianna […] behält für sich, was auch immer in ihr vorgehen mag“ (S. 123/S. 125) – als auch der Künstlichkeit der Situation geschuldet, der die Costello „auf Beobachtungs- und Warteposten“ unsichtbar beizuwohnen scheint (S. 127). Immerhin: „Wie gut das tut, und wie unerwartet das kommt, dass er wieder den Körper einer Frau berühren kann“ (S. 126) – eine positive körperliche Erfahrung – und: „ ‚ […] wenn ich nicht eine gewisse Schwelle überschreite, dann stecke ich fest und kann nicht wachsen‘ “ (Paul, S. 128) – eine positive Interpretation des Projekts, die allerdings gleich von Paul wieder gründlich zerdacht, zerredet und zerstört wird: „[…] wie konnte sie [Costello] die Vorstellung hegen, dass […] er ein neuer Mensch werden würde? Blindheit ist schlicht und einfach eine Behinderung. Ein Mensch ohne Sehvermögen ist ein geringerer Mensch, ein Mensch mit einem Bein ist ein geringerer Mensch, kein neuer Mensch.“ (S. 129)

Beide sind am Ende des ‚Akts‘ wieder zurückgeworfen auf sich selbst, Grenzen wurden nicht wirklich überschritten, Wachstum und Entwicklung der Beteiligten und ihrer Beziehung nicht eingeleitet. Eine Wiederholung wird es nicht geben, und – wer weiß? – war diese Marianna tatsächlich jene schöne Unbekannte aus dem Fahrstuhl, oder ging die Täuschung mittels Mehlpaste und Nylonstrumpf viel weiter, war Marianna aus dem Fahrstuhl vielleicht eine Natascha oder Tanja aus dem Telefonbuch? – „ ‚ […] keine Ahnung, wo sie wohnt, Ihre Marianna. Ich habe immer nur am Telefon mit ihr gesprochen.‘ “ (Costello, S. 132)

Marijana Jokic

Wie dem auch sei, Marianna vermag nicht, Paul von Marijana zu heilen. Was an Marijana macht sie für Paul eigentlich so begehrenswert? Das Äußere – alles in allem eher Durchschnitt –, eine robuste, stämmige, Gesundheit verströmende Straffheit, die sich ihm beim Bücherabstauben vor allem durch Po und Waden zeigt, ihm, der sich jetzt „erschlafft“ fühlt (S. 34), der seinen „unschönen neuen Körper“ mit dem „ obszönen Bäuchlein“ (S. 48) als „Sack voll Blut und Knochen“ (S. 40) betrachtet; ein angenehmes, ruhiges Wesen, zupackende und doch sanfte Hände, die intuitiv zu wissen scheinen, was sein schmerzender Körper braucht (vgl. S. 41), und eine ihm angenehme slawisch gefärbte Sprache mit „charmanten Wortverwechslungen“ (Costello, S. 297).

Wie der Leser weiß, ist auch für Paul Englisch nicht die Muttersprache; wenngleich er es natürlich auf einem viel höheren Niveau beherrscht, ist es doch nicht die Sprache, die ihm „aus dem Herzen“ geht ( „ ‚ […] Sie sprechen Englisch wie eine Fremdsprache.‘ – ‚Ich spreche Englisch wie eine Fremdsprache, weil ich ein Fremder bin‘ “ (S. 264)) wie das Französische, mit dem er aufgewachsen ist. Auch er stammt, wie Marijana und ihre Familie, aus einem katholischen Land des „alten“ Europa, war „ein richtiger katholischer Bub“ (S. 177) – Parallelen in der Lebensgeschichte der beiden ansonsten so ungleichen Immigranten, die vor allem von Paul selbst bemüht werden, um seine leidenschaftliche, sich seiner rationalen Kontrolle vollständig entziehende Liebe zu Marijana argumentativ zu unterfüttern: „ Wer ist diese Frau, denkt er, der ich mich ganz ergeben möchte?“ (S. 145, kursiv im Original), und: „Wenn seine Liebe zu Marijana wirklich rein ist, warum hat sie dann damit gewartet, von seinem Herzen Besitz zu ergreifen, bis Marijana ihm ihre Beine gezeigt hat?“ (S. 170)

All das würde wohl nicht ausreichen, diese hartnäckige, die Realität ignorierende oder verkennende Leidenschaft in Paul zu entfachen, stünde Marijana nicht auch für einen Lebensentwurf, den nicht verwirklicht zu haben Paul jetzt als seinen größten Fehler, sein schlimmstes Versäumnis betrachtet: eine Familie zu gründen, Kinder zu haben. (Vgl. S. 42) Marijana, so glaubt er, „hätte ihn auf den rechten Weg gebracht, wenn er ihr nur rechtzeitig begegnet wäre, […] Marijana hätte ihm aus der Kinderlosigkeit herausgeholfen.“ (S. 43) Und obwohl oder weil Paul weiß, dass es dafür zu spät ist, sucht er nach Mittel und Wegen, nicht nur Marijana zu erobern, die für ihn zum Inbegriff „lebenspraller“ (S. 100), fruchtbarer Weiblichkeit geworden ist, sondern auch Einlass in ihre Familie zu finden – auch wenn, bei Licht besehen, nichts an Marijanas Verhalten ihn dazu ermuntern sollte, ganz abgesehen von einigen nicht unwichtigen Differenzen und Hindernissen: der Altersunterschied, seine körperliche Hinfälligkeit, kulturelle und bildungsmäßige Verschiedenheiten, ein anderer Geschmack, ein anderer Lebensstil (vgl. S. 276 ff.)[13].

Blind für das, was ihm noch möglich wäre, hinkt Paul dem Unmöglichen hinterher. (Marijana: „ ‚ […] Elizabeth soll mit Sie leben, dann vergessen Sie Marijana. Vergessen auch Pate. Keine gute Idee, Pate, nicht realistisch.‘ […] Das Lachen sprudelt nur so aus ihr heraus. […] Er kann nicht lachen. […] ‚Ich könnte in eurem Hinterhof wohnen‘, flüstert er.“ (S. 286))

Der erste und wohl auch zugleich letzte Besuch bei Familie Jokic lässt eine Fortsetzung der ‚Affäre Marijana‘ wenig wahrscheinlich erscheinen, eher zeichnet sich Costellos düstere Prognose am Horizont ab: „Von Mrs Jokic werden Ihnen leider nur Erinnerungen bleiben […], getrübt von Bedauern, die mit dem Lauf der Zeit verblassen werden, wie das bei Erinnerungen meist so ist.“ (S. 297)

Elizabeth Costello

Wenn der Leser von den unsicheren und ungesicherten Gründen, auf denen Elizabeth Costellos Erscheinen und Wirken im Roman beruhen, einmal absieht, darüber hinaus ihre Rolle als Störenfried und permanente Unruhestifterin nicht allzu ernst nimmt, erscheint sie erstaunlicherweise tatsächlich auf einer intellektuellen und charakterlichen Ebene als eine für Paul geeignete Partnerin. Zwar ist sie etwa zehn Jahre älter als dieser, er aber durch den Unfall und die daraus folgende Behinderung in ein weit fortgeschritteneres Stadium des Alters katapultiert – jedenfalls was seine physischen Möglichkeiten betrifft. Auch wird ihr Äußeres von Anfang an von Paul eher als unangenehm empfunden – „fleischige Schultern mit unattraktiven Pigmentflecken“ (S. 93), „blau geäderte, ziemlich dünne Waden“ (S. 97), „alte Hexe“ (S. 103), „Mund […] mit seinen […] vertrockneten Lippen und dem Bartanflug“ (S. 267) – , er findet keinen Geschmack an dem, was Elizabeth zu bieten hat: ihre scharfe Beobachtungsgabe, ihre realistische Sicht der Dinge, ihre pragmatische und unkomplizierte Art, ihr psychologisches Gespür, ihre ironische Distanz zu sich selbst und ihrem Alter, dem Alter allgemein – nichts davon scheint Paul zu schätzen.

Er nimmt ihr übel, dass sie sich so massiv in sein Leben einmischt („Du mischst dich ständig ein, denkt er giftig“ (S. 143, kursiv im Original)), fühlt sich von ihr gedrängt und bedrängt, ja manipuliert („‚Sie behandeln mich wie eine Marionette, […] Sie denken sich Geschichten aus und bedrängen uns so lange, bis wir die Geschichten für Sie aufführen‘ “ (S. 134)), begreift bis zum Schluss nicht, was sie eigentlich von ihm will („ ‚was ich nicht verstehe, ist, warum Sie auf mir beharren […] Lassen Sie mich fallen, […] lassen Sie mich so weiterleben wie bisher‘ “ (S. 134), und: ‚ „[…] wie gründlich satt ich es habe, von Ihnen in diese oder jene Richtung gestoßen zu werden‘ “ (S. 253)), möchte nur, dass sie wieder dahin verschwindet, wo sie hergekommen ist (vgl. S. 147/161 f.).

Diesen Wunsch erfüllt ihm Costello nicht, im Gegenteil! Immer wieder versucht sie ihm klarzumachen, dass ihr Da-Sein sich einer Art Vision verdankt, dass sie ‚gesandt‘ ist, eine Mission zu erfüllen hat: „ ‚Der Stoß erwischt ihn rechts, […]‘ […] ‚Wissen Sie, was ich mich gefragt habe, als ich diese Worte zum ersten Mal gehört habe Mr Rayment? Ich habe mich gefragt: Warum brauche ich diesen Mann?‘ […] ‚Sie sind zu mir gekommen‘ […] ‚In gewisser Hinsicht kann ich nicht steuern, was zu mir kommt‘ “ (S. 94 f., kursiv im Original); „ ‚Für eine absehbare Zeit werde ich Sie begleiten.‘ […] ‚Ich habe mir das genauso wenig ausgesucht wie Sie.‘ […] ,Sie sind mir begegnet – ein Mann ohne Zukunft […]‘ “ (S. 98 f.); „ ‚Ob es Ihnen gefällt oder nicht, ich werde noch eine Weile bei Ihnen bleiben […], damit Sie auf dem Weg bleiben‘ “ (S. 101). Costello folgt ihrer „Intuition“ (S. 99), begreift die Begebenheiten als Winke eines Schicksals – „ ‚ Sie sind mir geschickt worden, ich wurde Ihnen geschickt. Warum das so sein sollte, weiß Gott allein‘ “ (S. 183) –, dem sie Sinn und Möglichkeiten abzugewinnen versucht.

Während Paul seinen Unfall nur als entsetzliche Zäsur begreift, die ihn von seinem bisherigen Leben abschneidet, ihn in tiefste Depression und Suizidgedanken stürzt (vgl. S. 18, S. 32 ff., S. 64 f.), versucht Costello ihm die darin liegende Herausforderung aufzuzeigen, die ihn aus seiner über die Vergangenheit gebeugte Introversion herausholen und für eine aktive Gestaltung von Gegenwart und Zukunft öffnen könnte: „ ‚Denken Sie daran, wie gut Sie einmal angefangen haben. Was hätte besser dazu angetan sein können, Aufmerksamkeit zu erregen [14] , als das Geschehen auf der Magill Road […] Was für ein trauriger Abstieg seither!‘ “ (S. 115) Aus dieser ihrer Sicht führt Pauls Leidenschaft für Marijana in eine Sackgasse, und Paul läuft Gefahr, im Wendehammer zu kreisen, ohne noch einmal Zugang zu den weiterführenden Straßen des Lebens zu finden: „ ‚Ganz gewiss ergibt sich daraus eine Lehre‘ “ (Costello, S. 226 f.), und: „ ‚Seien Sie gewarnt, Paul: so werden Sie enden,[ …] als alleiniger Verzehrer Ihrer Leiden‘ “ (S. 262).

Und obwohl es Elizabeth teilweise gelingt, ihm Lebens-Geschichten zu entlocken (vgl. z. B. S. 222 ff.), und obwohl es ein, zwei Momente gibt, da Paul ihr gegenüber eine gewisse Fürsorglichkeit zeigt (vgl. z. B. S. 270), bleibt er doch der Gefangene seiner „unpassenden“ Leidenschaft und ist nicht bereit, sich mit weniger – einer Prothese? – zufriedenzugeben und sich auf eine Alters-Zukunft, eine Gefährtenschaft mit „Malleus maleficorum“ und „Onward and upward“ („Slow Man“, S. 263) einzulassen. (S. 300 f.)

Paul Rayment . . . und die Männer: Drago

Von den Männern, die Paul im Krankenhaus und in der Zeit danach begegnen, ist wohl Drago für ihn der wichtigste. Nicht nur ist er Marijanas ungewöhnlich sensibler, sympathischer, schöner und kluger Sohn (vgl. S. 84, 186) – er wird in Pauls Vorstellungen zu dem Sohn, den er, Paul, nie hatte und den er sich jetzt so sehnlichst wünscht: „Haupsächlich bedauert er, keinen Sohn zu haben. […] den Sohn, den er nicht hat, vermisst er wirklich“ (S. 54 f.), und: „Er ist wie eine Frau, die nie ein Kind geboren hat und mittlerweile zu alt dafür ist und nun ein plötzliches und heftiges Verlangen nach der Mutterschaft spürt“ (S. 86).

Es gibt für Paul keine Hinterlassenschaft in Fleisch und Blut, nur eine in Papier, seine Fotosammlung, mit der er bei Drago zu punkten hofft. Aber Pauls Vorstellungen und Wünsche eines väterlichen oder zumindest patenschaftlichen Verhältnisses zu Drago sind zu sehr von Konventionen und Klischees geprägt (vgl. S. 55) und halten der Wirklichkeit nicht stand („Aus dem ruhigen Wachsen der Vertrautheit […] ist nichts geworden“, S. 206; vgl. auch Kapitel 27, 28). Immerhin entwirft Drago mit den in Kroatien gebliebenen alten Großeltern ein Gegenmodell zu Paul mit seinem rückwärtsgewandten, technische Neuerungen verachtenden Blick, erteilt ihm eine Lektion: „ ‚ Mum hat ihnen einen Computer gekauft, […] sie können E-mails verschicken, wir können ihnen Bilder schicken. […] Und sie sind ziemlich alt“ ‘ (S. 205).

Erzählzeit und erzählte Zeit

Die erzählte Zeit von „Zeitlupe“ umfasst auf der Geschehensebene des Romans einige Monate, vom Unfall auf der Magill Road bis zur endgültigen Verabschiedung Elizabeth Costellos, genaue Angaben enthält der Text nicht; durch die erzählten Erinnerungen wird die Zeit, von der erzählt wird, noch um Jahrzehnte gedehnt. Die Erzählzeit dürfte, je nach Lesetempo, bei einigen Stunden liegen. Erzählzeit und erzählte Zeit fallen nahezu zusammen im Bericht des Unfalls zu Beginn des Romans (vgl. S. 5, 1. Abschnitt), ein stilistisches Mittel, das besonders geeignet ist, die Plötzlichkeit und Unerwartetheit des Geschehens zum Ausdruck zu bringen. Erinnerung, innerer Monolog und Gespräch nehmen im Roman großen Raum ein, bringen immer wieder als retardierendes Moment Verzögerungen in den Gang der Handlung, Erzählzeit und erzählte Zeit nähern sich dabei stets an, es findet eine Art Entschleunigung oder Verlangsamung – Prinzip „Zeitlupe“ – statt.

Erzähler und Erzählperspektive

Der Roman wird uns von einem personalen Erzähler, einem Er-Erzähler, dargeboten, der weitgehend aus der Sicht der Hauptperson, Paul Rayments, erzählt; insofern haben wir nur eine scheinbare Neutralität der Erzählhaltung. Ihr entspricht eine personale Erzählperspektive, bei der das ‚Innen‘ das ‚Außen‘ überwiegt, angezeigt durch den häufigen Einsatz von innerem Monolog und ‚gedachter‘ Rede (z. B. S. 10: „Das kommt davon … bin!“ (kursiv im Original), oder S. 15: „Ihr habt mich narkotisiert … reden?“ (kursiv im Original)). Oft hat der Leser den Eindruck, dass es sich dabei tatsächlich um Selbstgespräche handelt, die aber mit dem fiktiven Zuhörer, dem Leser, rechnen (z. B. S. 17, kursiv im Original: „So jung und doch so herzlos!, beklagt [!] er sich. Wie bin ich nur in ihre Hände gefallen?“).

Wie die Distanz des Lesers zu den Romanfiguren ständig variiert, verringert, nahezu aufgegeben, dann wieder vergrößert wird, wird erreicht durch diesen wechselnden Einsatz der Darstellungsweisen – innerer Monolog, ‚gedachte‘ Rede, Gespräch/direkte Rede, indirekte Rede, indirekte Rede mit ‚direkten‘ Anteilen, Beschreibung … (vgl. z. B. S.10 ff.) –, wobei, gemäß der Erzählperspektive, nur der Hauptperson, Paul, das ganze Spektrum zukommt, die anderen, auch Costello, bleiben ‚außen vor‘, was auf der Leserseite wiederum bedeutet, dass Paul – zumindest während des Leseprozesses – dessen höchste Empathie erfährt.

Who’s who? . . . Fragen der Autorschaft

In seinem Buch über Coetzee zitiert Loimeier Italo Calvino, der über das Schreiben sagt, dass die Person, die schreibe, jene erste Figur erfinden müsse, die der Autor des Werkes sei. Der Autor sei insofern Autor, als er in eine Rolle schlüpfe wie ein Schauspieler und sich mit dieser Projektion seiner selbst, in dem Augenblick, in dem er schreibe, identifiziere. [15] So gesehen, wäre auch Elizabeth Costello, häufig als Alter Ego, ja „Sprechrollenfigur“ des Autors Coetzee [16] bezeichnet, eine weitere Projektion der schreibenden Person Coetzee, deren Autorschaft sich aufsplittert oder multipliziert, indem sie sich einer fiktiven Co-Autorin bedient. Für den am traditionellen Modell der Autorschaft festhaltenden Leser ist nicht nur diese Multiplikation irritierend, sondern auch, wie oben schon erwähnt, die höchst mysteriöse Art und Weise ihrer Einführung und ihres Wirkens in einer ansonsten durchaus realistischen Szenerie.

Im Gespräch mit David Attwell, sagt Coetzee unter anderem: “I tend to resist invitations to interpret my own fiction. If there where a better […] way of saying what the fiction says, then why not scrap the fiction? “ [17] Auf unseren Roman bezogen, könnte das heißen, dass die Fiktion „Costello” uns wichtige Einblicke in das ‚Funktionieren‘ postmodernen Schreibens gewährt. Als Romanfigur von „Zeitlupe“ in vielem ein Widerpart zum Protagonisten Paul [18], ist sie als Co-Autorin und Autorin eines – vielleicht – gerade entstehenden Romans zwar einerseits im Besitz exklusiver Informationen, die Paul nicht hat, gleichzeitig aber auf dessen Handeln angewiesen, damit die Handlungen beider Romane zu Ende gebracht bzw. vorangetrieben werden können: „ ‚Je eher Sie sich für eine Vorgehensweise […] entscheiden […], desto eher können Sie und ich […] uns trennen.‘ “ (Costello, S. 156) Dieses Spiel mit der Autorschaft erfordert, wie schon erwähnt, als Mitspieler den engagierten Leser, der bereit ist, sich auf dieses Spiel von Fiktion und Metafiktion einzulassen.

Intertextualität

Was die Intertextualität betrifft, so müsste man wohl das gesamte literarische Werk Coetzees kennen, um die zahlreichen Bezüge innerhalb seiner Arbeiten herstellen zu können und, darüber hinaus, die vielerlei Anspielungen auf Werke anderer Autoren zu verstehen. Paul setzt sich in Beziehung zu Sokrates (vgl. S. 33), Platon (vgl. S. 64) und Paulus (vgl. S. 41), wenn er über sein schlimmes Schicksal räsoniert, Elizabeth führt Homer (vgl. S. 182), Hiob (vgl. S. 115), Don Quixote (vgl. S. 261) und Emma Bovary (vgl. S. 261) ins Feld. In den „Légendes dorées“ (vgl. S. 147 f.) findet sich die Geschichte von Sindbad (Paul) und dem hartnäckigen, ihn nicht mehr loslassenden Alten (Costello).

Elizabeth selbst ist eine – selbstreferenzielle? – Intertextualität auf zwei Beinen, die mit ihren Notizen für einen noch zu schreibenden Roman an weiteren inter-intertextuellen Bezügen strickt, [19] ganz so, wie sie in der Erzählung „As a woman grows older“ feststellt: „Where would the art of fiction be if there where no double meanings?“ [20]


Alter und Alterstopoi

Altern, jene „irreversible Veränderung der Substanz als Funktion der Zeit“ [21], ist ganz offensichtlich ein Thema von „Zeitlupe“, gehören doch beide Protagonisten, Paul (Anfang sechzig) und Elizabeth (Anfang siebzig), der „elder generation“ an, und gibt auch der Romantitel selbst, von seiner speziellen Bedeutung für Paul einmal abgesehen, für diese Lebensphase eine Art Programm vor, nämlich das der Verlangsamung vieler den alternden Menschen betreffenden Vorgänge.

Die Unterschiede zwischen den beiden Protagonisten zeigen sich besonders deutlich gerade darin, wie sie ihr Alter wahrnehmen und sich dazu verhalten. Paul, der ‚junge‘ Alte, auf den sich die Erzählerperspektive ja konzentriert, wird, wie schon erwähnt, durch seinen Unfall und den daraus resultierenden Verlust seines rechten Beines quasi vom Anfang ans Ende des Alters befördert, er verliert seine Mobilität, der Rückzug aus seinen bisherigen sozialen Bezügen wird dadurch eingeleitet und komplettiert durch seine Weigerung, sich mit Prothesen – in welcher Form auch immer – anzufreunden.

Entsprechend groß und häufig ist seine Alters-Klage (vgl. z. B. S. 18, 32 f., S. 34). Pauls resignative Klage wird wohl am anschaulichsten in jenem Bild des Platon’schen Pferdegespanns, dem „Seelenwagenmythos“, das Paul für seine jetzigen Lebensumstände folgendermaßen abwandelt: „Nachdem Paul Rayments Gespann sechzig Jahre lang jeden verdammten Morgen aufgewacht war[…] und dann zur Tagesarbeit eingespannt worden war, wird es wohl nun einfach genug haben. […], dann lassen sie (die Pferde) eben die Beine einknicken und legen sich im Geschirr nieder; und wenn die Peitsche um ihr Hinterteil knallt, lass sie knallen.“ (S. 64)

Auch an Spott über den „geilen alten Bock“ (den Schwestern zugeschrieben, S. 20), den „alten Knacker“ und „Opatyp“ (Wayne Blight zugeschrieben, S. 26 f.) und – vergleichsweise harmlos und witzig – den „Schneckenmann“ (Ljuba, S.294) fehlt es nicht. Zwar existieren in Pauls Vorstellungen durchaus positive Bilder des Alters, wie sie zum Beispiel in den imaginären Vater-Sohn-Gesprächen (vgl. S. 55) aufleuchten, aber sie entbehren jeder Grundlage in der Wirklichkeit.

So bleibt Paul der Klage verhaftet, die meist bitter, ja zynisch (vgl. S. 17 f.) ausfällt; nur einmal streift er Alters-Lob: „Wenn der schnaubende Rappe der Leidenschaft den Geist aufgegeben hat? Der Herbst seiner Männlichkeit. Welche Enttäuschung; aber auch welche Erleichterung!“ (S. 68).

Auch Elizabeth Costellos Alter ist krankheitsbedingt schwierig und mühsam, aber während Pauls Alterungsprozess durch den Unfall mit rasender Geschwindigkeit vorangetrieben wurde, scheint ihr schwerkrankes Herz sie nicht daran zu hindern, ihrer Intuition zu folgen, zu tun, was sie für richtig halt, und dem Leben noch abzutrotzen, was möglich ist. Wenn sie die altersbedingten Einschränkungen beklagt, dann ohne Larmoyanz, aber mit realistischem Blick, mit Selbstdistanz und Ironie (vgl. z. B. S. 182, S. 227, S. 232 f., S. 262, S. 264 f., S. 266 f., S. 269, S. 297 f., S. 300).

Auch sie nimmt Bezug auf das Platon’sche Pferdegespann, das in Pauls Alters-Vorstellung ein so armseliges Bild der Resignation abgibt. Ihr Part in ihrer Version ist der der „braven alten Liese“ („faithful old Dobbin“; „Slow Man“, S. 260), eine liebevoll-spöttische Bezeichnung, die eher von einem langen, arbeitsreichen, doch insgesamt befriedigenden Leben zu künden scheint als Pauls abgewirtschaftete Klepper. Zwar bricht auch Elizabeth – äußerlich eher dem Topos der „hässlichen Alten“ entsprechend – an keiner Stelle in Alters-Lob aus, aber im Vergleich zu Paul, der verkörperten Klage, erscheint sie in ihrem ganzen Elan, mit dem sie ihre Alters-Visionen umsetzen möchte (vgl. S. 300), wie jene „unwürdige Greisin“ als eine mögliche Verkörperung von Alters-Lob.


Anmerkungen

  1. Über die Bedeutung der Initialen J. M. herrscht in der Sekundärliteratur eine gewisse Unsicherheit: John Maxwell, John Michael oder gar Jean Marie? – Zutreffend ist wohl „John Maxwell“, die Vornamen, unter denen Coetzee seine Dissertation eingereicht hat und von denen die Nobelpreisjury ausging.
  2. „J. M. Coetzee (b. 1940)”; gefunden unter [1]
  3. „An exclusive interview with J M Coetzee“ in DN.se vom 08. 12. 2003; gefunden unter [2]
  4. Ein ausführliches und korrektes Werkverzeichnis findet sich bei Loimeier (s.u.) ; ansonsten z. B. unter [3]
  5. Manfred Loimeier, J. M. Coetzee; edition text und kritik in Richard Boorberg Verlag GmbH &Co KG, München 2008, S. 34
  6. Der deutsche Titel „Zeitlupe“ trifft ebenso einen wichtigen Aspekt von Pauls Leben nach dem Unfall wie der Originaltitel „Slow Man“. Paul ist zum „slow man“ per se geworden, dessen Leben von nun an wie in Zeitlupe verläuft.
  7. Der Name Ray-ment evoziert beim Leser vielleicht auch den Namen eines bekannten Künstlers und Fotografen: Man Ray! Die französische Aussprache von Pauls Nachnamen, die fast identisch ist mit der des französischen Adverbs „vraiment“ (= wirklich, wahrhaftig), und die englische, die im Text von Costello mit „payment“ (= Bezahlung) assoziiert wird (S. 219), liefern weitere Konnotationen.
  8. Alle Seitenangaben im nachfolgenden Text beziehen sich auf die Ausgabe J. M. Coetzee, Zeitlupe, Fischer Taschenbuch Verlag, F. a. M. 2007
  9. Der Psychologie der Situation eher entsprochen hätte m. E. an dieser Stelle „Lebe wohl“ („Slow Man“, S. 263: „goodbye“) statt „Auf Wiedersehen“.
  10. Unangemeldete Besuche sind Paul ein Gräuel, erfährt der Leser ‚später‘ (S.273).
  11. Als gäbe es eine Art freien und unkontrollierbaren flottierenden Bewusstseinsstrom, zu dem nur Costello Zugang hätte.
  12. Auf fällt, dass die Übersetzerin hier „you“ teilweise mit „ihr/euch“ übersetzt und mit dieser Distanzaufgabe das kupplerische Vorgehen Costellos betont bzw. ein voyeuristisches Moment eingeführt wird.
  13. S.276: „( ‚So echt!‘, schwärmt Elizabeth Costello, […] So authentisch! ‘ )“ – Was für eine herrlich ironische Szene!
  14. „Slow Man“, S. 100: „ ‚What could be better calculated to engage one’s attention[ …]’ “; deshalb eher:„ ‚Was hätte besser dazu angetan sein können, Sie aufmerken zu lassen […]’ “
  15. Loimeier, S. 228 f.
  16. So Tobias Döring in einer F.A.Z.-Besprechung von „Zeitlupe“ vom 02.01.2006: „Der Besuch der alten Dame“; gefunden unter [4]
  17. „An exclusive interview with J M Coetzee“ vom 08. 12. 2003; gefunden unter [5]
  18. “Paul Rayment is being written into being by Elizabeth Costello, but he also resists her”, so David Attwell in seinem Aufsatz “Coetzee’s Estrangement”(S. 7), und weiter: “[…] her insistence that he take responsibility for the action, […] would seem to allegorize the kind of negative capability on which a successful narrative would depend”; gefunden unter [6]
  19. Subtiler und weit diffiziler aufzuschlüsseln sind Anspielungen, wie sie sich z. B. auf S. 178 f. – Stichwort „blutendes Herz“ – finden. Hier geht es einmal um das im katholischen Glauben in Wort und Bild tradierte blutende Herz Jesu, andererseits wird z. B. auch das „steinerne Herz“ evoziert, das wir aus E.T.A. Hoffmanns gleichnamiger Erzählung kennen und das, bevor es zur Ruhe kommt, ein „blutendes Herz“ ist.
  20. Die Erzählung lässt sich nachlesen unter [7]
  21. So die Definition von M. Bürger in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Band 1, S. 828.