Max Frisch, Entwürfe zu einem dritten Tagebuch (von Lieselotte Lindemann)

Aus Literarische Altersbilder


Entstehungsgeschichte

„Max Frisch Entwürfe zu einem dritten Tagebuch“ nennt der Suhrkamp Verlag die 2010 posthum erschienene Veröffentlichung von Texten aus dem Nachlass des Schweizer Autors [1]

Das bislang unbeachtet gebliebene Manuskript fand sich im Max Frisch Archiv an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Die maschinengeschriebenen Notizen waren offensichtlich für ein drittes Tagebuch vorgesehen, das vorhandene Titelblatt gibt darüber genauere Auskunft: Tagebuch 3, Ab Frühjahr 1982, Widmung: für Alice, New York, November 1982. Die Ausführungen waren überarbeitet, sprachlich komprimiert, die Komposition der einzelnen Texte kunstvoll miteinander verbunden, aber als Ganzes nicht zu Ende gebracht worden. Max Frisch selbst scheint dieses geplante Tagebuchprojekt abgebrochen zu haben.

Zur Biographie: vgl. Max Frisch, Montauk (Lieselotte Lindemann)


Inhalt

'Tagebücher' sind bei Max Frisch, anders als im üblichen Sinne gebraucht, keine chronologisch aneinandergereihten Notizen über das eigene Leben, sondern eine extrem durchgearbeitete Form, nämlich Dasein, auch in seiner überindividuellen Bedeutung, in Worte zu fassen und schreibend zu überprüfen.

In dem vorliegenden Fragment wirken die Tagebuchnotizen zunächst wie in sich geschlossene singuläre Texte. Erst im Verlauf der Lektüre verschränken sich die Aufzeichnungen zu geopolitischen Themen und den persönlichen Überlegungen des Erzählers zu Alter, Krankheit, Tod und Religion, seinem Verhältnis zu Frauen und dem eigenen schriftstellerischen Prozess und ergeben so ein inhaltliches Netzwerk.

Betrachtungen, aber auch Alltagsbeobachtungen werden nicht in philosophischer Begrifflichkeit ausgedrückt, sondern mit einem rigorosen Willen zur Genauigkeit beschrieben (vgl. S.176). Die meist sehr pointiert formulierten Aussagen enden häufig mit einer rhetorischen Frage oder einem offenen Schluss und provozieren damit den Leser, oft aber auch, so der Eindruck, das erzählende Ich selbst zur Reflexion.

Einige der Texte wirken wie verschriftlichte Selbstgespräche, die oft eine gehörige Portion Skepsis dem eigenen Urteil gegenüber zeigen (vgl. S.14, S.20), andere dagegen wie ganz private Wahrnehmungssplitter, die oft sehr poetisch sind[2].

Manche Themen werden nur gestreift, andere hingegen immer wieder aufgegriffen und erneut bedacht. Oft ergeben sich dann widersprüchliche Überlegungen, die aber jeweils als „begriffene Wahrheiten“[3]so akzeptiert werden müssen.

Schon der erste Eintrag (vgl. S.7) macht die Ambivalenz deutlich, mit der der Erzähler Amerika, die Amerikaner und sein Leben in New York betrachtet. In einer Art Hassliebe fühlt er sich den USA verbunden. Teils mit Bewunderung (vgl. S.119), teils mit Befremden (vgl. S.33), Bestürzung (vgl. S.47) und stellenweise auch spürbarer Wut (vgl. S.143) beobachtet er die Überzeugungen vieler US-Amerikaner. „…sie fühlen sich als die beste Art von Menschen, die es geben kann, …“(S. 9).

Viel Raum nehmen die politischen Ereignisse zu Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ein. Mit dem kritischen Bewusstsein eines Chronisten zitiert (vgl. S.50) und kommentiert er Zeitungsnotizen, die dem Leser die Weltsituation vor fast drei Jahrzehnten wieder ins Gedächtnis bringen.

Das Verhältnis der USA zur Sowjetunion (vgl. S.159) im „Kalten Krieg“ schien einen Nuklearkrieg denkbar zu machen. Aus heutiger Sicht wirkt manche Einschätzung übertrieben dargestellt, aber die Verunsicherung und auch die Angst davor sind im Text deutlich spürbar (vgl. S.92, S.100, S.136).

Andere Gedanken, wie die zu Israel (vgl. S.98, S.111), haben im Laufe der Jahre erstaunlich wenig an Aktualität und Brisanz verloren.

Die vorliegenden Tagebuchnotizen sollten Alice Carey gewidmet sein, der fünfunddreißig Jahre jüngeren Amerikanerin, mit der Frisch während dieser Zeit teils in New York und teils in der Schweiz zusammenlebte. Ein Wochenende mit ihr hatte ihn 1974 zu der Erzählung „Montauk“ angeregt.

Seine Liebe und dieses „fast bedingungslose Wohlgefallen“(S.153) an ihr drückt der Ich-Erzähler in kurzen, sparsamen Sätzen aus: „Du bist eine Schöne Seele.“(S.113)

Und doch ist die Beziehung nicht ohne Konflikte. Er, als Europäer, hat andere Vorstellungen von Emanzipation und für die viel jüngere Frau ist die Überlegenheit des Älteren in alltäglichen und intellektuellen Dingen auch schwer zu ertragen. („ ...ob Kerzenhalter oder Ibsen; immer dieses Schon- Wissen, das sie an ihren Daddy erinnert!“ S.157)

Krankheit und Tod durchziehen als Motive für Reflexionen das gesamte Buch.

Die Begleitung seines krebskranken Freundes Peter Noll bis zu dessen Ende verknüpft das Tagebuch-Ich mit Überlegungen zur christlichen Religion (vgl. S.121), zum Glauben (vgl. S.123), zur Transzendenz (vgl. S.73) und mit der Selbstbefragung nach dem eigenen Standpunkt (vgl. S.124).

Viele seiner Eintragungen beschäftigen sich mit dem eigenen Alter und dem Altern, deren unterschiedlichen Facetten und den teils resignativen Konsequenzen.

Eng damit verbunden ist die Auseinandersetzung mit seinem Leben als Schriftsteller (vgl. S.27), dem Prozess des Schreibens (vgl. S.1o1) und seinen zunehmenden Zweifeln, noch etwas Bedeutendes zu sagen zu haben (vgl. S.16).

Im letzten Teil der Aufzeichnungen entwirft er in der Phantasie sein „Lebensabendhaus“ (vgl. S.172), eine weiße Holzvilla in Neuengland („Früher war ich Architekt.“ S.142), wo er in Würde und ohne Sentimentalität als „der einzige Greis“ (vgl. S.145) mit seinen verschiedenen Gästen leben möchte.

In fast heiterer Tonart beschreibt der Erzähler die Landschaft, die sich in seiner Vorstellung immer ein wenig verändert, in der dieses Traumhaus stehen soll. Die wechselnden Szenarien, in denen nicht nur die noch lebenden Freunde (vgl. S.146/147), sondern auch die schon gestorbenen (vgl. S.170) als Besucher und Gesprächspartner ihren Platz haben, wirken wie ein Gedankenspiel mit den Möglichkeiten, seinen Lebensabend angemessen zu gestalten.

Schade, dass die Notizen hier abbrechen und dieses Tagebuch ein Fragment geblieben ist.



Überlegungen zu den Alterstopoi

Nicht erst in diesen Tagebuchnotizen, sondern auch schon in seiner Erzählung „Montauk“ hat sich Frisch ausführlich mit dem Alter und dem Altern auseinandergesetzt.

Von den traditionellen Alterstopoi überwiegen im vorliegenden Text auf den ersten Blick die Topoi der Klage. Schaut man aber genauer hin, so ist zu bemerken, dass durch das Zusammenfassen unterschiedlicher Erfahrungen mit scheinbar nebensächlichen Details und auch durch die literarische Form selbst, die Klage häufig relativiert wird.

Fast protokollhaft sachlich beschreibt der Erzähler die Begegnungen mit seinem todkranken Freund, ihre letzte gemeinsame Reise nach Ägypten und dessen Sterben.

Das Nachdenken über die zeitliche Begrenztheit der Freundschaft („ICH DANK DIR FÜR DIE ZYT.“ S.118), die eigene voranschreitende Lebenszeit, die sich nicht aufhalten lässt und an deren Ende unweigerlich der Tod als ein unumkehrbares Ereignis steht, lösen Fragen, auch nach dem „Danach“ aus, die nicht beantwortet werden können. („Wie also stirbt man?“ S.11, „Leben als Oase – der Tod als Wüste ringsum – Woher will ich das wissen? S.20)

Trotz der knappen, distanzierten Sprache teilen sich auch dem Leser die Unsicherheiten des Schreibenden mit.

Die Grundstimmung der Klage zeigt sich auch in der Erkenntnis, keine wirkliche Aufgabe mehr zu haben (vgl. S.134) und für die Entwicklung utopischer Ideen für eine bessere Welt nicht mehr in Frage zu kommen (vgl. S.143). Mit Resignation stellt er fest, dass er die Dinge, die er durch das Alter erfährt, offenbar verdrängt und er deshalb nichts mehr zu sagen hat. (vgl. S.35) „Ich bin alt, ich bin alt.“ (S.58)

Auch die Unzufriedenheit mit sich als Schriftsteller und mit seinem letzten Buch drückt sich sehr deutlich aus in dem Zitat: „Das vorletzte hätte verdient, das letzte zu sein.“ (S.58)

In einer Art wütender Selbstbefragung versucht er herauszufinden, warum ihn das Schreiben inzwischen langweilt und er mit dem Ergebnis seiner Bemühungen nicht zufrieden ist (vgl. S.16, S.29). „Es langweilt mich jeder Satz, den ich geschrieben habe, es hilft auch nicht, dass ich Wörter umtausche in meinem Turm, und das ist es, was ich tagelang mache; ich tausche Wörter gegen Wörter.“ (vgl. S.101)

Das Verhältnis zum dichterischen Fortleben in seinen Werken aber ist eher ambivalent. Einerseits glaubt er, dass heute Schriftsteller nur noch für Zeitgenossen schreiben (vgl. S.30), andererseits wurde für ihn in der Eidgenössischen Hochschule Zürich ein Archiv eingerichtet. „…eine Irritation ist schon da.“ (S.11)

Es gibt in den Tagebuchnotizen zahlreiche Beispiele für die Ambivalenz in seinen Aussagen über das Alter.

In lakonischem Ton vermerkt der Schreibende: „Ich werde ein Greis.“ (S. 85) In der nachfolgenden kleinen Textpassage listet er die negativen Dinge auf, die er an sich beobachtet: „…meine zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber Freunden, meine zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber öffentlichen Ereignissen,…“. Im letzten Teil des Satzes kommt dann die überraschende Wendung zum Positiven: „…meine zunehmende Freiheit.“

Ambivalent sind auch die Einträge zu den Kuraufenthalten am Bodensee zu bewerten (vgl. S.23, S.163). Die Leerstellen, die sich aus der knappen, fast kargen Sprache ergeben, lassen die Klage erahnen, aber auch den Willen, die eigene Zukunft neu zu gestalten.

Nachlassende sexuelle Potenz (vgl. S.36), Gymnastikübungen, die aus Mangel an Beweglichkeit nicht mehr gut ausgeführt werden können (vgl. S.69), der erst im zweiten Anlauf gelungene Segelversuch, all diese Klagen über Altersdefizite werden vom Erzähler mit einer selbstironischen Distanz beschrieben und enden manchmal mit einer spöttischen Bemerkung über doch noch Gelungenes („…und weil auch auf Impotenz kein Verlass ist!“ S.69).

Die andauernd heterogenen Aspekte seines Lebensgefühls macht er in einer kurzen Bemerkung deutlich: „Eine gelassene Panik als Grundzustand.“(S.148).

Zu einer wirklich positiven Haltung zum Alter und zum Altern, die man den Topoi des Alterslobs zuordnen könnte, findet der Ich-Erzähler in seinen Aufzeichnungen nur ansatzweise. Aber im Gegensatz zu den ständigen Wiederholungen, die er in seinem Leben bedauernd konstatiert (vgl. S.42), ist er jetzt auch zeitweise fähig, ruhige, erfüllte Gegenwärtigkeit zu genießen. „Ich kann vollkommen glücklich sein.“ (S.112)

Zu den Visionen von seinem „Lebensabendhaus“ gehören auch die Vorstellungen von seinem eigenen Leben dort. Es sind Inszenierungen eines gelungenen Lebensabends.

Er wohnt allein in dieser großen Villa, versorgt von einem alten Ehepaar, das im Gesindehaus nebenan lebt, und genießt sein Dasein in ruhiger Gelassenheit (vgl. S.145). Sogar wenn er keine Gäste hat, fühlt er sich nicht einsam (vgl. S.164), findet es aber immer schön, wenn Alice ein paar Tage zu Besuch kommt (vgl. S.147, S.172).

Er reist nicht mehr, er gibt auch keine Interviews mehr (vgl. S.145), selbst seinen Briefkasten leert er nicht mehr jeden Tag (vgl. S.174). Er fühlt sich frei von Verpflichtungen und Zwängen und nimmt sich sein Alter inzwischen nicht mehr übel (vgl. S.147).

In seiner Phantasie scheint er sein Alter schon angenommen zu haben.

Anmerkungen

  1. Max Frisch Entwürfe zu einem dritten Tagebuch, Suhrkamp Verlag Berlin 2010; Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.
  2. „Mittage am Bach, das Wasser ist kieselklar, aber kalt, die Felsen sind warm von der Sonne und die Luft riecht nach Wald, nach Pilzen, man hört nichts als das Wasser und es gibt nichts zu denken.“ (S. 103)
  3. Peter von Matt, Nachwort in Max Frisch Entwürfe zu einem dritten Tagebuch, Suhrkamp Verlag Berlin 2010, S. 185-203, S.191